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Staying Alive. Kein Arztroman
Der klassische Arztroman hat einen «Gott in Weiss» zum Helden – also einen männlichen Arzt, der zwischen medizinischer Pflicht und persönlichen Leidenschaften hin- und hergerissen ist. Selbstverständlich meistert er alle Herausforderungen, ohne dabei seinen weissen Kittel zu bekleckern. Er rettet Leben, spendet Trost – und findet dabei auch noch die grosse Liebe. In «Staying Alive» von Eva Mirasol ist alles anders. Der Untertitel lautet «Kein Arztroman» – und das ist wörtlich zu nehmen. Die Hauptfigur ist kein Arzt, sondern eine Assistenzärztin. Der Schauplatz weder Schönheitsklinik noch Praxis mit Alpenblick, sondern die Notaufnahme eines Berliner Krankenhauses. Es geht nicht um spektakuläre Notoperationen und die grosse Liebe über dem offenen Herzen, sondern um das Ringen mit der Realität. Der Alltag ist hier Heldentat genug – und zwar einer mit ironischem Soundtrack. «Stayin’ Alive» von den Bee Gees stammt aus dem Film «Saturday Night Fever», wörtlich: «Fieber am Samstagabend». Läuft der Song im Schockraum, bekommt das Wort «Überleben» eine ganz neue Bedeutung. So schnörkellos wie das Setting ist auch der Ton des Buchs: Eva Mirasol erzählt mit trockenem Humor von einem Berufsalltag am Limit. Deshalb lege ich Ihnen «Staying Alive» als meinen 259. Buchtipp wärmstens ans Herz.
Im klassischen Arztroman steht ein gut aussehender – selbstverständlich männlicher – Arzt im Zentrum. Sein ärztliches Handeln ist ebenso tadellos wie seine Moral, seine Entscheidungen sind schwer, aber heroisch. Arzt zu sein ist in diesen Geschichten eine Berufung, die mit Opferbereitschaft, Mut und einem Schuss Romantik einhergeht. Der Held muss sich zwischen Ethik und Emotionen, Medizin und Liebe entscheiden – und am Ende kriegen sich Dr. Markus und Schwester Barbara natürlich trotzdem.

«Der Arzt von Stalingrad» von Heinz G. Konsalik (1956) ist ein früher Klassiker des Genres. Die langlebigste Arztromanserie im deutschen Sprachraum dürfte «Dr. Norden» von Patricia Vandenberg sein: Seit 1974 sind über 1000 Geschichten um Dr. Daniel Norden erschienen, dem Inbegriff des gütigen, kompetenten und gutaussehenden Landarztes, der in jeder Lebenslage Rat weiss. In ähnlichem Stil funktioniert «Dr. Stefan Frank – Der Arzt, dem die Frauen vertrauen», später populär als RTL-Serie (1995–2001). Frank ist Gynäkologe in München, sensibel, kompetent und stets zwischen Herz und Notfall gefordert. Auch «Der Bergdoktor» (ZDF) folgt diesem Muster: Vor alpenromantischer Kulisse pendelt die Handlung zwischen Schicksalsmedizin, Seelsorge und Liebeschaos. Die Geschichten haben gemeinsam, dass sie sentimental-romantisch sind, medizinisch dramatisiert und dass sie stets mit klarer Moral in ein Happy End münden.
So gesehen ist «Staying Alive» wirklich kein Arztroman – und ob sich Eva Mirasol am Ende doch noch zu einem Happy End durchringt, verrate ich Ihnen natürlich nicht. Auf den gut 300 Seiten davor geht es ordentlich zur Sache – und zwar realistisch: Das Personal in der Notaufnahme kämpft mit einer endlosen Flut an Fällen, von der Magenverstimmung bis zum Herzstillstand. Die Ärztinnen laufen auf dem Zahnfleisch, die Verwaltung verlangt gute Zahlen, und viele Patienten halten das Spital offenbar für ein Hotel mit Service.
Erzählt wird aus der Sicht von Assistenzärztin Nicki, die auf der internistischen Rettungsstelle eines Berliner Grossspitals ihre Stelle antritt. Internistisch – in der Schweiz würde man sagen: medizinisch – bedeutet, dass es um Notfälle der inneren Medizin geht, nicht um gebrochene Knochen oder Platzwunden. Die Realität? Herzinfarkte verstecken sich zwischen Mückenstichen, versehentlich konsumierten Cannabis-Cookies, einem ganz normalen Schwindelgefühl und vielen Betrunkenen.
Wer in die Rettungsstelle kommt, wird triagiert – nicht bedient. Oder, wie Eva Mirasol es formuliert: Die Pflege «stellt fest, ob der Patient lebt und wenn ja, wie lange noch. Je kürzer die vermutete Überlebenszeit, desto schneller geht es weiter. Und bei vielversprechenden Vitalparametern passiert erst einmal eine ganze Weile gar nichts.» Wer also keine dramatischen Symptome zeigt, sitzt schon mal drei Stunden im Warteraum. «Ein weiterer Notfall – und schon sind es fünf.»
Die Szene mit dem Mann, der sich seit Wochen am Knie kratzt, ist exemplarisch für den Tonfall von Eva Mirasol:
«Ich habe ewig auf Sie gewartet», beschwert er sich. «Ich habe seit fünf Wochen ein Kribbeln am linken Knie!»
«Dann kommt es ja auf die paar Stunden auch nicht mehr an.»
«Wie bitte?»
«Wie lange haben Sie denn das Kribbeln schon?»
«Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt, seit fünf Wochen.»
«Und wo genau kribbelt es?»
«Am linken Knie! Sind Sie blöd, oder was?»
«Es kribbelt also am linken Knie. Seit fünf Wochen.»
«Genau, sind Sie ein Arzt oder ein Idiot?»
Freundlich lächele ich ihn an.
«Wissen Sie, wo Sie sind?»
«In der Rettungsstelle.»
«Und wo genau da?»
«Na, das steht doch hier überall: Internistische Rettungsstelle. Wissen Sie nicht, wo Sie arbeiten?»
«Doch», sage ich. «Ich arbeite in der internistischen Rettungsstelle. Neben Ihnen ein Patient mit Herzinfarkt, hinter Ihnen einer mit Lungenentzündung und der, der gerade im Schockraum stirbt, hat eine Magenblutung. Seit wann kribbelt noch mal Ihr Knie?»
«Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt! Seit fünf Wochen! Passen Sie nicht auf?
«Doch», sage ich. «Ich passe sehr genau auf. Und jetzt sage ich Ihnen mal was: An Ihrem linken Scheiß-Knie ist ein Mückenstich! Und der kribbelt, weil Sie immer kratzen! Sie kriegen jetzt ein Nashornpflaster von mir, und dann will ich Sie nie wiedersehen!»
«Sie sind ja schlechter gelaunt als ein Türsteher im Berghain!»
«Ja!», schreie ich. «Das bin ich, denn der darf wenigstens ab und zu einen nicht reinlassen!»
Dann ist der Dienst zu Ende. Als ich in die Umkleide gehe, sehe ich, wie der Mann einen Zettel in den Briefkasten für die Beschwerden wirft.
Es ist mir egal. (Seite 130f.)
Natürlich fällt die Beschwerde Nicki früher oder später auf die Füsse. Im Verlauf des Romans begleiten wir sie durch ihren Alltag in der Notaufnahme – mit wachsender Routine, aber auch wachsender Erschöpfung. Dabei bleibt ihr, selbst nach einer Zwölf-Stunden-Schicht, noch genug Humor, um das Geschehen mit lakonischem Witz zu kommentieren.
Der Ton, den Eva Mirasol ihrer Figur gibt, hat mich stark an Alexander Spörl erinnert – an seine «Memoiren eines mittelmässigen Schülers». Diese Mischung aus naiver Weltsicht und gnadenloser Selbstironie findet sich auch in Nickis Erzählweise. Ein gutes Beispiel dafür: die Sache mit dem Stethoskop.
Das Stethoskop ist wichtiger, als man denkt. Sogar Orthopäden haben eines, obwohl sie es ziemlich sicher niemals benutzen. Dafür haben sie große Hände, renken Hüften ein und machen Witze über Internisten. In der Rettungsstelle benötigen jedoch auch sie ein Stethoskop, denn da tragen alle Blau, und da man an einem Schlafanzug keine Troddeln oder Ehrenbezeichnungen anbringen kann, ist es das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen ärztlichem Personal und Pflegekräften.
Zur besseren Sichtbarkeit trägt man das Stethoskop um den Hals. Dadurch ist allen klar, dass hier jemand so viel zu tun hat, dass keine Zeit bleibt, es wieder in die Kitteltasche zu stecken. An manchen Tagen wäre es wahrscheinlich besser, es gleich im Ohr zu lassen – da muss man dann aber vorsichtig sein, dass man das andere Ende auf dem Weg zum nächsten Patienten nicht an irgendeinen Tisch knallt, sonst platzt einem das Trommelfell. … Eigentlich ist also alles ganz einfach: Stethoskop – ärztliches Personal, kein Stethoskop – Pflegepersonal, Stethoskop um den Hals – kommt vom Seminar, Stethoskop in der Tasche – kommt vom Blutdruckmessen, Stethoskop im Ohr – Tinnitus.
Leider hat man den Patienten diese ungeschriebenen Gesetze nicht mitgeteilt, sodass die sich auf die althergebrachte Differenzierungsmethode verlassen müssen: Männer – Ärzte, Frauen – Schwestern.
«Erst wenn du sehr viele Falten hast, glauben sie dir dein Medizinstudium», sagt Sandra, die mir die offenen Fälle aus dem Spätdienst übergibt. «Und dann wollen sie wissen, ob es nicht bald zu spät ist für den Rest des Lebens.»
Sie hinterlässt mir sieben ungesehene Patienten.
«Sieben?», frage ich.
«Sei froh, dass es nicht acht sind.»
Eine Stunde später sind es bereits wieder fünfzehn. Martin macht die Notfälle, und ich die, die eigentlich zum Hausarzt hätten gehen sollen.
Ob ich studiert habe, will ein älterer Herr wissen.
Er sitzt auf der Trage in einem der Behandlungszimmer und baumelt mit den Beinen. Es ist der Raum, in dem der Computer so ungünstig positioniert ist, dass ich mich entscheiden muss, ob ich mich mit ihm oder dem Bildschirm unterhalte.
Ich deute auf das Stethoskop an meinem Hals.
Nachdenklich schüttelt er den Kopf. Ob ich mir sicher wäre? Ab und an würde ja auch mal eine Schwester eines einstecken.
Überrascht von seiner Sachkenntnis zeige ich auf das Namensschild an meinem Kittel.
«Na, so was», sagt der Mann.
Was er hat, ist mir völlig unklar. Am meisten störe ihn das Gefühl, sein linkes Ohrläppchen gehöre nicht mehr zu seinem Körper. Ich habe im Studium gelernt, dass niemand so genau weiß, warum man überhaupt ein Ohrläppchen hat, aber das interessiert ihn nicht, er will seines trotzdem wieder. Wozu, kann er mir nicht beantworten, nicht einmal Ohrringe trägt er, aber was soll ich da diskutieren. Um Zeit zu gewinnen, schlage ich einen stationären Aufenthalt vor.
«Wegen des bisschen Ohrläppchens?»
«Immerhin sind Sie dafür in die Rettungsstelle gefahren.»
«Da haben Sie auch wieder recht«, räumt er ein. »Und vielleicht ist ja morgen bei der Visite auch ein richtiger Arzt dabei.» (Seite 18f.)
Das klingt für mich nach Alexander Spörl – und ein besseres Kompliment kann ich nicht machen. Ich liebe die «Memoiren». Assistenzärztin Nicki bleibt keine Zeit für solche Überlegungen. Schwester Beate, die Stationsleitung, knallt ihr drei weitere Kladden auf den Tisch. «Ein Stethoskop baumelt von ihrem Hals.» – Die Pointe, so trocken nachgeschoben, wie ich das sonst nur von Spörl kenne. – Das sitzt.

Nicki kommt unterdessen auf der Rettungsstelle so richtig ins Schwitzen. Nicht nur, weil jeden Tag unendlich viel Arbeit ansteht, sondern auch der sommerlichen Temperaturen wegen. Und dann ist Ende Juni und Berlin feiert den Christopher Street Day.
Auch in den nächsten Tagen bleiben die Temperaturen hoch und die Rettungsstelle voll. Ob es das hausärztliche System überhaupt noch gibt? Mein Nachrichtenkonsum ist in den letzten Wochen derart vollständig zum Erliegen gekommen, dass ich nicht ausschließen möchte, die eine oder andere gesundheitspolitische Entwicklung verpasst zu haben. Vielleicht hat sich auch der gesamte ambulante Sektor dazu entschlossen, endlich einmal gemeinsam in den Urlaub zu fahren, eine riesige Ballermann-Party, frei nach dem Motto «wer sich erinnert, war nicht dabei», und die Rettungsstelle ist doch ohnehin immer besetzt – wo liegt das Problem?
Womöglich in dem seit Wochen wolkenlosen Himmel und der Tatsache, dass viele glauben, zwei bis drei Bier pro Tag reichten für die Aufrechterhaltung einer reibungslosen Nierenfunktion.
Interessant auch, dass immer mindestens fünf Pflegekräfte auf einmal nicht da sind – als wären auch sie in einem undurchschaubaren System gegenseitiger Abhängigkeiten gemeinsam verreist, erkrankt oder einfach nur verhindert.
«Sind alle im Urlaub?», frage ich Micha.
«Nein, im Burn-out», sagt er. «Und wer kann es ihnen verdenken.»
Die Niedergelassenen auf Mallorca, die Pflege am Limit, und als bräuchte die aufgeheizte Stadt einen weiteren Siedepunkt, ist heute auch noch der Christopher Street Day.
«Schlimmer als Silvester, aber besser als Fußball», sagt Schwester Babsi.
«Und das aus deinem Mund.»
Babsi grinst. «Habt ihr schon unser Matratzenlager gesehen?»
Nina und ich schütteln den Kopf und folgen ihr in den Eingangsbereich.
«15 Matratzen, zehn davon als Monitorplätze», sagt Babsi stolz.
«Und alle auf dem Boden, damit niemand stürzen kann.»
«Beeindruckend», sage ich. «Aber ist das wirklich nötig?»
«Jetzt bist du schon so lange dabei, Nicki, und immer noch so naiv. Es sind fünfunddreißig Grad, da finden viele Leute schon ohne Drogen nicht mehr allein nach Hause.» (Seite 219)
Aber problemlos in die Notaufnahme. Und sei es nur, weil ihnen da jemand zuhört. Nicki und ihre Kolleginnen und Kollegen schuften bis zum Umfallen. Es ist ein Leben am Anschlag. Überlange Dienste, zu wenig Schlaf, unwirsche Patienten und blöde Sprüche von Männern. Nach einem freien Tag stellt Nicki irgendwann überrascht fest: «Ich hatte ganz vergessen, wie schön es ohne Arbeit ist.» Überleben lässt sich das alles nur mit viel Humor, grandiosen Kolleginnen und Kollegen – und mit Gin Tonic. Doch dann passiert das Dümmstem, was einer jungen Assistenzärztin passieren kann: Sie verliebt sich. Und zwar in Oberarzt Micha.
Ganz ohne Bergdoktor-Romantik erzählt Eva Mirasol die Geschichte von Nicki in der Notaufnahme. Man merkt dabei, dass Eva Mirasol selber Ärztin ist: Die medizinischen Details sind präzise, die Fälle realistisch – aber nie trocken erzählt. Denn Mirasol schreibt mit Schmäh, Biss und einem Humor, der an Alexander Spörl erinnert. Es ist ein Vergnügen, Nicki durch diesen Wahnsinn zu begleiten – von der ersten Triage bis zum letzten Einlauf.
Eva Mirasol: Staying Alive. Kein Arztroman. Ullstein, 336 Seiten, 22.50 Franken; ISBN 978-3-548-07031-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783548070315
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 12.06.2025, Matthias Zehnder
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