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Carla Mittmann hat Philosophie studiert, genauer: Sozialphilosophie. Und das erfolgreich: Ihre Seminararbeit über die «Philosophie des Putzens» wurde mit einer Sonderauszeichnung für Erstsemesterarbeiten prämiert. Und ihr «Soziogramm des ‹Flaschensammlers› als idealtypischer homo oeconomicus des anomischen Zeitalters» in gekürzter Fassung als Sonderabdruck in einem geisteswissenschaftlichen Magazin veröffentlicht. Einer philosophisch-wissenschaftliche Karriere schien nichts im Weg zu stehen. Ihre Abschlussarbeit wurde gefördert. Titel: «Schicksalsökonomie. Eine qualitative sozialphilosophische Untersuchung des Aberglaubens in der kapitalistischen Spätmoderne.» Carla Mittmann wollte mit anderen Worten untersuchen, warum Astrologie boomt. Ihr war aufgefallen, dass die Menschen in ihrer Umgebung sich in zunehmender Häufigkeit über ihre Sternzeichen austauschten, «nicht nur in den Likörtrinker- und Illustriertenabonnentenkreisen» ihrer Mutter, sondern auch an der Uni, in der Mensa und im akademischen Nachtleben. Als Basis für ihre qualitative Forschung erfand sie «Cosmic Charly», ihre eigene Astro-Plattform im Internet. Die boomte rasch wie das ganze Thema. Carla stürzte sich in die Arbeit – und dann wurde sie angeschwärzt. Plötzlich wurde die Wissenschaftlichkeit ihres Vorhabens, ja die Rechtmässigkeit des ganzen Forschungsprojekts angezweifelt. Der Lehrstuhl schaltet sich ein, der Professor wirft sie raus, Carla wird exmatrikuliert und hält sich mit Jobs über Wasser. Jetzt arbeitet sie seit neun Jahren als «Daueraushilfskraft» im Grosskundenservice eines Möbelherstellers. Spezialbereich Behördenausstattung. Schultische, Amtsregale, Warteraumsessel, Abteilung Reklamationen und Nachbestellungen, zwanzig Stunden die Woche, zwölf Tage Urlaub im Jahr. Nach Feierabend und an den Wochenenden ist sie Cosmic Charly und praktiziert Sozialphilosophie und Lebensberatung – sprich: sie vertickt persönliche Horoskope. Und dann, dann ändert sich das Leben der Carla Mittmann ganz plötzlich. Was mit der Hobby-Astrologin passiert und warum das spannend und lustig zu lesen ist, das verrate ich Ihnen, wenigstens ansatzweise, diese Woche in meinem 254. Buchtipp.
«Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung», sagt man. Und so steht es auf der Website von Cosmic Charly, denn so sei es auch mit den Sternen. Es sei deshalb nützlich, auf stürmische Zeiten und nährende Phasen vorbereitet zu sein, «um deren Potenziale mit Bewusstheit auszuschöpfen». «Dabei», schreibt Cosmic Charly weiter, «stehen wir Ihnen mit unseren aus langjähriger Erfahrung gespeisten astrologischen Beratungen zur Seite.» Zum Angebot gehören Persönlichkeitsanalyse, Partnerschaftshoroskop, je nach Situation mit Beziehungs- oder Flirtprognose, Verborgene Talente, Karma-Report, Asteroiden-Deutung, Arabische Punkte und vieles mehr. Darunter steht ein Satz, der Johannes Kepler zugeschrieben wird: «Die Sterne sind nur der Vater deines Schicksals. Die Mutter ist deine eigene Seele.»

Es gibt Kunden, denen geht es um die Wahl der richtigen Partnerin, um einen Bandscheibenvorfall und Glutenunverträglichkeit oder den Erwerb der nächsten Immobilie und die Gründung einer Firma.
Wieder andere sorgten sich ausschließlich um ihre persönliche Einzigartigkeit, wollten immer wieder aufs Neue attestiert bekommen, welch unverwechselbare Charakterwunder sie waren, konnten gar nicht genug bekommen von vagen Schmeicheleien wie: «Venus im ersten Haus in Opposition zu Saturn im siebten macht Sie zu einer attraktiven, wenngleich äußerst vielschichtigen Persönlichkeit, die von anderen oft missverstanden wird, dabei aber stets einen bleibenden Eindruck hinterlässt». Manche waren noch keine dreißig, andere über siebzig und wie unterschiedlich ihre Tonfälle und Anfragen auch ausfielen, eines hatten Charlys Kunden gemeinsam: Allesamt verzehrten sie sich danach, dass jemand sie erkannte. Auf sie aufpasste. Sich um sie kümmerte. (Seite 31)
Und das kann sie, Carla Mittmann, gescheiterte Sozialphilosophin, seit neun Jahren Dauerhilfskraft im dritten Stock im Glasanbau, zweite Tür links vom Lift, Durchwahl 347. Niemand weiss, dass die zurückhaltende Carla in ihrer Freizeit Cosmic Charly ist – und umgekehrt weiss natürlich auch niemand, dass der Meisterastrologe im Tagjob Büromöbelkunden vertröstet. Carla Mittmann alias Cosmic Charly kennt sich in den Leben ihrer Kundinnen und Kunden ziemlich gut aus. Die Astrologie nutzt sie dabei wie eine Bildsprache, durch deren Blumen sie ihren Klienten sagt, dass sie besser die Finger von diesem Partner oder jenem Geschäft lassen sollen. Die Sterne? Sind nur Dekoration.
Das war ja auch das Ziel der wissenschaftlichen Arbeit: Zu zeigen, dass die Menschen mit Astrologie ihre «Sehnsucht nach der Nichtvergeblichkeit» stillen wollen, wie es Philosophiestudentin Carla formulierte. Die Leute glauben dran. Sie gieren geradezu nach kosmischem Sinn, nach «Nichtvergeblichkeit». Sie sind aufgeschlossen gegenüber «höheren Mächten» und «Autoritäten» jedweder Art, Pluto ist wichtiger als Platon – und mit jedem Jahr wird es schlimmer. Carla macht also erfolgreich Lebensberatung – bloss ihr eigenes Leben ist ihr schleierhaft. Sie lebt in ihrer provisorischen Bürowarteschlaufe vor sich hin – bis ein Pflasterstein und ein Schuhkarton von Dollarnoten ihr Leben ändern.
Ein Pflasterstein und ein Schuhkarton mit Zehntausend Dollar landen nämlich eines Tages unverhofft in ihrer Wohnung und geben Carla den Anstoss, ihr Leben zu überdenken.
Letztlich kam es nicht darauf an, aus welchen Quellen sich Charlys Analysen speisten, sondern nur darauf, wie er sie formulierte und ob die Leute etwas damit anfangen konnte. Und das konnten sie offensichtlich. Jahrelang hatte ich fremden Menschen über ihre Verirrungen und Verwerfungen hinweggeholfen. Verständnis hatte ich gezeigt, noch für ihre grellsten Torheiten und schwächsten Momente. Die jeweils nötige Ration Ratio hatte ich den Leuten geschickt, nichts als Vernunft, reinste Vernunft, leicht verdaulich zubereitet, wie es ihnen nun mal am besten zu schmecken schien, in süßsämige Astrosoße getunkt. Mutter, Beichtmutter, Therapeutin, Coach, Seelsorgerin war ich den Leuten gewesen. Gott und der Welt hatte ich ihr Leben erklärt —nur mir nicht. (Seite 94)
Also beschliesst Carla, sich selbst zu helfen, den Bürokram an den Nagel zu hängen und zu überlegen, wie sie sich selber beraten würde, wenn sie bei Cosmic Charly Rat suchen würde.
In der Anfangsphase hatte ich es selbstverständlich untersucht. Mein Geburtshoroskop, meine ich. Die Radix-Grafik, die astronomische Skizze, die, so hieß es, den Stand der Gestirne zum Zeitpunkt meiner Geburt wiedergab, von dem Ort aus betrachtet, an dem ich zur Welt gekommen bin, den Himmel über dem Kreiskrankenhaus meines Heimatorts. Ich nutzte sie als Übungsmaterial, um zu verstehen, wie es funktionierte – die Mechanik des Ganzen – und kann mich an keinen erleuchtenden Aha-Effekt erinnern und seither, seit weit über einem Jahrzehnt, hatte ich mir mein Horoskop nie wieder angesehen.
Und auch jetzt würde ich ganz bestimmt nicht die Sterne befragen, was gerade los war, mit mir und den Dollars, mir und dem Planeten Pluto, mir und der Welt.
Es war doch viel einfacher. Wenn cosmic-charly.com mich in all den Jahren eines gelehrt hatte, war es dies: Viele Leute tragen vielversprechende Vorgeschichten mit sich herum. Vorgeschichten, die auf unerklärliche Weise im Sande verlaufen oder auf tragische Art abgebrochen sind. Oder die sich mit anderer Leute Vorgeschichten verknotet und verknäuelt haben, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Vorgeschichten, die den Leuten fast schon nicht mehr wahr erscheinen — was die Verdrängung enorm erleichtert.
Einige hängen jedoch an ihren Vorgeschichten. Sie kommen immer wieder darauf zurück, mit dem stichelnden Gefühl, etwas übersehen zu haben, ein Motiv, einen Schlüssel, eine Abzweigung, einen Schalter, den sie an Tag X versehentlich in die falsche Richtung gedreht haben. Oder hat jemand anderes sich am Schalter zu schaffen gemacht? Zufall? Schicksal? Selber schuld? Was wäre gewesen wenn: Eine Menge Leute versuchen, mit dieser Frage klar zu kommen, ihr Leben lang. Das ist einer der Gründe, warum sie sich eines Tages an jemanden wie Charly wenden.
Und manchmal kann jemand wie Charly ihnen tatsächlich helfen.
Indem er den Leuten Geschichten anbietet, Geschichten über sie selbst, Interpretationen ihrer Vergangenheit, Auslegungen ihrer Gegenwart, Entwürfe für ihre Zukunft. Erzählungen, in denen die Leute sich wiedererkennen und mit denen sie sich anfreunden können. Worauf sie wieder ein Weilchen weitermachen können, mit was auch immer sie für richtig halten.
Was hätte Charly der jungen Frau nach ihrem akademischen Armageddon geraten – was hätte er sich überlegt?
…
Eigentlich war doch ganz klar, auch ohne die Konsultation von Saturn, Jupiter, et cetera, was die junge Frau hätte tun sollen: Auf ihr Alleinstellungsmerkmal hätte sie sich besinnen sollen, ihren Unique Selling Point, ihr unbestreitbares Talent. Es hatte ihr doch einigermaßen Spaß gemacht, und sie hätte es weit damit bringen können.
Worin bestand ihr unbestreitbares Talent? In der softphilosophisch-alltagssoziologisch-behelfspsychologisch-astrologischen Zeitgenossenberatung.
Alles, was sie gebraucht hätte, wäre ein solides kleines Startkapital gewesen. (Seite 95f.)
Genau dieses Startkapital hat sie jetzt in Form von Zehntausend Dollar in der Schuhschachtel. Also beschliesst Carla, ihre Analyse ernst zu nehmen und alles auf die Astro-Karte zu setzen. Nicht als anonymer Charly, sondern als sie selbst, als Astrophilosophin Carla Mittmann. Carla Mittman beschliesst, Star-Astrologin zu werden.
Das ist keine Traumvorstellung, sondern das Resultat einer kühlen Analyse. Dieser Teil des Buchs hat mir am besten gefallen: Katja Kullmann beschreibt mit fast boshafter Präzision und deshalb äusserst unterhaltsam, wie Carla das Astro-Business auskundschaftet, ihre Marktlücke ausfindig macht, einen Businessplan aufsetzt und loslegt. Ihr ist klar, dass sie mit den «zwanzig, dreissig Jahre jüngeren Astro-Influencerinnen», die das Netz mit «pastellfarbenen Textkacheln und Zwei-Minuten-Storys des Schwachsinns vollspammen», nicht mithalten kann. «Ich beherrsche ihre Sprache nicht, weder ihre Bildersprache noch ihre Hashtag-Grammatik, und ihre exaltierte Batteriehäschengestik bringe ich erst recht nicht zustande.» Hashtag-Grammatik und Batteriehäschengestik – sehr schön beschrieben.
Carla will eine «attraktive Art von Altmodischkeit» «entwickeln, kultivieren und performen». Sie will nach dem Vorbild von Elizabeth Teissier, die belesene, gereifte Frau geben, die mit ihrem Stil und ihrer gewählten Ausdrucksweise die Gut-und Besserverdienenden becirct und die wichtigste Grundregel der Seelenfängerei so elegant ausspielt wie niemand sonst: «Vermitteln Sie immer den Eindruck, dass Sie mehr wissen, als Sie sagen.» Sie spricht die Besucherinnen und Besucher ihrer Website persönlich und mit Du an, «in dem Kindergartenton, um den man im Netz inzwischen bedauerlicherweise nicht mehr herum kommt». Sie findet heraus, wann sie Beiträge posten, liken und kommentieren muss und stellt trocken fest, dass ihre «Anhängerschar» kontinuierlich wächst, seit sie sich auf diese «Firlefanzökonomie» eingelassen habe.

Katja Kullmann beschreibt den Aufbau des Astrobusiness von Carla Mittman, Astrophilosophin, ironisch-präzise. Wer es ernst nehmen würde, könnte das Buch glatt als Anleitung für den Aufbau eines Onlinebusiness nehmen, wenn da nicht immer Schalk und Ironie durchscheinen würden. Carla Mittmann, das ist klar, nimmt weder die «Firlefanzökonomie» noch das Astrobusiness ernst. Sie bedient sich den Gesetzmässigkeiten von Internet und Sternenzauber und eilt von Erfolg zu Erfolg. Bis, ja bis sie selber daran zu glauben beginnt. Denn sie hat Erfolg. Und da überzeugt die kritischste Philosophin.
Vieles hat sich seither verändert bei mir.
Star-Astrologin werde ich mittlerweile genannt.
Etwas über einhundertzehntausend Euro befinden sich aktuell auf meinem Konto, und ich unterhalte jetzt ein eigenes kleines Büro.
Deshalb, nur deshalb, kann ich mir diese Inselwochen leisten: Weil andere sich um die dringendsten Angelegenheiten kümmern, während ich, viertausend Kilometer entfernt von aller Geschäftstüchtigkeit, meine Zeit verschwende. Ich lasse sie jetzt einfach mal fließen, zerfließen, und merke, wie es wirkt, wie ich Tag für Tag ruhiger werde. Die ganze Aufregung legt sich, setzt sich, wie Sand, der in einem Wasserglas langsam auf den Grund rieselt.
Ist das Kitsch, der Sand im Wasserglas? Es fällt mir jetzt manchmal schwer, Seichtes von Tiefschürfendem zu unterscheiden – das beobachte ich an mir sehr genau. Ich kann die Qualität meiner Gedanken nicht mehr so gut einschätzen wie früher. Aber sobald mir das auffällt, frage ich mich auch immer sofort: Na und? Wäre das so schlimm? War ich denn glücklich? – frage ich mich dann. (Seite 219f.)
Sachte gleitet sie selber hinein in ihre erfundene Welt, beginnt den Hashtag-Wortschatz des Internets zu nutzen und sinkt immer tiefer hinein in eine exaltierte Batteriehäschenexistenz. Die Sterne? Sind längst nicht mehr nur die Bilder, die sie für ihre Kundinnen und Kunden nutzt. Jetzt schaut sie selber auf sie. Als Studentin wollte sie zeigen, dass die Menschen mit Astrologie ihre «Sehnsucht nach der Nichtvergeblichkeit» stillen wollen – jetzt sehnt sie sich selber nach dieser Nichtvergeblichkeit. Bis ihr erneut ein Pflasterstein auf den Fuss fällt. Kein richtiger diesmal. Mehr sei hier aber nicht verraten.
Ich habe mich köstlich amüsiert bei der Lektüre von «Stars». Katja Kullmann beschreibt liebevoll, was hinter dem Wunsch nach Sternen und Lebenssinn steckt und dekonstruiert mit fast schon bösartiger Präzision die «Firlefanzökoniomie» des Internets, ihre Tricks und das Businessplangedöns. Herrlich.
Katja Kullmann: Stars. Roman. Hanser, 256 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-28246-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282469
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 08.05.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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