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Stille Falle

Publiziert am 8. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Spannung kann auf ganz unterschiedliche Art und Weise entstehen. Manchmal weiss die Leserin, der Leser genauso viel (oder genauso wenig) wie die Hauptfigur. Man tappt mit Hercule Poirot oder mit Kurt Wallander im Dunkeln und hat keine Ahnung, auf was die Sache hinausläuft. Dann gibt es Suspense, jene spezielle Form der Spannung, die sich einstellt, wenn die Leserin, der Leser mehr weiss als die Hauptfigur und sich vor lauter böser Ahnungen und Erwartungen in die Knöchel beisst beim Lesen. Nicht nur Alfred Hitchcock hat mit Suspense gearbeitet, auch viele Krimischriftsteller arbeiten damit. Ein Beispiel ist Stieg Larsson und seine Millennium-Trilogie. Der schwedische Krimiautor Anders de la Motte nutzt in seinem neusten Krimi eine Mischung der beiden Spannungsarten. Er erzählt die Handlung hauptsächlich aus der Sicht der ermittelnden Kriminalkommissarin Leo Asker, streut aber immer wieder andere Perspektiven ein. Darunter auch die Vorgeschichte des Übeltäters, den er nur «den Troll» nennt. Daraus ergibt sich beim Lesen ein ganz spezieller Sog: Es ist, als könnte man in Zeitlupe dabei zusehen, wie zwei Züge miteinander kollidieren. Leo Asker ist eine spannende Figur, die mich ein wenig an Lisbeth Salander erinnert hat. Nur sind Person und Geschichte viel weniger düster als bei Stieg Larsson. In meinem 190. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was Sie sonst noch von der neuen Krimi-Kommissarin aus Schweden erwarten können.

Anders de la Motte hat selbst mehrere Jahre als Polizist in Stockholm gearbeitet. Das merkt man seinen Büchern an: Sie sind präzise nicht nur in den Beschreibungen der Stimmungen, sondern auch der Polizeiarbeit. 2010 erhielt er den Preis der Schwedischen Akademie der Krimiautoren, 2015 wurde einer seiner Romane als bester schwedischer Kriminalroman ausgezeichnet. In seinem neuen Buch «Stille Falle» hat er eine interessante, neue Hauptfigur erfunden. Leo Asker ist Anfang dreissig, blond, kurzhaarig und für eine Frau ungewöhnlich gross und breitschultrig. Sie hat zwei unterschiedliche Augen – das eine ist blau, das andere grün. Diese Eigenschaft nennt man Heterochromie. Wenn Leo jemandem in die Augen schaut, führt das oft zu Verwirrung.

Leo ist unter sehr speziellen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Mutter Isabel Lissander ist Anwältin der High Society von Malmö mit eigener Kanzlei, eine starke, bestimmende Frau. Ihr Vater ist das Gegenteil: ein Aussteiger, ein Kämpfer, ein Eigenbrötler. Ihre Eltern haben sich getrennt, als sie noch zur Schule ging. Sie entschied sich damals, bei ihrem Vater Per zu bleiben. Ihr Vater war ein Prepper: Er fühlte sich überwacht und ausgehorcht, jahrelang bereitete er sich auf den grossen Angriff und die grosse Katastrophe vor. Leo musste täglich Übungen absolvieren. War sie nicht schnell genug, wurde sie bestraft. Liegestützen und Chrunches bis zum Umfallen. Als sie siebzehn Jahre alt war, kam es zur Katastrophe: zu einer schrecklichen Explosion. Leo hat eine Narbe auf ihrem linken Unterarm davongetragen. Darüber hat sie sich ein Wort tätowieren lassen: Resilienz.

Ähnlich wie Lisbeth Salander in den Büchern von Stieg Larsson ist Leo eine beschädigte Frau, die sich nur dank vieler Fähigkeiten und einiger Härte hat retten können. Anders als Lisbeth ist Leo Asker keine dunkle Figur. Sie ist resilient: Sie weiss was sie will, sie hat eine Vorgeschichte, aber sie hat auch helle, lustige Seiten. Das hilft beim Lesen – und es hilft Leo bei ihren Ermittlungen.

Der Fall, um den sich der Krimi dreht, ist rasch erzählt: Smilla Holst und Malik Mansur, zwei Teenager aus Malmö, werden vermisst. Das letzte Lebenszeichen der beiden ist ein Post auf Instagram. Das ist zwar nicht lange her, aber ganz Malmö kennt die Familie Holst, ihren Reichtum und ihre Macht. Deshalb sucht die Polizei Smilla mit voller Kraft. Der Instagram-Post zeigt Smilla und Malik mit aneinandergeschmiegten Wangen. Sie schauen glücklich in die Kamera. Sie tragen praktische Funktionskleidung: Polokragen und Softshelljacken: seine schwarz, ihre türkis. Um Smillas Hals hängt der Riemen einer Kamera. Die Bildunterschrift lautet: «Unterwegs zu einem neuen Abenteuer», gefolgt von #newadventures und #love. Bloss scheint dieses letzte newadventure nicht viel mit love zu tun zu haben.

Um den Fall herum konstruiert Anders de la Motte eine spannende Geschichte. Es läuft darauf hinaus, dass Leo Asker zwei Widersacher hat. Der eine ist der «Troll». Bis am Schluss weiss man nicht, wer das ist. Offensichtlich ein kranker Mann, der Menschen in einem Berg einsperrt und sich an der Macht delektiert, die er über seine Gefangenen hat. Schrittweise kommt Leo Asker dem Troll auf die Schliche – das sind die beiden Züge, die in Zeitlupe aufeinander zu rasen. Leo hat aber noch einen zweiten Widersacher: Jonas Hellman. Ihr grosser Fehler.

«Hellman war es gewesen, der sie eines Tages in die Abteilung für Kapitaldelikte geholt hatte. Er hatte ihr vieles von dem beigebracht, was sie heute konnte.
Alle mochten Jonas Hellman.
Schon bevor sie den Job hatte, begann er, mit ihr zu flirten. Sie muss zugeben, dass sie das spannend fand.
Und noch spannender wurde es, als er zu ihrem Gruppenleiter aufstieg.
Hellman hatte eine ganze Entourage um sich, die ihn bewunderte, die kleinste Anweisung befolgte. Manche von ihnen waren auserwählt, etwas Besonderes. Und sie war eine davon.
Eine Zeit lang hätte sie fast alles für ihn getan. Ein halbes Jahr lang gab es nur sie beide. Manchmal denkt sie noch daran. Vor allem an den Sex.
Wild, zügellos, berauschend.
Dann traf sie ihn zufällig in der Stadt mit Frau und Kind.
Natürlich wusste sie, dass es sie gab, seine Familie, aber bis dahin war es ihr gelungen, sie auszublenden. So zu tun, als sei sie nicht ihr Problem.
Sie sahen glücklich aus. Eine glückliche Familie, die sie mit zerstörte.
Selbstdisziplin bedeutet, niemals den leichten Weg zu wählen.
Noch eine von Pers Weisheitsperlen, die er gern verstreute.
Wobei er in diesem Fall sogar recht hatte.
Also beendete sie die Sache. Einfach so, von einem Tag auf den anderen.
Riss sich das Pflaster ab, schluckte Unbehagen und Schmerz hinunter, wie sie es gelernt hatte. Aber das Problem mit solchen Leuten wie Jonas Hellman – talentierte, erfolgsverwöhnte Menschen, die gern bewundert und verehrt werden – ist, dass sie meist nicht gut darin sind, abgewiesen zu werden.
Gar nicht gut.» (S. 48f.)

Nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hat, schikaniert Hellman sie, bis Leo ihn anzeigt. Hellman wird nach Stockholm versetzt zur NOA, der Nationalen operativen Abteilung. Hellman hatte behauptet, dass Leo ihn in der Personalabteilung gemeldet habe, nachdem er aus Gewissensbissen ihre «kleine Affäre» beendet hatte. Offiziell ist das kein Problem. Aber es ist klar, dass Hellman eine Rechnung offen hat mit Leo. Eine dicke Rechnung. Weil die vermisste Smilla Holst aus einer reichen Familie stammt, hat die Polizei von Malmö die NOA aus Stockholm beigezogen. Die NOA übernimmt Leos Fall. Hellman übernimmt den Fall. Und Leo?

Leo wird versetzt. Auf dem Papier wird sie zur Abteilungsleiterin befördert. Doch von der Abteilung, die sie leiten soll, hat noch nie jemand gehört: Die Reserveabteilung befindet sich im ersten Untergeschoss. Hier arbeiten die verlorenen Seelen der Polizei. Menschen, die niemand mehr brauchen will. Sie werden mit jenen Fällen betraut, die durch das Raster gefallen sind. Leo wird also abgeschoben.

Doch unverhofft eröffnen sich ihr im Keller neue Chancen, ihren alten Fall mit Hilfe ihrer neuen, sehr speziellen Kollegen zu lösen. In den Unterlagen ihres Vorgängers, der nach einem Herzinfarkt nicht ansprechbar auf der Intensivstation liegt, stösst sie auf Informationen, die ein völlig neues Licht auf den Fall der zwei Vermissten werfen. Es könnte sein, dass die beiden nur die letzten zwei sind, die verschwunden sind. Offenbar arbeitet da jemand im Verborgenen und lässt Menschen verschwinden. Leo findet heraus, dass der Entführer seine Taten veröffentlicht, indem er die Entführten als Miniaturfiguren in einer öffentlichen Modelleisenbahnlandschaft auftauchen lässt. Leo stösst also in ihrem Keller auf die wenigen Spuren, die der Troll hinterlassen hat.

Es ist eine spannende Geschichte, die Anders de la Motte erzählt. Leo Asker, Jonas Hellman und die anderen Figuren im Buch sind vielschichtig und interessant. Es sind Menschen, für die man sich zu interessieren beginnt. Vor allem aber ist das Buch gut geschrieben. Anders de la Motte versteht es, in wenigen Worten eine Stimmung einzufangen. Ich gebe Ihnen dafür ein Beispiel:

«Es ist Oktober, die Bäume im Park tragen noch Herbstlaub. Normalerweise mag sie diese Jahreszeit mit der klaren Luft und den V-Formationen der Gänse am Himmel. Aber heute Morgen erscheinen ihr die Kälte und Feuchtigkeit wie eine Vorwarnung, dass etwas passieren wird. Der Winter in Skåne ist für gewöhnlich eine Mischung aus Wind und eiskaltem Regen, der durch Mark und Bein geht. Sie hasst den Winter, hasst es zu frieren. Das hat sie in ihrem Leben schon zur Genüge getan.» (S. 23)

Das ist präzis geschrieben. Auf den Punkt. Und zwischen den Worten hat es immer wieder Raum für die eigene Phantasie. Damit spielt Anders de la Motte perfekt. Wie hier:

«Das grosse Haus, in dem sie ein Gästezimmer bezogen hat, gehört ihr nicht. Sie wohnt nur so lange darin, bis die Familie wieder aus dem Ausland zurückkehrt. Das Haus ist alt und stattlich, die Renovierung hat einige Millionen Kronen gekostet. Kupferdach, Balkone, Fischgrätparkett und Stuckdecken. Außerdem Panoramafenster mit Blick auf das Meer. Asker ist selten da. Sie kommt spät nach Hause, geht früh. So ist es ihr am liebsten.» (S. 23f.)

Zwischen den Worten eröffnet sich die Welt der Leo Asker. Die äussere und die in ihrem Kopf. Die ist genauso wichtig. Bei ihr und bei ihren neuen Kolleginnen und Kollegen der Reserveabteilung. Es sind alles etwas beschädigte und deshalb unterschätzte Menschen. Es sind die Abgeschobenen. «Stock minus eins», verkündet die Aufzugstimme mit leichtem Zögern, als würde sie sich fragen, ob Asker wirklich hier aussteigen möchte oder nur auf den falschen Knopf gedrückt hat. Gut geschrieben.

Anders de la Motte: Stille Falle. Leonore Askers besondere Fälle. Kriminalroman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Marie-Sophie Kasten. Droemer/Knaur, 528 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-426-30953-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426309537

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Basel, 8. Februar 2024, Matthias Zehnder

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