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Sturz in die Sonne
«Présence de la mort» heisst ein Roman, den der Schweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz 1922 veröffentlicht hat – also ziemlich genau vor hundert Jahren. Jetzt ist der Roman zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden: «Sturz in die Sonne» lautet der Titel der Übersetzung von Steven Wyss. Der Roman beschreibt eine apokalyptische Hitzewelle: Die Erde ist aus ihrer Umlaufbahn geraten und nähert sich unaufhaltsam der Sonne. Unser Planet wird in absehbarer Zeit verglühen. In einer raschen Folge kurzer Szenen schildert Charles Ferdinand Ramuz, wie das Leben der Menschen am Genfersee allmählich aus den Fugen gerät. Eine Reihe von Rezensenten hat den Roman deshalb als Climate Fiction gelesen: als frühes Beispiel eines literarischen Genres, das uns derzeit mit einer ganzen Flut von Hitzethrillern beglückt. Ich finde, das greift viel zu kurz. In meinem 156. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, den Roman von Ramuz zu lesen, obwohl das Buch vor über hundert Jahren geschrieben worden ist.
Im Juli 1921 wurde die Westschweiz von einer Hitzewelle heimgesucht. In Genf wurden 38 Grad Celsius gemessen – sehr heiss für die Zeit von vor hundert Jahren. Diese Hitzewelle inspirierte Charles Ferdinand Ramuz zu einem ganz besonderen Roman. «Présence de la mort» heisst die Erzählung. Titel und Aufmachung der neu erschienenen deutschen Übersetzung setzen einen anderen Akzent: Mit dem Titel «Sturz in die Sonne» und der feurig roten Gestaltung des Buchs knüpft der Limmat-Verlag an die Klima-Romane der Gegenwart an. Zum Beispiel an «Blue Skies», den neuen Roman von T.C. Boyle, den ich letzte Woche empfohlen habe.
Auf den ersten Blick scheint es wirklich, als hätte C. F. Ramuz hundert Jahre vor der Klimakrise den ersten Klimaroman geschrieben. Das vordergründige Thema des Romans ist eine Hitzewelle, die in der Heimat von Ramuz wütet. Der Genfersee, die Weinberge des Lavaux, Lausanne, die Waadtländer Landschaften, die Wiesen und Matten, Savoyen, sie alle werden von einem Hitzekollaps heimgesucht. Ramuz beschreibt eine Apokalypse in der Idylle. Der Auslöser der Hitzewelle bleibt einigermassen mysteriös. Ramuz lässt den Roman mit der «grossen Botschaft» beginnen, den «grossen Worten», die «von einem Kontinent zum anderen über den Ozean gesandt» wurden:
«Durch einen Unfall im Gravitationssystem stürzt die Erde schnell in die Sonne zurück, strebt ihr entgegen, um darin zu zerschmelzen: So lautet die Botschaft. Alles Leben wird enden. Es wird immer heisser werden. Die Hitze wird unerträglich sein für alles Lebende. Es wird immer heisser werden, und schnell wird alles sterben. Und trotzdem, noch sieht man nichts.
Noch hört man nichts: Sogar die Botschaft selber ist verstummt. Was zu sagen war, ist gesagt; Stille.
Es ist Morgen geworden auf dem Meer, wo das Schiff dem Horizont entgegenfährt, wo es die grosse Steigung aus den vielen kleinen, unterschiedlichen Steigungen nimmt, eine nach der anderen wie die Ameise ihre Erdfurchen.» (S. 6)
Die Erde also ist buchstäblich aus ihrer Bahn geraten und im Begriff, in die Sonne zu stürzen. Die Gründe dafür spielen keine grosse Rolle. Wichtig ist: Das Ende naht. Im Zentrum des Romans von Ramuz stehen nicht die Katastrophe und ihre Ursache, sonder die Menschen und ihre Reaktionen auf das unausweichliche Ende der Erde. Das schildert Ramuz in kurzen Kapiteln. Und das, diese Reaktionen der Menschen, das ist wirklich aktuell. Genauso haben wir es während Corona erlebt. Genauso erleben wir es heute im Umgang mit der Klimakrise.
Die Regierung lässt Plakate aufhängen. Der Plakatkleber pappt sie einfach über bestehende Aushänge. «Da sind die Leute herbeigelaufen; sie haben zu lesen begonnen. Es ist eine Verlautbarung des Staatsrats. Die Regierung appelliert an die Vernunft der Bürger; aber es ist doch gerade das, was beruhigen soll, das einen aufschreckt. Da sind diese Bilder, die im eigenen Innern entstanden sind: Schon kann man nicht mehr verhindern, dass die Dinge draussen ihnen gleichen, da sie von ihnen beeinflusst werden. Eine Befürchtung kommt in einem auf; sie wird immer stärker. Schon trägt man den Kopf anders, hat eine andere Farbe im Gesicht». (S. 43)
Die einen fliehen, sie hauen ab, weil sie Angst haben. Die anderen bleiben, jetzt erst recht, weil sie hoffen, von der Flucht profitieren zu können. Die Kavallerie und die Maschinengewehrverbände werden eingezogen. Es sei gegen die Revolution, hört man. Gegen die Hitze nützen Gewehre nichts. Wenigstens sorgt das Militär für etwas Ablenkung. Man erzählt sich, dass Epidemien ausgebrochen seien. Dass die Spitäler überfüllt seien. Dass Menschen mitten auf der Strasse tot zusammenbrechen.
Der Erzähler berichtet nüchtern darüber, wie die Menschen sich im Angesicht der dräuenden Katastrophe verhalten. Er steht am Fenster, lauscht in den Garten, blickt über den See und berichtet. Natürlich merkt man in den Details, dass die Geschichte nicht in der Gegenwart spielt. Da ist von Ruderbooten und Dampfschiffen die Rede, die Bevölkerung wird mit Plakaten informiert, das Militär kommt hoch zu Ross. Aber gerade die zeitliche Distanz lenkt den Blick umso mehr auf die Menschen und ihre Reaktionen.
«Présence de la mort» hat Charles Ferdinand Ramuz seinen Roman betitelt, auf Deutsch also: «Gegenwart des Todes». Ich glaube, dieser Titel trifft den Kern des Buches besser als der Titel der Übersetzung. Im Zentrum des Romans steht nämlich nicht die Hitze oder eine Klimakatastrophe, wie wir das mit heutigen Augen im ersten Blick sehen. Im Zentrum des Romans steht das unausweichliche Verschwinden aller Dinge – uns selbst eingeschlossen. Ob Hitze, Klimakatastrophe, Corona oder etwas anderes: Die Frage ist, wie die Menschen mit dieser «Gegenwart des Todes» umgehen. Charles Ferdinand Ramuz zeigt, dass die Menschen dabei rasch das verlieren, von dem sie meinen, dass es sie ausmacht. Das tönt jetzt schwerer, als es sich liest. Das Buch besteht aus vielen einzelnen Szenen, kleinen Skizzen, die meisterhaft ein Kaleidoskop der Katastrophe zeichnen. Eine Katastrophe, die, auch wenn sie die ganze Welt betrifft, doch immer eine individuelle bleibt.
Charles Ferdinand Ramuz: Sturz in die Sonne. Übersetzt von Steven Wyss. Limmat-Verlag, 200 Seiten, 30 Franken; ISBN 978-3-03926-055-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039260553
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Basel, 1. Juni 2022, Matthias Zehnder
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