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Thomas Mann macht Ferien

Publiziert am 22. April 2025 von Matthias Zehnder

Sommer 1918. Thomas Mann weilt mit der ganzen Familie in der Sommerfrische in Bayern: Am Tegernsee haben die Manns die Villa Defregger gemietet. Die Sonne scheint, der See lockt zum Schwimmen – es könnten unbeschwerte Tage sein. Doch es herrscht Krieg und das Schicksal wendet sich gerade gegen die Deutschen. Am 18. Juli 1918 beginnen die Alliierten mit ihrer Gegenoffensive im Westen, am 8. August kommt es bei Amiens zum Grossangriff mit 450 britischen Panzern. Die deutsche Verteidigung bricht zusammen. Am 14. August 1918 stuft die Oberste Heeresleitung des Deutschen Reiches die militärische Lage als aussichtslos ein. Davon weiss Thomas Mann am Tegernsee natürlich nichts. Aber er merkt, dass sich das Blatt wendet. Dumm nur, dass er in seinem Ferienhaus an den letzten Korrekturen seines neuen Buchs arbeitet: In den «Betrachtungen eines Unpolitischen» verteidigt er die germanische Kultur erbittert gegen das Feindbild dieser modernen, demokratischen Zivilisation. Er träumt als Künstler von der Tradition des 19. Jahrhunderts, die ihn geprägt hat, von «Romantik, Nationalismus, Bürgerlichkeit, Musik, Pessimismus, Humor», von einer alten Welt, in der er seine Ruhe hatte und seinen Platz kannte. «Ich will nicht Politik», schreibt er: «Ich will Sachlichkeit, Ordnung, Anstand.» Thomas Mann flüchtet sich deshalb in lange Spaziergänge mit seinem Hund und schreibt darüber die wunderbar leichtfüssige Erzählung «Herr und Hund». Daneben geniesst er die Familie  und vor allem die jüngste Tochter Elisabeth, die noch keine drei Monate alt ist. Kerstin Holzer erzählt von diesem sonnenflirrenden Sommer zwischen Weltkrieg und Familie am Tegernsee. In meinem 252. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, wie uns Thomas Mann dabei richtig sympathisch wird und warum es sich lohnt, mit ihm in die Sommerfrische abzutauchen.

 

Es ist schlechtes Timing. Sehr schlechtes sogar: Der Hurrapatriotismus von 1914 ist längst Verzweiflung und einer bleiernen Schwere gewichen, da arbeitet Thomas Mann an den letzten Korrekturen seines neusten Buchs. Es soll im Oktober erscheinen, nach den Sommerferien also. «Betrachtungen eines Unpolitischen», das ist eine 600 Seiten starke reaktionäre Kriegsschrift. Thomas Mann fürchtet, dass das Buch von der Geschichte sofort zur Seite gefegt wird. Dabei hat er es eigentlich nur als Reaktion auf seinen Bruder Heinrich und dessen politisches Engagement geschrieben. Thomas Mann verteidigt die Kunst als überpolitische Sphäre und grenzt sich von «Zivilisationsliteraten» ab. Gerade in seiner Absicht, sich vom Politischen abzugrenzen, offenbart er aber sein politisches Denken. Es ist ein Zwischenschritt auf seinem Weg zum Demokraten – eine Phase, die er, als das Buch erscheint, wohl schon überwunden hat. Thomas Mann ist deshalb froh, dass er sich mit Ehefrau Katia, fünf Kindern und dem Hund in die Sommerfrische zurückziehen kann.

Von Mitte Juli bis Mitte September hat die Familie Mann für zwei lange Ferienmonate die «Villa Defregger» direkt am Ufer des Tegernsees gemietet. Bis vor einem Jahr besass die Familie ein eigenes Landhaus in der Nähe, in Bad Tölz. 1917 hat Thomas Mann das Haus aber verkauft und den Erlös in Kriegsanleihen gesteckt. Dieses Geld ist jetzt natürlich futsch. Umso mehr geniessen die Manns die Zeit im gemieteten Idyll. Die Ferienvilla steht auf einer kleinen Anhöhe. Davor eine saftig grüne Wiese mit Löwenzahn und Gänseblümchen, Fliederbüschen, Apfelbäumen und einem kleinen Wald. Im Süden sind die Alpen zu sehen und unten am Hang wartet der Tegernsee. Zum Anwesen gehören ein kleiner Badestrand, ein Steg und ein Ruderboot. Die Kinder sind selig.

Fünf Kinder haben die Manns zu diesem Zeitpunkt: Die beiden ältesten Erika und Klaus sind jetzt 13 und 12 Jahre alt, Golo und Monika sind 9 und 8 Jahre alt und Nesthäkchen Elisabeth ist seit drei Monaten auf der Welt. 1919 sollte mit Michael dass sechste Kind zur Welt kommen – Katia ist im Sommer 1918 bereits wieder schwanger, weiss es aber noch nicht. Wie in jeder anderen Familie auch ist immer eines der Kinder krank. Diesmal ist es die achtjährige Monika. Weil sie unter der «Spanischen Krankheit» leidet, also vermutlich unter einer Sommergrippe, wird die Familie noch etwas in München festgehalten und reist mit vier Tagen Verspätung an den Tegernsee.

Die ländliche Ferienresidenz ist nicht nur schön gelegen, sondern auch geschmackvoll möbliert. Sogar Thomas Manns Schwiergermutter, die gestrenge Hedwig Pringsheim, hat sich wohlwollend geäussert. Thomas hat ein eigenes Schlaf-und Arbeitszimmer, dessen Tür sich gegen Kinderlärm und andere Störungen schliessen lässt. Das ist wichtig, denn der «Schwieger-Tommy», wie Mama Pringsheim Thomas heimlich nennt, ist ruhebedürftig, delikat und überhaupt «ein rechter Pimperling». Vielleicht ist das der Grund für seine martialische Streitschrift. Thomas Mann muss keinen Kriegsdienst leisten, er ist medizinisch ausgemustert. Das kompensiert er durch tapferen «Gedankendienst». Diszipliniert setzt er sich jeden Tag an den Schreibtisch, gekleidet in eine graue, militärisch anmutende Jacke, und will beweisen, dass er ein richtiger Mann sei – was in seinem Fall ja durchaus doppeldeutig ist. Die pazifistisch gesinnte Schwiegermama findet den Krieg dagegen scheusslich.

Gründe dafür gibt es genug. Im Sommer 1918 leidet die deutsche Bevölkerung unter Hunger und Mangelernährung. Die Blockadepolitik der Entente reduziert den Speiseplan auf Kriegsbrot und Steckrüben. Vitaminmangel und Unterernährung sind weit verbreitet. Die Landwirtschaft produziert nicht mehr genug Lebensmittel für die Bevölkerung. Schuld ist der Arbeitskräftemangel: Die meisten Männer sind eingezogen worden. Das merkt mittlerweile auch Thomas Mann:

Die katastrophale Ernährungslage beschäftigt nun sogar den Familienvater, der mit den praktischen Dingen des Lebens sonst wenig zu tun hat. Die Not ist gross im Hungerjahr 1918. Dünn sind sie geworden, die Manns, die Erwachsenen wie die Kinder. Klaus’ und Golos Beine ragen aus ihren zu klein gewordenen Lederhosen wie dürre Stecken. Mit ihren Schwestern klauben sie bei Regenwetter dicke Schnecken von der Wiese, um die karge Verpflegung aufzubessern. Die Weichtiere schmecken zwar nicht besonders, doch der Hunger ist grösser als der Widerwille. Thomas Mann wird dieser Fleischersatz allerdings nicht vorgesetzt. Er erhält immer das Beste, was seine patente Frau an Essbarem auftreiben kann, bei Bettelgängen zu den umliegenden Bauernhöfen, den mageren, barfüssigen Nachwuchs mit den hungrigen Augen im Schlepptau. Oft hilft auch eine diskret zugesteckte Goldmünze.

Die kriegsbedingten Verpflegungsschwierigkeiten auf dem Land sind enorm. Die Tegernseer «Seegeist»-Zeitung meldet eine Abgabepflicht für Beeren, deren vitaminreicher Saft Lazarettkranken vorbehalten ist, und empfiehlt Rezepte für Brennnesseln (die jungen, hellgrünen Blätter sind essbar, aus den gröberen wird Nesselstoff gewoben). Fleisch lässt sich auf offiziellem Wege kaum ergattern. Selbst primitiver Weißkohl ist für Familie Mann, die sich auch Schwarzmarktpreise leisten kann, so unverschämt teuer geworden, dass der Vater brieflich darüber schimpft. (Seite 21f.)

Dazu kommt: Thomas Mann hat Zahnschmerzen. Der linke Schneidezahn tut weh. Im August wird Thomas Mann von seiner «quälenden Zahn-Misere» sprechen. Täglich wird er in den Hauptort Tegernsee zum Zahnarzt fahren müssen – per Ruderboot. Dabei weiss der grosse Autor, dass es schlimm enden kann mit einem Zahn. 1901 hat er in seinem Roman «Buddenbrooks» den ehrenwerten Kaufmann Thomas Buddenbrook nach der Operation eines entzündeten Zahnes zusammenbrechen und sterben lassen. Nur gut, weiss Thomas Mann nicht, dass ihn die «Zahn-Misere» noch monatelang quälen wird.

Trotz alledem sind die Sommerferien am Tegernsee für die Familie eine Flucht ins Idyll – und für Thomas Mann durchaus auch eine Flucht vor seiner Arbeit. Nach der mühsamen Plackerei mit den «Betrachtungen» hat er zwar Ideen, aber es fehlt ihm die Kraft dafür, den nächsten grossen Roman anzupacken. Es soll «Der Zauberberg» werden, seine grosse Auseinandersetzung mit der Dekadenz und den ideologischen Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg, mit Humanismus und Autoritarismus. Nein, dafür hat er die Kraft noch nicht. Stattdessen schreibt er «Herr und Hund», eine Erzählung über seinen Hund Bauschan.

Bauschan – so benannt nach dem Hofhund im niederdeutschen Roman «Stromtid» von Fritz Reuter –wird der wohl wichtigste Hund im Leben von Thomas Mann. Er begleitet ihn in einer zentralen Zeit des persönlichen und politischen Umbruchs, und er ist der einzige, dem Mann ein literarisches Denkmal errichtet. Anders aber als von dessen anderen vierbeinigen Begleitern, etwa dem Schäferhund Lux oder dem schwarzen Pudelrüden Nico, findet sich in den Archiven kein einziges Foto von Bauschan. Mehrere Illustratoren, darunter Emil Preetorius mit seinen humorvollen Scherenschnitten für die Originalausgabe von «Herr und Hund», haben immerhin ungefähre Vorstellungen hinterlassen. (Seite 32f.)

Mindestens zweimal, manchmal dreimal am Tag haben Thomas Mann und Bauschan eine feste Verabredung zum Spaziergang. Vor allem die Gänge in der Früh, gleich nach dem Aufstehen, sind dem Schriftsteller «heilig». Gerade erst hat er im Manuskript von «Herr und Hund» niedergeschrieben, warum: «Es ist gut, so am Morgen zu gehen, die Sinne verjüngt, die Seele gereinigt von dem Heilbade und langen Lethetrunke der Nacht. Mit kräftigem Vertrauen blickst du dem bevorstehenden Tage entgegen, aber du zögerst wohlig, ihn zu beginnen, Herr einer außerordentlichen, unbeanspruchten und unbeschwerten Zeitspanne zwischen Traum und Tag.» So ein Morgenspaziergang durch grüne Stille – das bedeutet Auszeit. Und beileibe keine unproduktive! Gerade beim Gehen, findet er, laufen sich die Gedanken warm und finden neue Zusammenhänge. Die setzt er dann um, wenn er sich vormittags an den Schreibtisch setzt, für drei oder vier Stunden. Das Schönste am Spaziergang mit Hund in der Morgenfrische ist doch die «Illusion eines stetigen, einfachen, unzerstreuten und beschaulich in sich gekehrten Lebens, die Illusion, ganz dir selbst zu gehören», schreibt Mann weiter. (Seite 36)

Die Szenen von Mann und Hund, die Kerstin Holzer beschreibt, lassen ein ganz anderes Bild von Thomas Mann entstehen, als das des steifen, bürgerlichen Erfolgsautors. Er tritt uns als humorvoller Eigenbrötler entgegen, der um seine eigene Schwächen weiss. Er freut sich über das Tier, das unverstellt gefühlvoll ist und mit bittenden Augen nach Befehlen zu fragen scheint. Die mag Thomas Mann ihm allerdings nicht geben. Befehlen ist dem Schriftsteller zuwider. Kerstin Holzer schreibt sogar, Thomas Mann habe keine Ahnung von Pädagogik. Jede Art von Führung sei ihm fremd: Er ist ein zutiefst antiautoritärer Künstler, kein Erzieher. Das gilt für den Hund, wahrscheinlich fürs Personal, auf jeden Fall auch für die eigenen Kinder.

Die geniessen die Freiheit am See in vollen Zügen. Meist tragen sie nur Badeanzug und tummeln sich im Garten und am See. Kerstin Holzer schreibt, den Eltern Mann sei zwar wichtig, dass ihre Kinder mit Messerbänkchen hantieren und tadellose Manieren vorweisen können, aber ansonsten lassen sie die Kinder in Frieden. Die Eltern haben zu tun: Der Vater schreibt, denkt oder ruht; die Mutter managt ihn, den Haushalt und ihr neues Baby. Die Kinder sind eine eingeschworene Clique mit einer Geheimsprache, die andere nicht verstehen. Im Schriftstellerhaushalt schwankt die Realität, das Künstlerische und das Wirkliche vermischen sich. Die blühende Wiese wird zum Deck eines Ozeandampfers, der Wald zum Dschungel.

Geschichten spielen eine grosse Rolle. Grossmutter Pringsheim liest den Kindern Charles Dickens vor. In ihrer Jugend wollte Hedwig Schauspielerin werden. Beim Vorlesen schlüpft sie in die einzelnen Rollen und macht es richtig spannend. Aber auch Vater Thomas liest vor, sogar aus dem, woran er gerade arbeitet:

In diesem Sommer liest er aus dem halb fertigen Manuskript von «Herr und Hund»: «Ich sehe wohl durch die Glastür meines Zimmers, wie er sich auf der kleinen Gartenwiese vorm Haus auf onkelhafte, ungeschickt possenhafte Art an den Spielen der Kinder beteiligt.» Die Kinder staunen: Dies ist eine wahre Geschichte, und die Hauptfiguren, die kennen sie ja! Das ist ihr Bauschan, um den es geht, sie selbst kommen vor und ihr Vater auch!
Am meisten staunt Klaus. Man kann also tatsächlich als ernst zu nehmender Schriftsteller – über sich selbst schreiben. Das ist ja interessant. Das eröffnet ganz neue Perspektiven.
Dann steht der Mond über der Kuppe des Wallbergs, Bauschan rollt sich auf der Veranda auf einer Decke zusammen, die Luft ist lau, und im Bootshaus schaukelt ein fest vertauter Kahn. Zu Bett gehen große und kleine Künstler in der Villa Defregger. (Seite 60f.)

Trotz allem sind die letzten Wochen und Monate des Ersten Weltkrieges für Thomas Mann belastend und quälend. Er liegt nächtelang wach oder träumt vom entfremdeten Bruder Heinrich, seinem ewigen Rivalen. Heinrich Manns Roman «Der Untertan», eine Satire auf die Autoritätshörigkeit im Wilhelminischen Kaiserreich, wird nach dem Krieg zum Bestseller. In diesen Stunden tröstet sich Thomas Mann mit der Liebe zu seinem «Kindchen», der kleinen Elisabeth.

Aus seiner Ferienresidenz in Abwinkl schreibt er in diesem Sommer an die Schriftstellerin Ida Boy-Ed: «Ich habe für keins der früheren Kinder so empfunden, wie für dieses. Das geht Hand in Hand mit zunehmender Freude an der Natur.»
Und er fragt die Brieffreundin, aber wohl eher sich selbst: «Wird man allgemein gemütvoller mit den Jahren? Oder ist es die Härte der Zeit, die mich stimmt, zur Liebe disponiert?» Es ist natürlich beides zusammen. Je lauter die Welt in Stücke fällt, desto tröstlicher das emotionale Kontrastprogramm dieser Wochen: das Kind, die Natur, der Hund. Als wie heilsam empfindet er jetzt die Zeit mit dem Baby, in dessen Gegenwart verlässlich die Sonne aufgeht. (Seite 130)

Genau das macht dieses Buch so lesenswert: Je lauter die Welt in Stücke fällt, desto tröstlicher das emotionale Kontrastprogramm – in unserem Fall die Schilderung der Sommerfrische von Thomas Mann mit einem klitzekleinen Hauch von Bullerbü. Und als er gegen Ende seiner Ferien etwas wirklich Verrücktes tut – er klettert mit Wanderstock und Rucksack zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Berggipfel – sind wir richtig stolz auf Thomas Mann und wissen: Nach dieser schweisstreibenden, neuen Erfahrung ist er reif für den Zauberberg. Seinen Zauberberg.

Kerstin Holzer: Thomas Mann macht Ferien. Ein Sommer am See. Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-462-00671-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462006711

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 22.04.2025, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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