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Tödlicher Schlaf
Carl-Jakob Melcher ist Wissenschaftler. Genauer: Bakteriologe. 1907 gehört er in Hamburg damit zur Speerspitze jener Wissenschaft, die noch nicht lange zuvor von Männern wie Robert Koch gegründet worden ist. Als Melcher ins Hafenkrankenhaus gerufen wird, weil da ein junger, an Schlafkrankheit leidender Soldat liegt, erlebt er eine Überraschung: Er kennt den Soldaten, der kurz zuvor aus Daressalam in Deutsch-Ostafrika eingetroffen ist: Melcher ist mit ihm zur Schule gegangen. Ludolf Harberg, der Patient, hat da als Marine-Stabsarzt gearbeitet. Jetzt ist er todkrank und will Carl-Jakob Melcher ein gefährliches Geheimnis über die Machenschaften der Deutschen in ihren Kolonien anvertrauen. Oder halluziniert er nur im Fieberwahn? Melcher zweifelt, doch wenig später ist sein Freund tot. War die Schlafkrankheit stärker, als es der Bakteriologe dachte, oder wurde der kranke Stabsarzt zum Schweigen gebracht? In meinem 147. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was die Schlafkrankheit und Hamburg miteinander zu tun haben und warum dabei auch Frauenrechte eine grosse Rolle spielen. Lassen Sie sich überraschen.
Die afrikanische Schlafkrankheit ist eine Infektionskrankheit, die durch einen Parasiten verursacht und von der Tsetsefliege auf den Menschen übertragen wird. Betroffen sind Menschen, die in den Feuchtgebieten und Savannen von Ost- und Südafrika leben. Seit kurzem lässt sich die Krankheit relativ einfach mit einem Medikament behandeln, das als Tablette eingenommen werden kann. 1907 war davon noch keine Rede: Die Diagnose Schlafkrankheit war ein Todesurteil. Selbst Robert Koch interessierte sich für die Krankheit. Der berühmte Arzt und Mikrobiologe hatte 1882 den Erreger der Tuberkulose und ein Jahr später den kommaförmigen Cholera-Erreger entdeckt. 1905 erhielt er den Nobelpreis für Medizin. Später unternahm er mehrere Expeditionen nach Afrika, unter anderem zur Erforschung der Schlafkrankheit.
Carl-Jakob Melcher, die Hauptfigur im neuen Roman von Christoph Elbern, ist Bakteriologe und damit quasi ein Jünger von Robert Koch. Er arbeitet am Hamburger Tropeninstitut und wird als Wissenschaftler von den Krankenhäusern beigezogen, wenn ein Patient unter einer Tropenkrankheit leidet. Nicht, um dem Patienten zu helfen, sondern um die Krankheit besser zu verstehen.
«Für das Wohlergehen und die Genesung waren die Ärzte zuständig. Nicht selten kämpften sie zwischen Leben und Tod. Wir Bakteriologen standen mit der wissenschaftlichen Betrachtung daneben, protokollierten Symptome, Verläufe, untersuchten Stuhl, Blut und Lungenschleim. Uns ging es nicht so sehr um den einen, der da im Bett lag und womöglich starb, sondern um Tausende, die überleben konnten, wenn wir klüger wurden.» (S. 45)
Kaum jemand weiss besser als Melcher, dass die Diagnose Schlafkrankheit ein Todesurteil ist. Umso betroffener ist er, als sich herausstellt, dass er einen Jugendfreund zu besuchen hat: Ludolf Harberg ist, wie Melcher, Jahrgang 1877, also dreissig Jahre alt. Er hat als Marine-Stabsarzt in Deutsch-Ostafrika gedient und ist soeben mit dem Postschiff aus Daressalam eingetroffen, damals der Verwaltungssitz von Deutsch-Ostafrika, heute Regierungssitz von Tansania. Melcher tritt also ans Krankenbett des fiebernden Jugendfreundes und nimmt ihm Blut ab. Er gibt sich dem Patienten als Carl-Jakob zu erkennen, als Jugendfreund «Zee-Jott».
Der fiebernde Patient zieht den Bakteriologen näher zu sich heran und flüstert mit fauligem Atem, dass die Deutschen Soldaten die Eingeborenen aushungern, massakrieren, ihre Felder niederbrennen, ihre Vorräte vernichten. «Es ist Unrecht», sagt der Stabsarzt. Wenn ein Offizier der kaiserlichen Marine so etwas sagt, dann ist das Hochverrat im Kaiserreich. Melcher ist irritiert, horcht aber auf, als der kranke Stabsarzt erzählt, dass er am Victoriasee mit Forschern zusammengearbeitet habe
«‹Ihr habt die Schlafkrankheit erforscht, sagst du?› Ich war wie elektrisiert. Da war der Kamerad den Tropenkrankheiten nähergekommen, als es mir vielleicht je vergönnt sein würde. Ich musste aufpassen, dass ich nun nicht zu forsch auf ihn einredete. Er brauchte Ruhe. ‹Hast du Robert Koch getroffen? War er dort?›, fragte ich dennoch.
‹Robert Koch, am Arsch, Zee-Jott, glaub mir.›
Mir war bekannt, dass Geheimrat Dr. Koch vor drei Jahren die Leitung des von ihm gegründeten Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten in Berlin abgegeben hatte und seitdem immer wieder in Afrika und anderswo unterwegs war, der Cholera, der Malaria und der Schlafkrankheit auf den Fersen. Aber hatte Ludolf Koch tatsächlich getroffen?
‹Was meinst du damit, Robert Koch am Arsch?› Koch war der Säulenheilige meiner Profession, unser aller Vorbild. Ein Nobelpreisträger.
Ludolf schüttelte nur den Kopf. Er war kaum noch zu verstehen, so leise sprach er.
‹Kann ich jetzt nicht sagen. Ist gefährlich. Ich muss erst das Journal wiederhaben.›
Sein Kopf war zu Seite gekippt. Ich fasste ihn vielleicht etwas zu grob am Kinn und drehte seinen Kopf in meine Richtung. Er versuchte, mich durch zitternde Lider anzusehen.
‹Was für ein Journal, Ludolf? Was meinst du?›
‹Jetzt nicht. Zu gefährlich›, sagte er nur.» (S. 51f.)
Wenig später ist Ludolf Harberg tot. Und das, obwohl die Schlafkrankheit erst im zweiten von vier Stadien fortgeschritten ist. Melcher wird misstrauisch. Hat er im Blut seines Jugendfreundes etwas übersehen oder hat der ehemalige Stabsarzt tatsächlich etwas über die Kolonien gewusst, was ihm gefährlich wurde? Der Bakteriologe beginnt zu ermitteln. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte rund um die Erforschung der Schlafkrankheit, die Ausbeutung der Deutschen Kolonien in Afrika, die Rolle der Hamburger Pfeffersäcke, also der reichen Händler, und die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Neben der Lage in den Kolonien spielen vor allem die Frauen und ihre Rechte im Buch eine wichtige Rolle. Denn zum einen ist unser Bakteriologe mit einer Ärztin verlobt und dass Frauen Medizin studieren und dann auch noch auf dem Beruf arbeiten, ist 1907 auch in der Grossstadt Hamburg sehr aussergewöhnlich. Vor allem aber dreht sich ein Teil der Geschichte um arbeitende Frauen am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala: um die Rechte der Miedje. Das sind junge Frauen, die bei der Kaffeeröstung jene Bohnen aussortieren, die zu lange fermentiert sind und den Geschmack verderben könnten. Die Bohnen werden auf grossen Tischen ausgeschüttet, und die Miedjes picken mit ihren Fingern die schlechten Bohnen raus. Es sind Mädchen aus einfachen Verhältnissen, die angewiesen sind auf ihre Arbeit. Nicht selten werden sie von Vorarbeitern begrapscht oder gar vergewaltigt. Wehren können sie sich nicht: Sie habe keine Rechte – und wer glaubt schon einem Mädchen, wenn sein Wort gegen das eines Arbeiters steht.
Das ist nicht etwa bloss eine Standesfrage, es ist vor allem eine Frage der Frauenrechte. Denn auch unter besser gestellten Frauen sind Vergewaltigungen nicht selten. Die beschuldigten Männer streiten die Tat einfach ab. Entweder sagen sie, dass sie gar keinen Verkehr mit der Frau gehabt haben, oder sie behaupten, dass die Frau einverstanden gewesen sei und die Vergewaltigung nur erfunden habe, um sich vor dem Zorn der Eltern oder des Ehemannes zu schützen. Die Zahl der Vergewaltigungen, die nicht angezeigt werden, ist hoch. Da ist keine Schicht ausgenommen. Ob auf den Lagerböden der Hamburger Kaffeebarone oder in den Salons und Kutschen der gehobenen Familien – überall wird Frauen Gewalt angetan, und niemand spricht darüber.
Kurz: In Christoph Elberns Kriminalroman geht es nicht einfach um einen Mord, es geht um das Leben in Hamburg um 1907: um Krankheiten und ihre Erforschung, um die Deutschen Kolonien in Afrika, die Rolle der Hamburger Kaufleute bei der Ausbeutung der Deutschen Kolonien, um das langsame Aufbegehren der Frauen in der Gesellschaft. Es ist nicht nur eine spannende Geschichte, sondern auch ein spannendes Stück Geschichte.
Christoph Elbern: Tödlicher Schlaf. Hamburg 1907: Carl-Jakob Melcher ermittelt. Verlag Rütten & Loening, 360 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-352-00973-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783352009730
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Basel, 29. März 2022, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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