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Tod im Cabaret Voltaire

Publiziert am 9. März 2023 von Matthias Zehnder

«jolifanto bambla ô falli bambla / grossiga m’pfa habla horem». So beginnt «Karawane», ein Lautgedicht von Hugo Ball, das er zum ersten Mal 1916 im Cabaret Voltaire im Zürcher Niederdorf vortrug und zwar im Kartonkostüm. Das war absurd und subversiv und so war es auch gemeint: Ein Protest gegen den Krieg, die Ungerechtigkeit und die bürgerlich-verkrustete Gesellschaft. Im Krimi von Miriam  Veya wohnt Josephine Wyss 1919 einer Aufführung der «Karawane» im Cabaret Voltaire bei. Sie hat sich mit einer Freundin in den Dada-Saal gewagt, weil Edda sie engagiert hat, eine der Schauspielerinnen. Deren Freundin Odile, auch eine Dada-Darstellerin, ist verschwunden. Josephine Wyss will eigentlich nichts von dem Auftrag wissen. Doch dann stirbt Edda. Sie wird auf der Bühne von einem Kulissenteil erschlagen. Und Josephine wird in eine Geschichte hineingezogen, die immer absurdere Züge annimmt. In meinem 144. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was die Geschichte rund um Josephine Wyss mit Dada und mit Hugo Ball zu tun hat und warum es sich lohnt, den Krimi zu lesen.

1916 herrschte in Europa jener Krieg, der später in den Geschichtsbüchern als der Erste Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Tausende von jungen Männern starben in den schlammigen Schützengräben von Verdun. Die Schweiz war neutral und wurde zum Zufluchtsort von vielen Künstlern und Intellektuellen. Unter ihnen befanden sich Hugo Ball und seine Frau Emmy Hennings. Zusammen mit anderen geflüchteten Künstlern begründeten sie in Zürich im Cabaret Voltaire den Dadaismus.

Dada ist absurd, wild und anarchisch. Die Künstler richten sich gegen alle Normen, gegen den Nationalismus, gegen die verkrustete, bürgerliche Gesellschaft und gegen deren vorherrschende Vorstellung von Kunst. Weil sich Dada gegen jede Ordnung wendet, hat Dada selbst keine Ordnung und keine Definition. Dada ist eine Art Antikunst.

Im Krimi von Miriam Veya liegt die Gründung von Dada schon drei Jahre zurück: Die Geschichte spielt 1919 in Zürich, also kurz nach dem Krieg. Die Menschen haben sich noch nicht von der Katastrophe erholt. Viele Familien sind verarmt. Einzig die bürgerliche Gesellschaft und ihre Regeln stehen fest und starr, als wäre nichts gewesen. Das erfährt Josephine Wyss, die Hauptfigur im Buch, gleich zu Beginn der Geschichte. Ihr Mann Alfred hat eine «Auskunftsstelle für vermisste Personen, Flüchtlinge und Kriegsgefangene» geführt. Der ehemalige Polizeibeamte hat sich als Privatdetektiv auf die Suche nach vermissten Personen spezialisiert. Doch Fred ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Geschichte setzt mit seiner Beerdigung ein.

1919 hatte eine Frau ohne Mann kaum Rechte. Die Familie erwartet von Josephine, dass sie ihre Wohnung aufgibt und wieder zu ihren Eltern zurückkehrt. Vielleicht lässt sich ja noch einmal ein Mann finden, der sie heiratet. Josephine hat Fred bei der Arbeit geholfen. Sie wäre in der Lage, das Büro weiterzuführen. Doch 1919 kommt das auf gar keinen Fall in Frage. Schon gar nicht für eine Frau, die wie Josephine, aus so genannt gutem Hause stammt.

Als kurz nach der Beerdigung von Fred eine Frau an die Bürotüre klopft, reagiert Josephine deshalb ablehnend. Sie kann und will Edda nicht helfen, auch wenn die junge Schauspielerin herzzerreissend von ihrer Freundin Odile erzählt, die spurlos verschwunden ist. Und doch lässt Josephine die Geschichte nicht los. Also überredet sie ihre Freundin Klara, mit ihr eine Vorstellung des Cabaret Voltaire zu besuchen. Das tönt nach Paris und grosser Welt, war aber ein kleiner Saal im Niederdorf von Zürich. Laut, vollgepackt und rauchgeschwängert. Josephine und Klara ergattern sich Plätze ganz vorne bei der Bühne. Doch da tut sich lange nichts.

«Endlich regte sich etwas hinter der Bühne. Mit reglosen Gesichtern trugen zwei Männer einen dritten Mann auf die Bühne. Dieser war in ein Kostüm aus Karton gekleidet, das es ihm unmöglich machte, sich allein fortzubewegen. Seine Arme und Beine steckten in Kartonröhren, ein Kleid mit einem Umhang darüber umhüllte seinen Körper und auf dem Kopf trug er eine weitere Kartonröhre als Hut. Das Auffälligste waren aber seine riesigen Papierhände, die über seine eigenen Hände gestülpt waren und aussahen wie Federn. Die Verkleidung erinnerte Josephine an Bilder von indianischen Schamanen.
Eine Frau in einem hautengen schwarzen Anzug stellte ein Schild an den Rand der Bühne. Darauf stand Hommage an Hugo Ball.
Der Mann im Kartonkostüm stand nun zwischen den beiden Notenständern und begann mit lauter Stimme zu rezitieren. Josephine verstand kein Wort. Was war das für eine Sprache? Es musste etwas Afrikanisches sein. Aber war es überhaupt eine Sprache?» (S. 52)

Nein, war es nicht. «Karawane» von Hugo Ball ist ein Lautgedicht. Die Wörter haben keinen Sinn, nur einen Klang. «jolifanto bambla ô falli bambla / grossiga m’pfa habla horem» Das ist absurd, lehnt sich auf gegen Logik und die starren Formen der Zeit. Josephine ist verwirrt.

Doch sie selbst macht im Verlauf der Geschichte genau das: Sie lehnt sich auf gegen die starren Formen der Zeit, gegen Logik und Verstand, indem sie zu ermitteln beginnt. Im Fall der verschwundenen Odile. Aber auch den plötzlichen Tod von Edda will sie nicht einfach hinnehmen. Josephine gerät dabei zwischen alle Fronten: Sie gerät mitten in eine Auseinandersetzung zwischen der Stadtpolizei und der Kantonspolizei: Die Polizisten sind sich nicht einig, wer für Ermittlungen auf Stadtgebiet zuständig ist. Ihre Eltern wollen sie dazu zwingen, ihre Wohnung und das Büro aufzugeben und wieder ins Elternhaus zurückzukehren. Und dann wird Josephine plötzlich selbst an Leib und Leben bedroht. Gegen Ende wird das Buch zum wahren «Page Turner».

Erst auf den zweiten Blick merkt man als Leser, dass es nicht nur um eine Leiche geht, sondern auch um die Rechte und die Stellung der Frau 1919. Um verkrustete Strukturen und die Macht in der Gesellschaft. Also um genau das, wogegen sich Hugo Ball, Emmy Henning und ihr Dadaismus gerichtet hat. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Tod ausgerechnet im Cabaret Voltaire eintritt. Es ist zu hoffen, dass Josephine Wyss sich ein Herz fasst und gegen alle Regeln der Zeit das Büro ihres verstorbenen Mannes beibehält und weiter ermittelt.

Miriam Veya: Tod im Cabaret Voltaire. Josephine Wyss ermittelt. Zytglogge, 344 Seiten, 29 Franken; ISBN 978-3-7296-5122-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729651227

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 9. März 2022, Matthias Zehnder

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