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Tiefes, dunkles Blau

Publiziert am 4. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Wir kennen die lyrischen Schilderungen von Städten aus Krimis, die in Venedig, in Triest oder in Basel spielen. Bei der Lektüre der Bücher verliebt man sich richtig in die Städte und würde sie am liebsten gleich besuchen. Verantwortlich dafür sind Donna Leon, Veit Heinichen und Hansjörg Schneider und ihre jeweiligen Kommissare. Alles Männer übrigens. Seraina Kobler setzt den Männerkommissaren jetzt eine weibliche Ermittlerin entgegen. Sie heisst Rosa Zambrano und ermittelt in Zürich. Und das gibt Seraina Kobler die Möglichkeit, die Stadt an der Limmat so verführerisch zu schildern, wie Donna Leon Venedig oder Veit Heinichen Triest. Besonders schön an der Geschichte: Rosa Zambrano ist nicht einfach eine weitere Kommissarin, sie arbeitet bei der Seepolizei. Wir erleben Zürich also quasi vom See aus. Wer der Tote ist im Zürich-Krimi und warum da mehr als nur eine starke Frau die Hand im Spiel hat, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem 102. Buchtipp. 

 

Kommissare sind ja nicht mehr nur ältere, dickliche Männer mit Pfeifen im Mund. Manchmal sind sie auch jünger und athletisch und kochen dennoch gerne. Im Krimi von Seraina Kobler ist das anders: Ihre Hauptfigur ist nicht ein ältlicher Kommissar, sondern eine junge Frau. Und die arbeitet nicht bei der Kriminalpolizei, sondern bei der Seepolizei. Sie sitzt also nicht im Streifenwagen, sondern im Boot und arbeitet gerne im Wasser. Bloss eins ist ähnlich wie bei Martin Walker oder Veit Heinichen: Auch Rosa Zambrano kocht und isst gerne. Mich nimmt ja nur wunder, wie all die schlemmenden Polizisten es schaffen, dabei ihre Figur zu halten. 

Anyway: Rosa Zambrano hat ein Geheimnis. Sie lässt sich in einer Fruchtbarkeitsklinik behandeln. Sie möchte ein Kind, befindet sich aber zur Zeit nicht in einer Beziehung. Aber sie ist bald 38 Jahre alt. Also «verschafft sie sich Zeit», wie der Arzt in der Klinik es ausdrückt, und lässt sich Eizellen entnehmen. Die Zellen werden zur späteren Verwendung schockgefroren. Der Arzt in der Fruchtbarkeitsklinik ist einer dieser Menschen, die keine Probleme zu haben scheinen. Die Haare ein Tick zu lang, trendige Segeltuchschuhe an den Füssen, trotz gründlicher Rasur drückt schon am späten Vormittag der Bartschatten durch. Kurz: Er ist unverschämt attraktiv. Ganz ohne Probleme scheint aber auch dieser Halbgott in Weiss nicht zu sein: Der Arzt wird wenig später von einem Fischer tot aus dem Zürichsee geborgen. Seine Leiche hat sich in einem Fischernetz verfangen. 

Es beginnt eine spannende Ermittlung, zu der Rosa Zambrano von der Kriminalpolizei beigezogen wird, weil der Tote quasi in ihrem Revier aufgetaucht ist. Thematisch dreht sich die Story um die Fruchtbarkeitsklinik und ihre Praktiken, um die Entnahme von Eizellen und die Forschung an Embryonen, um die Frage, wie frei Wissenschaft sein darf und inwiefern sie sich an Regeln und Gesetze halten muss. Um die menschlichen Gene, die bestimmen, ob jemand von Geburt an krank ist und die Frage, ob Wissenschaftler in diese Gene eingreifen dürfen, um diese Krankheiten zu vermeiden. Diese ernsthafte Ebene des Romans ist aber gut verpackt in eine wunderbar stimmungsvolle Oberfläche, in der Rosa Zambrano und die Stadt Zürich die Hauptrolle spielen. Das rote Polybähnli zum Beispiel, das das Central mit der ETH verbindet. Die Schwäne auf der Limmat und die Schiffe auf dem See. Die Streetparade, die die ganze Stadt zum Tanzen bringt. Rosas Garten, der hinter einem Haus in der Altstadt liegt. Und immer wieder der See. Rosa liebt das Wasser und Seraina Kobler versteht es, diese Liebe präzise zu schildern.

«Schon nach ein paar Schwimmzüge verschmolz Rosas Körper mit dem Wasser, das in Ufernähe klar und durchsichtig war. Der See hatte nicht die eine Farbe, er hat viele Farben. Es gab das aufgewühlte Flaschengrün nach langanhaltenden Sommerregenfällen. Es gab das hellschäumende Schieferblau bei Platzregen im Frühling. Und ein stumpfes Schiefergrau an Hochnebeltagen im November. Es gab das Azurblau unter einem strahlendblauen Herbsthimmel, wenn auch rundherum alle Farben satter und voller waren als sonst. Und es gab noch viele, viele mehr. Unter anderem diesen Schimmer von Türkisblau, wenn sich die Algen im Sommer in die tieferen Schichten zurückzogen. Rosa konnte wogende Fischschwärme vor dem mit Sandwellen bedeckten Grund erkennen, vielleicht Rotfedern oder auch Egli. Die gleichmässigen, sich wiederholenden Bewegungen ihres vom Wasser getragenen Körpers verlangsamten den Gedankenstrom in ihrem Kopf. Ein Zustand, wie sie ihn auch beim Kochen erlebte oder auf Spaziergängen und Wanderungen, wenn sich die Gedanken wie von allein zu ordnen begannen.» (S. 32)

Es sind solche Passagen, die den Roman von Seraina Kobler höchst lesenswert machen. Klar, ist die Krimihandlung auch spannend und die angesprochenen Themen sind bedenkenswert. Es sind aber die präzisen Beschreibungen der Stadt, die in die Krimihandlung eingestreut sind, die den Roman kostbar machen. Das und die liebenswerten Personen rund um Rosa Zambrano. 

Sie selbst sagt, die Stadt habe ihre eigenen Gezeiten. Wer in Zürich lebt, beginnt sich irgendwann nach ihnen zu richten. Während sich die einen mitten hineinstürzen in die shoppenden Menschenmengen auf der Bahnhofstrasse, in den Trubel spätnachts im ehemaligen Rotlichtquartier rund um die Langstrasse, weichen die anderen aus und kommen erst, wenn die Menschen gegangen sind. Rosa gehört zur zweiten Gruppe.

So entdecken wir mit Rosa die stillen Seiten von Zürich. Die Limmat, den Brunnen auf dem Zähringerplatz, der sich ebensogut zum Kühlen der Füsse wie von ein, zwei Flaschen Weisswein eignet. Die kleine Bäckerei, die echte pastéis de Belem herstellt und immer wieder die Limmat und der See. 

«Es heisst immer, Glück sei flüchtig. Doch auf dem Gemüsemarkt am Bürkliplatz hatte es Bestand. Während am nahem Seeufer die Schwäne in den raunenden Wellen trieben, die langen Hälse noch in die Gefieder gestreckt, richteten sich rund um den Musikpavillon in der Mitte des Platzes, früher eleganter Treffpunkt der Bourgeoisie, wie jeden Freitagmorgen die Marktfahrer ein. Jeder Handgriff sass, alle wussten, was sie zu tun hatten. Lichterketten erhellten die Szenerie. Rosa verfiel jedes Mal kurz in einen traumartigen Zustand ob der feilgebotenen Fülle, die nie süsser war als jetzt im September zur Zeit der reifen Früchte.» (S. 258)

Solche Sätze machen die Lektüre des Romans zum Genuss und die Stadt Zürich selbst für einen Basler begehrenswert.

Seraina Kobler: Tiefes, dunkles Blau. Ein Zürich-Krimi. Diogenes, 272 Seiten, 21 Franken; ISBN 978-3-257-30091-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257300918

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Basel, 4. Mai 2022, Matthias Zehnder

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