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Stummer Schrei
Kurz hinter Uppsala explodiert im BMW von Alf Stiernström, dem Chef von Schwedens führendem Stahlkonzern, eine Bombe. Der schwere Wagen kommt von der Strasse ab und reisst eine tiefe Schneise in ein gelb blühendes Rapsfeld. Wenig später fliegt Jesper Sahlgren, der Chef einer Werbeagentur, die für die Erdölindustrie arbeitet, im wörtlichen Sinn in die Luft: Eine Bombe sprengt ein riesiges Loch in die Fassade seiner Agentur und schleudert den Werber in den Vasapark. Zunächst bringt die Polizei die beiden Anschläge nicht in Verbindung. Bis Kriminalkommissarin Eva Nyman zwei Briefe erhält: Sie sind an sie persönlich adressiert – und sie künden, verschlüsselt in einer kompliziert-poetischen Sprache, einen nächsten Anschlag im Namen des Klimaschutzes an: «Nehmt euch in Acht, ihr Nachfahren des Homo sapiens … Die Sonnenstrahlen werden schon bald nicht mehr durch die Ruinen des Verfalls dringen und ihren Weg zu den Seelenlosen finden.» Das ist das spannungsgeladene Setting des neuen Romans von Arne Dahl. Der schwedische Autor ist bekannt für seine Thriller. Mit «Stummer Schrei» startet er eine neue Serie rund um Eva Nyman und ihr Nova-Team. Zu den Hauptverdächtigen gehört, ausgerechnet, der ehemalige Chef und Mentor von Eva Nyman. Er lebt als Prepper mitten im Wald. Und er ist eigentlich ganz sympathisch. In meinem 205. Buchtipp sage ich Ihnen, warum es so schwierig ist, sich dem Sog von Arne Dahl zu entziehen.
Nehmt euch in Acht, ihr Nachfahren des Homo sapiens. Es wird Zeit, dass sich der heilige Zorn über das verdorbene Land ergiesst, auf dem einst Menschen lebten. Die Sonnenstrahlen werden schon bald nicht mehr durch die Ruinen des Verfalls dringen und ihren Weg zu den Seelenlosen finden. Es hat begonnen. Die Uhr tickt nicht mehr von allein, sie muss mit Gewalt vorgestellt werden. Die Bremsklötze müssen beseitigt werden, damit wir überleben können. Diese Zeilen machen die Anschläge auf den Manager im BMW und den Werber im Büro zu Klimaterrorismus: In etwas schwülstigen Worten, die fast an einen biblischen Text erinnern, beschwört der Schreiber eine Apokalypse herauf, eine Art explosive Sintflut, die den Planeten mit «heiligem Zorn» von den Menschen befreien soll. Oder zumindest von den Klimasündern.
Eva Nyman machen diese Zeilen Angst. Nicht nur, weil sie in einem Brief stehen, der direkt an sie persönlich adressiert worden ist. Und auch nicht, weil der Brief gleich auch den nächsten Anschlag ankündigt. Nein: Was ihr wirklich Angst macht, das sind die Worte «Ruinen des Verfalls». Sie erinnern sie an ihren früheren Chef, Lukas Frisell. Bei ihm hat sie alles gelernt, was sie als Polizistin draufhat. Mit ihm hat sie Ermittlungserfolge gefeiert, bis, ja, bis seine Technikskepsis ihn zu Fall brachte. Frisell weigerte sich, GPS-Triangulation einzusetzen, um das Opfer einer Entführung aufzuspüren. Er wollte sich auf die gute, ehrliche Polizeiarbeit beschränken, wie er sagte. Hinter seinem Rücken setzte sein Team die neue Technik trotzdem ein und fand das Opfer – einige Stunden zu spät. Die Frau war bereits tot. Darauf quittierte Lukas Frisell den Dienst. Einige Jahre unterrichtete er Agrarwissenschaften. Er interessierte sich immer stärker für die Natur. Für das Leben in der Wildnis. Dann verschwand Frisell in die Welt «ausserhalb der Gesellschaft», irgendwo im Wald. Und jetzt hält Eva Nyman einen Brief in der Hand, der einen nächsten Anschlag ankündigt. Und im Brief erkennt sie die Worte ihres ehemaligen Chefs. Hat sich Lukas Frisell in einen Klimaterroristen verwandelt?
Eva Nyman arbeitet für die NOA, die Nationale Einsatzabteilung der Schwedischen Polizei, die zum Einsatz kommt, wenn es um den Nationalen Bombenschutz und die Bekämpfung der schweren organisierten Kriminalität geht. In der NOA hat Eva Nyman eine kleine, verschworene Gruppe um sich geschart, die sie NOVA nennt. Es ist eine kleine Abteilung von sehr unterschiedlichen Ermittlern. Der Untertitel des Buchs «Eva Nymans erster Fall» fokussiert zwar auf Eva Nyman, sie bleibt aber eher blass. Die Geschichte dreht sich viel mehr um die Mitglieder der Ermittlungsgruppe. Da ist zum Beispiel Annika Stolt, genannt «Ankan». Das ist das schwedische Wort für «Ente». Aber Ankan hat nichts mit einer Ente zu tun. Sie ist blond, durchtrainiert und, seit sie sich vom Tod ihres Ehepartners erholt hat, auch in Sachen Männern wieder auf dem Kriegspfad. Shabir Sarwani war mit einer der afghanischen Flüchtlingswellen als unbegleiteter, minderjähriger Asylsuchender ins Land gekommen. An der Polizeihochschule hat er alle Fächer mit Bestnoten abgeschlossen. Das hatte es, unabhängig von der Herkunft, bis dahin in Schweden nicht gegeben. Shabir Sarwani ist der Intellektuelle der Truppe. Sein Gegenstück ist der schwedische Polizist Anton Lindberg. Ein Hühne von einem Mann mit wallenden, hellbraunen Haaren, der sich immerzu Sorgen macht. Die eigentliche Hauptfigur der Geschichte ist aber das vierte Mitglied der Gruppe, Sonja Ryd. Sie hat kurzgeschorene, blonde Haare, verbringt jeden Tag zwei Stunden im Fitnessraum – und sie hat ein Alkoholproblem. Sie wird zum persönlichen Gegenspieler von Lukas Frisell.
Im Schwedischen Original heisst der Titel des Romans «I cirkelns mitt» – Im Mittelpunkt des Kreises. Das trifft den Kern der Geschichte besser als «Stummer Schrei». Zwei konzentrische Kreise sind ein Symbol, das Lukas Frisell im Rahmen einer Vorlesung zum Überleben im Wald an die Tafel malt. Sie stehen für die Welt ausserhalb der Gesellschaft, die so viel grösser ist als die Welt innerhalb der Gesellschaft. In Schweden ist das in der Natur erlebbar: Die Wälder sind grösser und wilder als die Wälder in der Schweiz. Da hat die Natur ein eigenes Leben. Das merken die Polizisten am eigenen Leib, als sie Lukas Frisell im Wald suchen. Die Frage ist dabei bloss: Suchen sie den Richtigen?
Aber es gibt nicht den Hauch eines konkreten Anhaltspunktes oder gar Beweises gegen ihn. Der Verdacht beruht einzig und allein auf Eva Nymans Vermutung. Der Zweifel nagt an ihr, dass sie sich das alles nur einbildet. Schliesslich fusst ihr Verdacht auf fünfzehn Jahre alten Ereignissen. Will sich ihr Unterbewusstsein vielleicht an Frisell rächen? Weil er mit seinem Starrsinn nicht nur den Tod von Liselott Lindman zu verantworten hat, sondern auch das beste Team zerstört hat, mit dem sie je zusammenarbeiten durfte? Bis dieses Team zusammengestellt wurde. Ihre NOVA. Der Gedanke lindert den Aufruhr in ihrem Inneren. Allein die Tatsache, dass ihr NOVA-Team so schnell einen Verdächtigen ausmachen konnte, gibt ihr Selbstvertrauen. (Seite 113)
Arne Dahl gelingt es, einen eigentümlichen Sog zu erzeugen. Die so unterschiedlichen Mitglieder des Ermittlungsteams sind mir dabei ans Herz gewachsen – mehr als ihre etwas unnahbare Chefin. Vor allem aber haben mich die Anschläge und ihre Begründungen beschäftigt. Darüber denken auch die Ermittler nach: Könnte Klimaterrorismus gerechtfertigt sein? Es sterben Menschen dabei. Das darf unter keinen Umständen sein. Trotzdem schleichen sich Fragen in die Gedanken der Ermittler: Was, wenn der Klimabomber recht hat mit seinem heiligen Zorn, das Land wirklich verdorben ist und wir tatsächlich in Ruinen des Verfalls leben? Es sind diese Gefühle und Gedanken, die ich als Leser mit dem Team teile und die mich dazu gebracht haben, das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen.
Arne Dahl: Stummer Schrei. Eva Nymans erster Fall. Piper Verlag, 464 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-492-07241-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492072410
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Basel, 23. Mai 2024, Matthias Zehnder
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