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Was wir scheinen

Publiziert am 3. Juni 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Was wir scheinen» von Hildegard Keller.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Hannah Arendt muss ich Ihnen sicher nicht vorstellen: 1906 in Hannover geboren, 1975 in New York City gestorben, streitbare jüdische deutsch-amerikanische Publizistin und politische Theoretikerin. Sie hat sich ihr Leben lang intensiv mit totalitären Systemen auseinandergesetzt. Für den «New Yorker» berichtete sie 1961 über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem. Arendt prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der «Banalität des Bösen» und stiess damit auf teils erbitterten Widerstand. 

Hannah Arendt war eine unerbittliche Denkerin, auch wenn das bedeutete, «dahin zu denken, wo es wehtut», wie sie selber einmal sagte. Umso überraschender ist es, dass die Zürcher Autorin und Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller dieser messerscharf denkenden Frau einen höchst poetischen Roman widmet: «Was wir scheinen» erzählt von den letzten Sommerferien von Hannah Arendt im Tessin: 1975, kurz vor ihrem Tod, reist sie noch einmal nach Tegna, schreibt und dichtet und erinnert sich an ihr Leben. In Rückblenden erzählt Hildegard Keller diese Erinnerungen an Berlin, Paris und New York als inneren Dialog von Hannah Arendt, durchsetzt von Zitaten aus Briefen und von Gedichten. Das war für mich eine Überraschung: dass Hannah Arendt gedichtet hat. Ich glaube nach der Lektüre des Romans, dass Hannah Arendt nicht versteht, wer ihre Gedichte nicht kennt, wer sie nicht als Poetin begreift.

Tegna ist ein kleines Dorf im Tessin, etwas nördlich von Ascona, grad oberhalb der Einmündung der Melezza in die Maggia. Hier, im Hotel Barbatè, das es übrigens immer noch gibt, hat Hannah Arendt viele Sommerferien verbracht – die letzten, die siebten, 1975. Sechs Jahre später ist übrigens eine andere, berühmte Frau nach Tegna gezogen: Patricia Highsmith hat sich 1981 hierher zurückgezogen und bis zu ihrem Tod 1995 in Tegna gelebt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hildegard Keller beginnt ihren Roman mit der Schilderung der Zugfahrt von Hannah Arendt ins Tessin. Es regnet in Strömen, die Tropfen bilden Schlieren auf dem Fenster des Zug-Waggons. Hannah Arendt zündet sich eine Zigarette an und versucht, den Traum abzuschütteln. Wieder einmal, wie oft auf Reisen, hat sie von Glaskasten geträumt, von jenem Glaskasten, in dem Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht sass. Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, hatte die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Juden in Nazideutschland organisiert. Der israelische Geheimdienst hatte Eichmann 1960 in Argentinien aufgespürt und ihn entführt. 1961 wurde ihm in Jerusalem der Prozess gemacht. Hannah Arendt hatte darüber berichtet – und in jenem Sommer zum ersten Mal von Eichmann im Glaskasten geträumt.

Im Zug nach Locarno erinnert sich Arendt an Günther Anders, ihren ersten Mann, von dem sie sich auf der Flucht in Paris getrennt hatte. Und an Heinrich, Heinrich Blücher, ihren zweiten Mann, der im Oktober 1970 an einem Herzinfarkt gestorben ist. Inzwischen hat Hannah Arendt selber einen Herzinfarkt erlitten. Ihre Freundinnen waren besorgt und fanden, sie solle kürzertreten. Hannah Arendt schüttelt den Kopf und zündet sich noch eine Zigarette an. Ihr siebter Sommer im Tessin, ihr fünfter ohne Heinrich. Sie konnte sich so gut erholen in Tegna. 

Ganz selbstverständlich tauchen wir ein in die Gedankenwelt von Hannah Arendt, in ihren inneren Dialog mit sich selber, ihre Erinnerungen, lesen Satzfetzen aus ihrem Werk und, immer wieder, Gedichte. Sie hat die Gedichte in ihr «Denktagebuch» notiert. Die Sprache ist einfach, manchmal fast kitschig. Weltliteratur ist es wohl nicht, aber ein wunderbarer Zugang zu Hannah Arendt, die doch sonst so rational und hermetisch scheint.

Auf der Flucht aus Deutschland haben sie selbst, Heinrich und Benji sich immer wieder an Gedichten festgehalten wie an einem Floss. Zum Beispiel an der «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration» von Bert Brecht. Benji hatte das Gedicht von Brecht bekommen, sie kannten es alle auswendig. Benji, das ist Walter Benjamin. Er sollte sich später, auf der Flucht, in Frankreich das Leben nehmen.

Brechts Gedeicht erzählt die Geschichte vom Weisen, der das Land verlassen will, von einem Zöllner aber aufgehalten und gebeten wird, ihm sein Wissen dazulassen. 

«Typisch Brecht. Der Zöllner, so einfach er ist, hat gesunden Menschenverstand. Brecht erzählt seine Geschichte auf die für sie schönste Art, mit Reim und Rhythmus. So prägen es Dichter ins Gedächtnis der Menschheit ein. Wie glücklich hatten sie diese wunderbaren Verse auf der Flucht gemacht. Poetry is closest to thought. Dieser Satz war ihr damals, als sie ihn geschrieben hatte, gültig und zu Ende gedacht erschienen. Erst ein paar Jahre später, in Jerusalem, hatte sie dann erkannt, wie lebensnotwendig er ist. Ja, so ist es. Kein Ort der Welt hat ihr klarer vor Augen geführt, wie wahr dieser Satz ist.» (S. 25)

Poetry is closest to thought – Poesie ist dem Denken am nächsten. Deshalb muss, wer Hannah Arendts Denken begreifen will, sie poetisch ergreifen. Und genau das macht Hildegard Keller auf wunderbare Weise.

Sie erzählt die Stationen des Lebens von Hannah Arendt als Erinnerungen an ihr Leben und an ihre Freunde. Immer wieder an ihre Freunde.

«Wer flieht, nimmt keine Möbel mit, nur Freunde, bei denen man Schutz und Geborgenheit findet, als wären sie Tisch und Bett.» (S. 239)

Im Garten der Casa Barbatè erinnert sie sich beim Frühstück unter dem Baum, beobachtet von Rotkehlchen, an den schottischen Kardiologen Dr. Cox, der ihren Herzinfarkt festgestellt hat, an die Anfangszeit in New York, in der kleinen Wohnung mit Heinrich und Mutt, an die Vorlesungen in Berkley und, immer wieder, an Jerusalem und den Eichmann-Prozess.

Es ist kein erzähltes Wikipedia, alles andere als das. Es sind mäandernde Erinnerungen, voller kleiner Eindrücke und Erlebnisse und, immer wieder, Zeilen von Gedichten, fremden und eigenen. 

«Sie lehnte sich zurück und spürte die kurze Stille, die sich einstellt, bevor der nächste Atemzug die Brust wieder bewegt. Sarkasmus, dachte sie, ist im Grunde nichts anderes als ein weiter Bogen um das eigene Herz. Angesichts des Unfassbaren gibt es nur Umwege. Auch ein Gedicht könnte einer sein.» (S. 123)

Unfassbares hat Hannah Arendt viel gesehen in ihrem Leben. Vielleicht zu viel. Vor der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen der Nazis versagt die Sprache. Muss sie versagen. Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit empfand Hannah Arendt wohl den deutschen Beamten Adolf Eichmann als erschreckend banal. So kam es zu ihrer umstrittenen These von der Banalität des Bösen.

Das Unfassbare zeichnet sich genau dadurch aus: es ist unfassbar. Deshalb erweist sich die Sprache der Poesie ausgerechnet bei dieser rationalen Denkerin als präziser als jede Analyse. Es erinnert mich an eine Geschichte, die mir ein Onkel erzählt hat, der Kunstmaler ist. Er zeigte mir ein Bild, das er auf einer Reise in Griechenland gemalt hatte. Er war mit einem Freund unterwegs, der Fotograf war. Der habe es nicht geschafft, das Motiv abzubilden. Er war zu langsam. Er, der Maler, habe es geschafft.

So ist es vielleicht zu erklären, dass Journalisten an der Beschreibung der Realität manchmal scheitern, weil sie zu wenig präzise sind. Es braucht manchmal die Präzision der Poesie, um die Wirklichkeit adäquat abzubilden.

Genau das ist Hildegard Keller mit diesem Buch gelungen. Sie schreibt im Anhang, das Buch sei ein Roman, eine erfundene Welt, die von historischen Fakten inspiriert und durch Recherchen und historische Quellen gestützt sei. Ähnlichkeit mit lebenden Personen sei nicht nur beabsichtigt, sondern erwünscht, dennoch bleibe der Roman ein Werk der Fiktion.

Wie der Fotograf manchmal zu langsam ist und nur der Kunstmaler ein Bild erfassen kann, ist der Journalist manchmal nicht in der Lage, die Welt abzubilden. Die Dichterin schafft es, weil sie die Welt neu erschafft. Genau das ist Hildegard Keller in diesem Buch mit der Welt von Hannah Arendt gelungen. Es ist deshalb ein Buch, das mich noch eine Weile begleiten wird – ich freue mich darauf, es in meinen Sommerferien noch einmal zu lesen. 

Hildegard Keller: Was wir scheinen. Roman. 576 Seiten, Eichborn-Verlag, 34.90 Franken; ISBN 978-3-8479-0066-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783847900665

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 3. Juni 2021, Matthias Zehnder

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