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Unerbittliches Kreta

Publiziert am 3. August 2021 von Matthias Zehnder

ch gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Unerbittliches Kreta» von Nikola Vertidi.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Es ist Sommer – naja, wenigstens dem Kalender nach. Wir alle haben dringend Urlaub nötig, Reisen aber ist nach wie vor nicht ganz einfach. Ich entführe Sie deshalb diesen Sommer mit einer Reihe von Buchtipps an Sehnsuchtsorte: Machen Sie mit mir wenigstens im Kopf Ferien mit Krimis, die in besonders schönen Gegenden spielen. Heute geht die Reise auf die griechische Insel Kreta.

unter der schönen Oberfläche von Kreta verbirgt sich eine spannende Geschichte. © danmorgan12 – stock.adobe.com

Nach Kreta also. Wobei die Insel auf griechisch nicht Kreta heisst, sondern Kriti. Es ist die grösste aller griechischen Inseln: Kreta ist grösser als der Kanton Graubünden, etwa so gross, wie die Kantone Waadt und Wallis zusammengezählt. Nach Sizilien, Sardinien, Zypern und Korsika ist Kreta die fünftgrösste Insel im Mittelmeer.

Hier auf Kreta, in Irakleio, arbeitet Kommissar Hyeronimus Galavakis. Er fühlt sich als Kreter und redet auch so. Seine Grossmutter, seine Yaya, lebt immer noch in einem Haus am Meer in Agia Pelagia, einem kleinen Fischerdorf zwischen Irakleio und Rethymno. Doch aufgewachsen ist Galavakis in Deutschland: Seine Eltern hatten 1974 Kreta den Rücken gekehrt und waren nach Deutschland ausgewandert. Sein Vater hatte sich in einer Maschinenfabrik hochgearbeitet, seine Mutter war Professorin für griechische Geschichte an der Uni in Tübingen. Und das war sie bis heute: Obohl der Dekan sie schon mehr als einmal und am Schluss nicht mehr sehr dezent darauf hingewiesen hatte, dass Professuren endlich waren, hielt seine Mutter auch heute noch an ihrem Lehrstuhl fest, obwohl sie schon über siebzig war.

In der Brust von Hyeronimus Galavakis schlagen also zwei Herzen: ein deutsches und ein griechisches. Oder vielleicht ist es eher so, dass er ein Gehirn hat, das mit deutscher Gründlichkeit und Disziplin arbeitete, und ein kretisches Herz. Am wohlsten ist es ihm am oder noch besser im Meer. Hier kann er sich wirklich entspannen und erholen – und das braucht er auch immer wieder. Denn Galavakis leidet unter einer Zwangsstörung. Er braucht absolute Ordentlichkeit in seinem Büro und in seiner Wohnung. Es genügt, dass die Putzfrau einen Ordner verschiebt oder auch nur den Papierkorb und sein Herz beginnt zu rasen.

Und noch etwas ist seltsam an Kommissar Galavakis: Er arbeitet nie an einem 13. des Monats. Nie. Dabei ist er nicht abergläubisch. Er kann an einem 13. schlicht nicht arbeiten, weil er dann an einer heftigen Panikattacke leidet. Warum, weiss er selber nicht. Die Panikanfälle sind so heftig, dass er sie jeweils kaum überlebt. Nur die wenigsten Menschen in seinem Umfeld wissen davon. Zu ihnen gehört die leitende Pathologin im Kommissariat, Penelope Demostaki. Sie hilft ihm immer mal wieder mit Tipps, wenn er sich am 13. in seine Wohnung einschliesst und nichts anderes machen kann, als abwarten, bis der Tag vergeht.

Als die junge Bloggerin Eleni Pendulaki deshalb an einem 13. in einer Schlucht den Torso eines toten Menschen findet, wird nicht Galavakis alarmiert, sondern ein Kollege von ihm, der die junge Bloggerin nicht wirklich ernst nimmt. Aber Eleni hat recht: Das Loch im Schädel des Skeletts kann nur von einer Schusswaffe stammen. Und die Tatsache, dass dem Skelett Arme und Beine fehlen, dass sie sichtlich abgetrennt worden sind, spricht deutlich gegen einen Selbstmord. Also landet der Fall am 14. auf dem Pult von Hyeronimus Galavakis – und auf dem Seziertisch von Penelope Demostaki.

Kreta kennen die meisten von uns allenfalls als Reiseziel. Die Insel ist neben Rhodos und Kos wohl der Tourismusmagnet Griechenlands. Das Bild, das die meisten Menschen hierzulande von Kreta haben, ist entsprechend von Reisekatalogen geprägt. Nikola Vertidi geht in ihrem Kreta-Krimi unter die schöne Oberfläche von Kreta. Sie hat für ihren Kommissar Galavakis einen Fall kreiert, der tief in die Geschichte der Insel zurückreicht. 

Im Zweiten Weltkrieg war die Insel strategisch wichtig, weil sich von hier aus das östliche Mittelmeer beherrschen lässt. Die deutsche Wehrmacht hat deshalb im Mai 1941 in der Luftlandeschlacht um Kreta die Indel erobert und bis 1945 besetzt gehalten. Die Inselbevölkerung wehrte sich gegen die deutschen Besatzer. Die gingen hart gegen die Widerstandsbewegungen vor: Die Wehrmacht verübte in zahlreichen kretischen Orten Massaker und erschoss Geiseln. 

Die Auseinandersetzung zwischen Wiederstandskämpfern, also den kretischen Partisanen, und den Kollaborateuren, die die Kämpfer an die Deutschen verrieten, ist der historische Ausgangspunkt der Geschichte, die Nikola Vertidi erzählt. Darauf deuten verschiedene Rückblenden im Buch schon früh hin. Kommissar Galavakis findet das allerdings erst mit der Zeit heraus.

Bloggerin Eleni Pendulaki, die das Skelett in der Schlucht gefunden und die Polizei gerufen hat, meldet sich schon bald bei ihm. Sie will wissen, was mit «ihrer» Leiche passiert. Galavakis gefällt die selbstbewusste Art der jungen Frau. Aber einfach so über Ermittlungen plaudern, das kann er nicht. Also engagiert er Eleni kurzerhand als Praktikantin. Weil sie aus einem Bergdorf kommt und nicht jeden Tag drei Stunden mit dem Bus nach Irakleio fahren kann, darf Eleni so lange bei Penelope wohnen, der Pathologin. 

Die drei ergeben ein interessantes Team, gerade weil sie so unterschiedlich sind. Penelope modelliert mit Wachs über dem Totenschädel ein Gesicht. Das Foto verbreiten sie nicht nur über die Medien, sondern auch über Elenis Instagram-Account. Und siehe da: Per Internet kommen auch rasch erste Hinweise. 

Sie führen an ganz unterschiedliche Ecken der Insel. In die Anlage eines Luxus-Hotels, wo die Brüder Dalares, seit Jahren mit harter Hand wirtschaften. In die kretischen Berge, wo heute noch die Nachfahren der Partisanen leben. Und in die Wohnung eines ehemaligen Strafgefangenen, der mit Hilfe seines Enkels gerne wieder ins warme Gefängnis zurückkehren würde.

Nikola Vertidi schafft es dabei, die richtige Mischung zu treffen zwischen dem Erzählen des Plots und dem Erläutern von Kreta. Denn zwischen all den Spuren, die das ungleiche Trio verfolgt, erfährt man als Leser viel über die griechische Insel und ihre Geschichte, über die Menschen und natürlich darüber, was sie essen. Beides macht Appetit auf die Insel und auf weitere Geschichten rund um den spleenigen Kommissar und seine Pathologin.

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492504874

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 3. August 2021, Matthias Zehnder

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