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Transatlantik

Publiziert am 9. Februar 2023 von Matthias Zehnder

Seine Romane bildeten die Vorlage für die Fernsehserie «Babylon Berlin» der ARD. Mit «Transatlantik» hat Volker Kutscher bereits die neunte Folge seiner Saga rund um Kriminalkommissar Gereon Rath herausgegeben. Die Bücher sind die Vorlage der Fernsehserie «Babylon Berlin». Das neue Buch spielt im Jahr 1937, die Stimmung in Berlin hat sich merklich verändert. Die goldenen Zwanzigerjahre sind vorbei, die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen. Mittlerweile durchdringen sie auch immer mehr die Gesellschaft – und die Kriminalpolizei. Zum Glück ist Gereon Rath tot. Erschossen. Wenigstens offiziell. In Wirklichkeit ist er in Wiesbaden untergetaucht. Für seine Frau Charlotte ist das aber fast einerlei: Sie muss die Witwe nicht nur spielen, es fühlt sich für sie auch so an. Gereon ist weg. Und als er von einem SA-Mann erkannt wird, flieht er auch noch über den Atlantik. In meinem 140. Buchtipp sage ich Ihnen, warum es sich auch dann lohnt, dieses Buch zu lesen, wenn sie bisher noch keine Folge der Gereon-Rath-Serie gelesen haben.

Seit 1929 ist Gereon Rath Kriminalkommissar bei der Berliner Mordkommission. In den acht bisherigen Bänden der Krimiserie von Volker Kutscher hat der gebürtige Kölner im Polizeipräsidium am Berliner Alexanderplatz gearbeitet. Zu Beginn hat Rath mit Berlin gefremdelt. Die grosse, hektische Stadt war ihm kalt und fremd. Wie hektisch das Berlin der Zwanzigerjahre war, das zeigt die Verfilmung der Bücher durch die ARD in der Fernsehserie «Babylon Berlin».

Mit der Zeit hat sich Gereon Rath an Berlin gewöhnt. Doch Berlin hat sich in den letzten Jahren stark verändert: Das neue Buch spielt im Jahr 1937. Seit vier Jahren sind nun die Nationalsozialisten an der Macht in Deutschland. Mehr und mehr legen sie das bürgerliche Mäntelchen ab. Die Kampfflugzeuge der deutschen Legion Condor greifen in den spanischen Bürgerkrieg ein und zerbomben die baskische Stadt Guernica. In Deutschland fürchten immer mehr Menschen, dass der Krieg auf ganz Europa übergreifen wird.

Auch Gereon Rath wurde in den Strudel von Politik und Gewalt hineingezogen: Im Rahmen einer Ermittlung am Rande der olympischen Spiele ist er in den Fokus der SS geraten und wurde erschossen. Offiziell wenigstens. Rath hat den Schusswechsel genutzt, um abzutauchen: Er ist nach Wiesbaden geflüchtet und arbeitet jetzt da als Weinlieferant. Für seine Frau Charlotte ist der Unterschied zwischen tot und abgetaucht klein: So oder so muss Charly ohne ihren Gereon auskommen. Quasi an seiner Stelle ermittelt sie in Berlin. Es geht um den Mord an einem SS-Offizier. Und zwar nicht um irgendeinen SS-Mann, sondern um Klaus von Rekowski, der monatelang in einer On-Off-Beziehung mit Greta liiert war. Und bei Greta wohnt Charly, seit Gereon tot ist.

Klaus von Rekowski wurde ein seinem Auto tot aufgefunden. Monodioxidvergiftung. Das Chloroform auf dem Taschentuch im Wagen und die von aussen abgeschlossene Garagentür machen klar: Das war Mord. Natürlich kann Charly nur inoffiziell ermitteln. Sie arbeitet nicht mehr bei der Kriminalpolizei. Immerhin bietet ihr die Arbeit für das Detektivbüro Böhm eine gewisse Rechtfertigung, herumzuschnüffeln. Geführt wird das Büro von ihrem ehemaligen Vorgesetzten bei der Mordermittlung, von Wilhelm Böhm. Statt einer möglicherweise untreuen Ehegattin hinterherzuschnüffeln, versucht Charly herauszufinden, was mit SS-Mann von Rekowski passiert ist. Und mit Greta. Denn ihre Freundin ist seit der Nacht, in der von Rekowski ermordet worden ist, spurlos verschwunden. Mittlerweile interessiert sich auch die Kriminalpolizei für den Verbleib von Greta.

Der Roman ist zwar die neunte Folge einer langen Krimiserie. Man kann der Handlung aber auch git folgen, wenn man weder die vorangegangenen Bücher, noch die Fernsehserie kennt. Dies deshalb, weil das Buch von Volker Kutscher nicht nur auf den Plot fixiert ist, sondern auch der Zeitgeschichte viel Raum gibt. 1937 ist das in Deutschland vor allem die Nazifizierung der Gesellschaft. Volker Kutscher schildert eindrücklich, wie die Ideologie der Braunhemden langsam alles durchdringt und das gegenseitige Misstrauen in die Gesellschaft sickert. Kutscher macht das an kleinen, alltäglichen Details sichtbar. Etwa in der Beschreibung der Pension, in der Kommissar Andreas Lange übernachten muss, als er einen Verdächtigen in Stettin vernehmen soll:

«Die Pension Kröger war gar nicht mal so übel. Sauber und gepflegt. Das Einzige, was störte, war die übertriebene Zahl an nationalsozialistischen Devotionalien, mit denen alle Räume ausgestattet waren, selbst die Gästezimmer. Über seinem Bett hing ein – ziemlich kitschiges – Bild des Führers in Ritterrüstung, und in der Nachttischschublade fand sich anstelle einer Bibel lediglich ein Exemplar von Hitlers «Mein Kampf». Der Rest der Einrichtung wirkte eher wie von Spitzweg gemalt, kleinbürgerlich und biedermeierlich. Am Fenster hingen rot-weiss karierte Vorhänge.» (S. 268)

Man sieht das Zimmer in der kleinbürgerlichen Pension gleich vor sich. Auch in der Kriminalpolizei wird die politische Einstellung der Beamten immer wichtiger. Wichtiger als die Fachkenntnis. Das bekommt Kommissar Lange beim Abendessen zu spüren.

«Erich Kröger zeigte auf die Kostbarkeiten auf den Tellern. ‹Das haben wir alles dem Führer zu verdanken›, sagte er, und es klang, als habe nicht seine Frau, sondern Adolf Hitler den ganzen Tag in der Küche gestanden. ‹So gut ging es Deutschland schon lange nicht mehr, nicht wahr Herr Kommissar?›
Lange hatte den Mund voll und musste zum Glück nicht antworten, aber er deutete ein Nicken an, und selbst dafür schämte er sich.
‹Welchen Dienstrang haben Sie denn, Herr Kommissar?›, fragte Kröger. ‹Hat mir mein Bruder nicht erzählt.›
Lange stutzte. ‹Kriminalkommissar›, sagte er.
‹Das weiss ich doch. Ich meinte in der Schutzstaffel.›
‹Ich bin nicht in der SS.›
‹Oh. Entschuldigung.›
Kröger klang so, als sei er peinlich berührt: als sei es ein Makel für einen Polizeibeamten, nicht in der SS zu sein.
‹Und ihr Bruder?›, fragte Lange. ‹Darf ich fragen, welchen Dienstrang der bekleidet?›
‹Reinmar ist Oberscharführer›, sagte Erich Kröger mit einigem Stolz in der Stimme.Lange nickte anerkennend, enthielt sich aber ansonsten eines Kommentars. Der Kollege Kröger war also SS-Oberscharführer. Gut zu wissen, obwohl Lange sich so etwas eigentlich hätte denken können. Immer mehr Kriminalbeamte legten grösseren Wert auf ihren Rang in der SS als auf ihren Dienstgrad bei der Kripo. Und damit lagen sie wohl richtig. Gerade erst hatte Polizeichef Heinrich Himmler verkündet, dass der Nachwuchs für die höhere Polizeilaufbahn künftig nur noch aus den Führerschulen der SS kommen werde. Und Andreas Lange hatte es nun endlich amtlich, warum ihm die erwarteten Beförderungen zuletzt versagt blieben.» (S. 272f.)

Wie eine Ideologie eine Gesellschaft durchdringen, ja übernehmen kann, das schildert Volker Kutscher an solchen Details sehr eindrücklich. Und noch ein spannendes, zeitgeschichtliches Element taucht im Krimi auf: Heroin. Wir kennen den Stoff heute als schreckliche Droge, die sich Süchtige spritzen. Der Stoff ist von einem Pharmazeuten bei der Firma Bayer entwickelt worden. 1898 hat sich Bayer dafür den Markennamen «Heroin» schützen lassen. Einige Ärzte erkannten schon bald, dass Heroin rasch süchtig machen kann. Dennoch vermarktete Bayer den Stoff bis Ende der 20er-Jahre. Erst 1931 stellte Bayer die Produktion von Heroin ein.

Nach seiner Überfahrt in die USA, per Zeppelin übrigens, kommt Gereon Rath mit dem mittlerweile illegalen Heroin-Handel in Berührung. Er trifft in New York einige Schurken wieder, die er schon aus Berlin kennt. Die Schurken sind in Aufruhr, weil Heroin in höchster Qualität in der Stadt aufgetaucht ist, einer Qualität, wie man sie bisher nur von Bayer kannte.

Kurz: Der neunte Rath-Roman bietet nicht nur Spannung, sondern auch viel spannende Zeitgeschichte und lässt uns als Leser tief in die Zeit, die Gesellschaft und die Kultur von 1937 eintauchen.

Volker Kutscher: Transatlantik. Der neunte Rath-Roman. Piper, 592 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-492-07177-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492071772

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Basel, 9. Februar 2022, Matthias Zehnder

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