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Systemfehler

Publiziert am 7. September 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Systemfehler» von Wolf Harlander.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

 

Was, wenn Hacker in Europa das Internet zum Einstürzen bringen würden? Wäre das überhaupt möglich? Und was würde dann passieren? Diese Fragen spielt Wolf Harlander in seinem neuen Buch durch. Das Resultat ist ein packender Thriller über – man ist fast versucht, zu sagen: den Untergang des Abendlandes. Denn so fühlt es sich tatsächlich an: Ohne Internet geht nichts mehr. Der Aktienhandel kommt zum Erliegen. Es gibt kein Geld mehr am Automaten. Im Supermarkt sind die Regale leer, weil der Computer sie nicht mehr automatisch auffüllen kann. Das Handynetz: tot. Das Festnetztelefon: funktioniert nicht mehr. Fernsehen: Fehlanzeige. Verkehrsleitsysteme: versagen. Kurz: Das Leben kommt zum totalen Stillstand. Und die Menschen ticken dabei total aus.

Hätte ich dieses Buch vor zwei Jahren gelesen, hätte ich wohl gesagt, dass Wolf Harlander stark übertrieben habe. Es kann doch nicht sein, dass eine Gesellschaft so rasch auseinanderfällt, wie er das in seiner Geschichte beschreibt. Kaum leeren sich die Supermärkte, kommt es fast schon zu Volksaufständen. Die Bauern verlangen Wucherpreise für ein Kilo Rüben oder Kartoffeln. Und die Menschen prügeln sich darum.

Heute, nach eineinhalb Jahren Corona, muss man leider sagen: Es ist nicht übertrieben. Die Zivilisation ist offenbar nur eine dünne Schicht. Wenn diese Schicht Risse erleidet, kommt darunter ein wildes Tier hervor, das durchaus in der Lage ist, sich im Supermarkt um Klopapier zu prügeln. Wir haben es erlebt.

In Wolf Harlanders Geschichte ist es auch ein Virus, das die Zivilisation bachab schickt – allerdings kein biologisches, sondern ein Computervirus. Hacker schaffen es, an zentralen Stellen im Internet ein bösartiges Virus einzuschleusen, das alle vernetzten Systeme befallen kann. Und vernetzt ist heute so gut wie alles. Von den Überwachungsgeräten auf der Intensivstation bis zum Computerspiel, vom Geldautomaten bis zum Flughafen. Wenn das Netz ausfällt, geht nichts mehr in unserer Welt.

Das müssen die Protagonist:innen im Roman von Wolf Harlander auf die harte Tour am eigenen Leib erfahren. Daniel zum Beispiel. 

Daniel Faber ist Informatiker, Entwickler, um genau zu sein. Er arbeitet aber mittlerweile im Marketing von Furor Games, einer Online-Spiele-Schmiede. Das neuste Produkt der Firma heisst «Cyber Nation War». Daniel arbeitet am Werbeplan dafür. Als sich sein spielverrückter Sohn aber noch vor der Lancierung des Spiels die Zugangscodes klaut und, ohne es zu wissen ,auch noch mit Hackersoftware am Spiel herumdoktert, kommt Daniel in Teufels Küche. Er wird sogar verdächtigt, Urherber des Internet-Backouts zu sein. 

Seinen ersten Arbeitstag beim Bundesnachrichtendienst BND wird Nelson Carius nicht so schnell wieder vergessen: Er wird sofort tief hineingezogen in die Ermittlungen rund um das Internet-Blackout. Er ist der erste, der auf einen Virus tippt und entsprechende Ermittlungen anstellt – und lange Zeit der einzige, der an die Unschuld von Daniel Faber glaubt. Auch seine kratzbürstige Büropartnerin Diana glaubt ihm nicht.

In ihrer Not wenden sich die BND-Leute an Magnus Dekker, Spielentwickler, Betreiber einer Piraterie-Website, jetzt Security-Experte. In ihm ist unschwer der reale Kim Dotcom zu erkennen, der, wie der fiktive Magnus Dekker, in Australien verhaftet wurde. Magnus Dekker verspricht dem BND, Europa von der Internet-Virenplage zu befreien. Hoffnung macht sich breit – oder machen die Behörden da gerade den Bock zum Gärtner?

Die Schwester von Informatiker Faber arbeitet als Ärztin im Uniklinikum Hamburg. Claudia Weiss heisst die Ärztin. Die digitalen Einrichtungen des Spitals sind früh von den Internet-Ausfällen betroffen. Claudia muss hilflos zusehen, wie ihre Patienten auf der Intensivstation sterben, weil die Überwachungsgeräte aussteigen oder Fehlfunktionen zu Überdosierung von Medikamenten sorgen.

Renate Faber, die Mutter von Spiele-Entwickler Daniel, kommt in ihrem Alltag zwar ohne Computer und Handy aus. Auch sie ist aber von den Internetausfällen betroffen, als sie kein Geld mehr abheben kann und im Supermarkt die Waren ausgehen. Die Geschichten rund um Claudia und Renate zeigen eindrücklich, wie stark die vermeintlich unbeteiligte Allgemeinheit von einem Internet-Ausfall betroffen wäre.

Das Internet ist technisch extrem komplex. Damit ein Hackerangriff auf das Internet als Roman funktioniert, musste Harlander viel vereinfachen und personalisieren. So erhält man den Eindruck, BND-Mann Nelson Carius kämpfe im Alleingang gegen die Cyberterroristen, Dr. Claudia Weiss sei die einzige Ärztin, die betroffen ist und Informatiker Faber der einzige Programmierer, der noch den Durchblick hat. Wörtlich genommen ist das nicht glaubwürdig. Wenn man die Personen aber als Stellvertreter liest für ganze Berufszweige, Branchen oder Ämter, dann funktioniert die Geschichte. Und geht unter die Haut, weil sie glaubwürdig vor Augen führt, wie stark wir heute von funktionierender Datenkommunikation abhängig sind und wie gefährdet die digitalen Infrastrukturen sind. Denn vermutlich sind ja auch die Hacker stark vereinfacht in der Geschichte. In der Realität sind es sicher mehr – und vermutlich sind sie eher gefährlicher. Kurz: Ein spannendes Buch, das zu denken gibt.

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499006616

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 7. September 2021, Matthias Zehnder

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