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Stadt der Mörder

Publiziert am 15. Februar 2022 von Matthias Zehnder

1924 ist in Paris vom Ersten Weltkrieg nicht mehr viel zu sehen. Das Leben hat wieder Schwung aufgenommen. Wenigstens an der Oberfläche. Innendrin sind viele Menschen geprägt von den Erlebnissen im Krieg. Unter den Künstlern und Literaten der Stadt macht sich mit dem Surrealismus eine neue Bewegung breit. Und es ist mehr als nur ein neuer Stil: Der Surrealismus ist eine Lebenshaltung, eine Lebenskunst. Unter dem Eindruck von Sigmund Freud und seiner Entdeckung des Unterbewussten stellt der Surrealismus das Traumhafte, Unbewusste und Absurde ins Zentrum. Der Anführer der Bewegung ist André Breton. Seine Anhänger teilen seine Auffassung, dass es keine objektive, äussere Wirklichkeit gibt. Die Texte der surrealistischen Autoren sind phantastisch, skurril, ja absurd. Und ausgerechnet in dieser Gruppe muss Leutnant Julien Vioric im Roman von Britta Habekost in Sachen Mord ermitteln. Ein grösserer Gegensatz als der zwischen den surrealistischen Autoren und dem biederen Kommissar ist kaum denkbar. Jedenfalls auf den ersten Blick nicht. In meinem Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum der Kommissar und der surrealistische Literat mehr gemeinsam haben, als man denkt, und warum es sich lohnt, literarisch ins surreale Paris der 20er-Jahre abzutauchen.

 

«Écriture automatique» heisst die zentrale Technik der surrealistischen Autoren, also: automatisches Schreiben. Ziel war es, das Bewusstsein auszuschalten und direkt und ohne Zensur durch den Verstand aus dem Unterbewusstsein zu schöpfen durch Schreiben in Trance und durch Traumprotokolle. Im Nachwort zu ihrem Roman schreibt Britta Habekost, dass sie dem Surrealismus schon seit vielen Jahren verfallen sei. Begonnen hatte es, als sie 2009 als frischgebackene Kunsthistorikerin als Führerin in einem Museum arbeitete. Das Museum zeigte die Ausstellung «Gegen jede Vernunft» mit Bildern der Pariser und Prager Surrealisten. Dabei begegnete sie auch einem seltsamen Buch: Es heisst «Die Gesänge des Maldoror» und stammt von einem französischen Dichter namens Lautréamont. Dieser Maldoror ist eine Art Erzengel des Bösen, der in verschiedenen Masken eine Schlacht gegen den Menschen und Gott selbst führt. Die Ausstellung und das Buch wurden zum Anstoss einer jahrelangen Beschäftigung von Britta Habekost mit dem Surrealismus.

«Stadt der Mörder» ist das Resultat davon. Es ist ein Kriminalroman, der im Dezember 1924 in Paris spielt. Eine Serie von grausamen Morden erschüttert die Stadt. Der Polizeipräfekt Edouard Vioric ist wütend. Denn nach einigen unbedeutenden Menschen ist jetzt auch der Sohn eines einflussreichen Parisers und eines Adeligen noch dazu ermordet worden. Er überträgt die Ermittlungen deshalb seinem Bruder Julien. Der ist alles andere als glücklich, unter den Argusaugen seines Bruders Mordermittlungen führen zu müssen. 

Bei seinen Recherchen trifft er auf Lysanne, eine junge, mittellose Frau aus der Provinz, die in Paris nach ihrer Schwester sucht. Während des Ersten Weltkriegs hat Lysanne in ihrem Dorf verletzte Soldaten gepflegt und danach ihren Vater. Der ist jetzt tot, deshalb konnte sie endlich ihrer Schwester nach Paris nachreisen. Weil Lysanne die Wohnung verliert, nimmt Leutnat Vioric sie kurzerhand in seiner eigenen Wohnung auf. Er hat gerade keinen Untermieter und deshalb Platz. 

Inzwischen hat Lysanne allerdings die Bekanntschaft von Louis Aragon gemacht, einem jungen Dichter. Aragon führt sie ein in den Kreis der Surrealisten rund um André Breton. Lysanne macht einen steilen Aufstieg vom Mädchen vom Land zur Muse der Surrealisten. Aragon bedichtet sie (und nicht nur das), Man Ray fotografiert sie im Schlaf, was sie allerdings erzürnt. Dank Lysanne findet Leutnant Vioric heraus, dass die grausamen Morde Inszenierungen von Szenen aus «Die Gesänge des Maldoror» sind. Auf Geheiss seines Bruders buchtet er erst mal alle Surrealisten ein und die Polizisten werden fast wahnsinnig beim Verhören der Dichter, weil die wörtlich in einer anderen Realität leben.

Aragon fragt Lysanne: «‹Was hast du denn erwartet, du kleines erschrockenes Schiff?› fragte der zärtlich und vorwurfsvoll zugleich. ‹Liebespaare an der Seine und Blumenverkäufer? Gespreizte Niedligkeit auf den Boulevards mit Akkordeon und die Chance, unendlich glücklich zu werden? Ist es das, was du dir in deinem Tagebuch ausgemalt hast, bevor du nach Paris kamst?›
‹Ich habe nicht diese Zerstörungskraft erwartet, die hier alle Ihnen wohnt. Diese fortwährende Zersetzung der Normalität.›», antwortet Lysanne. (S. 266)

Dabei ist längst nicht mehr klar, was normal ist und was verrückt. Die berauschten Dichter wirken oft viel vernünftiger als der nüchterne Polizeipräfekt oder ein Irrenarzt. 

André Breton erklärt Lysanne persönlich, warum Paris die Stadt der Mörder ist: «‹Paris ist eine Stadt der Mörder, weil hier seit jeher gemordet wird, was das Zeug hält. Hier wurde ein König mitsamt seiner Königin geköpft. Et voilà, Mord an der Monarchie. Und am Ende ermordete sich die Revolution auch noch selbst. Und dann wurde auch noch das Mittelalter ermordet, fragen Sie Baron Hausmann. Darüber hinaus kann man sagen, dass wir Pariser es lieben, Moden erst zu gebären und dann zu strangulieren. Fragen Sie den Reifrock. Und hier sitzen sie nun, Mademoiselle, vor einem ganzen Haufen gewissenlosen Mörder.› Breton erfasste mit einer Geste die Gruppe seiner Freunde. ‹Wir tun alles dafür, um das Althergebrachte aufs Schafott zu zwingen oder es klammheimlich im Dunkeln abzumurksen.›» (S. 132)

Breton und Aragon meinen natürlich die bürgerlichen Konventionen und das Korsett des Verstands, wenn sie von Mord reden. Mit den realen Morden in der Stadt wollen sie nichts zu tun haben. Die Texte der Dichter klingen zwar verrückt, aber sie sind die einzigen im Buch, die mit offenem Herzen und gesundem Verstand durch die Stadt gehen. Das merkt mit der Zeit auch Leutnant Vioric. Aber wer hat dann «Die Gesänge des Maldoror» zum Drehbuch für seine Mordlust gemacht?

Auf der Kriminalroman-Ebene ist das Buch von Britta Habekost ein klassischer Who-done-it, der sich um die Suche nach dem Mörder dreht. Doch das ist nur der Aufhänger für eine wunderbare Hommage an den Surrealismus. Viele der Figuren im Roman sind deshalb real, Breton und seiner Frau Simone zum Beispiel, Louis Aragon, Man Ray und andere Dichter und vor allem auch ihre Gedichte und Sätze. Die Qualität ihrer Sprache hat auch ein bisschen auf die Sprache des Romans selber abgefärbt. Deshalb bereitet die Lektüre des Romans nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich grosses Vergnügen. 

Britta Habekost: Stadt der Mörder. Kriminalroman. Penguin Verlag München, 464 Seiten, 29,90 Franken; ISBN 978-3-328-60195-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783328601951

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 15. Februar 2022, Matthias Zehnder

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