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Trophäe

Publiziert am 7. März 2024 von Matthias Zehnder

Die Woche empfehle ich Ihnen ein Buch, das mich bei der Lektüre erschreckt hat. Nicht nur, weil es von Grosswildjagd handelt. Das auch. Vor allem aber, weil es im Kern eine böse Geschichte sehr plausibel erzählt. Aber von Anfang an. Hunter White heisst nicht nur so, er ist es auch: ein weisser Jäger. Hunter ist Amerikaner und er ist reich. Er arbeitet als Banker und handelt mit Wertpapieren. Also mit Illusionen. Um sich lebendig zu fühlen, geht er auf die Jagd. Auf Grosswildjagd in Afrika. Diesmal soll es ein Spitzmaulnashorn sein. Hunter könnte damit die «Big Five» voll machen. Das sind die grossen fünf Tiere Afrikas: der Elefant, der Kaffernbüffel, Löwe, Leopard – und das Nashorn. Das fehlt ihm noch. Gemeinsam mit Jagdleiter Van Heeren verfolgt Hunter die Spur eines Nashorns, doch Wilderer kommen ihnen zuvor. Hunter ist wütend und enttäuscht. Da fragt ihn Van Heeren, ob er schon einmal von den «Big Six» gehört habe. Gaea Schoeters führt mit ihrem Buch schrittweise in die Abgründe der Seele von Hunter White – und damit des weissen Mannes, der es sich, historisch gesehen, gewohnt ist, die Menschen in Afrika genauso als Beute anzusehen wie Büffel und Nashorn. Ihr Roman beginnt mit Bildern, die von Hemingway stammen könnten – und endet in Abgründen, wie sie T. Coraghessan Boyle nicht besser heraufbeschwören könnte. In meinem 194. Buchtipp sage ich ihnen diese Woche, warum ich, bei aller Fürchterlichkeit des Themas, dieses Buch zur Lektüre empfehle.

Ernest Hemingway war ein leidenschaftlicher Jäger. 1934 war er im heutigen Tansania auf Grosswildjagd. In der Reportage «Die grünen Hügel Afrikas» hat er darüber berichtet. Basierend auf diesen Erlebnissen hat er zudem «Schnee auf dem Kilimandscharo» geschrieben, eine seiner bekanntesten Erzählungen. Hemingway hat sich oft und gern mit seiner Beute photographieren lassen. Es ging ihm nicht nur um den Thrill des Jagens, sondern auch um die Trophäe.

Hunter White im Roman von Gaea Schoeters ist vergleichbar mit Hemingway: Hunter ist Aktienhändler. Er handelt also mit Wertpapieren, das heisst: mit digitalen Einträgen in abstrakten Listen. In seinem Leben ist also kaum etwas real. Er braucht etwas Echtes. Er will sich seine Männlichkeit beweisen. Darin ist er Hemingway ähnlich.

Es ist deshalb sicher kein Zufall, dass Hunter White im Roman von Gaea Schoeters mit demselben Gewehr auf Grosswildjagd geht wie Hemingway: mit einer alten Doppelbüchse, Kaliber .577 Nitro Express. Es ist das so genannte «Afrika Kaliber». Am Zoll antwortet Hunter auf die Frage, warum er mit einem so schweren Kaliber jage, dass das Gewehr seinem Grossvater gehört habe, was stimmt, und dann sagt er noch etwas über Männlichkeit. Die Wahrheit ist: Hunter will seiner Beute Auge in Auge gegenübertreten. Dafür braucht er eine Waffe, die in der Lage ist, das Wild mit einem Schuss zu töten. Einen zweiten Schuss hat man im Angesicht eines Büffels oder eines Nashorns nicht.

Gaea Schoeters versteht es, plausibel zu machen, warum Hunter die Jagd liebt. Sie schildert die Natur, die Pirsch, die Tiere so, dass wir uns gut in Hunter hineinversetzen können. Mit der Zeit fühlen wir beim Lesen, was Hunter beim Jagen fühlt. Das Jagdfiber, die Spannung, das Adrenalin, die Befriedigung.

Sie müssen näher ran und mit dem Risiko leben, dass die Beute Reißaus nimmt. Oder — was wahrscheinlicher ist — zum Angriff übergeht, denn Nashörner flüchten nicht, sie kämpfen. Hunter spürt, wie kalter Schweiß an seinem Hals herabrinnt. Sein ganzer Körper ist in Alarmbereitschaft, alle Sinne sind bis zum Äußersten angespannt; all der Ballast der Zivilisation fällt von ihm ab. Das hier, das spürt er, bedeutet leben. Hier, die Gefahr zum Greifen nahe, kann er sein, wer er wirklich ist. Er, Hunter, Mann. (S. 26f.)

Und weiter:

Also legt er an, schaut, atmet ein. Im Bruchteil einer Sekunde spielt sich auf seiner Netzhaut im Zeitraffer der Film dessen ab, was folgen wird: Er wird abdrücken, die Kugel wird sich aus seinem Lauf winden, in Nullkommanichts die Distanz zwischen ihm und seiner Beute überbrücken und das Tier genau da treffen, wo es am verwundbarsten ist. Das Nashorn wird versuchen, sich vom Knall abzuwenden, aber es wird hoffnungslos zu spät sein — die Kugel ist immer schneller. Mitten in der Bewegung wird es zusammenbrechen und umfallen. Die Fährtenleser werden sich ihm vorsichtig nähern, und sobald sie sich vergewissert haben, dass es tot ist, wird van Heeren das Tier fotografieren, nicht als Trophäe, sondern als Beweismaterial, und dann werden sie die Behörden informieren. Danach müssen sie auf den Truck warten, der das Tier zum Atelier des Tierpräparators bringen wird, und der wird sich um seine Trophäe kümmern… (S. 31)

Das ist gut und präzise geschrieben. Es ist kaum zu glauben, dass das nicht aus der Feder eines Manns à la Hemingway stammt, sondern von Gaea Schoeters, einer Frau mit Jahrgang 1976, einer flämischen Autorin, Drehbuchautorin und Librettistin, Mitglied des niederländischen Autorinnenkollektivs Fixdit. Der Punkt dabei ist, dass Gaea Schoeters uns dazu verführt, mit dem Jäger mitzufühlen, um uns dann umso drastischer die Konsequenz des Jagens vor Augen zu führen. In «Trophäe» steckt mit anderen Worten sehr viel mehr T.C. Boyle als Hemingway.

Hunter siehst sich  nämlich bald nicht mehr nur einem grossen Tier gegenüber, sondern der ganzen Natur Afrikas. Wobei sich die einheimischen Fährtenleser selbst auch zur Natur zählen. Im Gegensatz zu Hunter: Als weisser Mann glaubt er, dass er über der Natur steht. Hier Hunter, da Beute. Doch so funktioniert das nicht. Hunter muss lernen, dass in Afrika auch Jäger zur Beute werden können. Das gilt nicht nur für die brutale Wendung, die die Geschichte nimmt: Hunters Jagdleiter bietet Hunter die «big Six» an. Das sechste grosse Tier Afrikas ist natürlich der Mensch. Indem Hunter sich auf diese Jagd einlässt, übersetzt er in die Tat, wie Weisse denken: Es ist noch nicht lange her, da haben die zoologischen Gärten bei uns afrikanische Menschen wie Tiere ausgestellt. Vor allem aber macht er sich selbst auch zum Gejagten. Das kann kein gutes Ende nehmen, ist aber, bei aller Fürchterlichkeit, ein packendes Leseerlebnis. Indem sie uns dazu bringt, den Jäger emotional zu verstehen, lockt uns Gaea Schoeters aufs Glatteis. Denn die Jagd nach Menschen ergibt sich logisch aus den Gefühlen, die Hunter beim Jagen des Nashorns hat. Das als Leser zu erleben (oder zu erlesen, wenn Sie wollen), ist ebenso faszinierend wie erschreckend.

Gaea Schoeters: Trophäe. Roman, Paul Zsolnay Verlag, 256 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-552-07388-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783552073883

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 7. März 2024, Matthias Zehnder

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