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Skin City

Publiziert am 7. August 2025 von Matthias Zehnder

Sommerzeit – Reisezeit – Lesezeit. In meiner literarischen Sommerserie stelle ich Ihnen jede Woche einen spannenden Krimi vor, der Sie an einen besonderen Ort entführt. Dabei erleben Sie Regionen, die wir sonst nur als Touristen kennen, aus der Perspektive der Einheimischen. Sechs Wochen, sechs Bücher, sechs Reiseziele – vom Mittelmeer bis an den Atlantik, vom Tessin bis nach Berlin. Heute geht es nach Berlin. Hier arbeitet Romina Winter als Kriminalpolizistin. Sie hat sich in den Polizeiabschnitt 45 versetzen lassen. Diese Dienststelle ist zuständig für Steglitz, den nördlichen Teil von Lichterfelde und den östlichen Teil von Dahlem. Romina wollte am Augustaplatz 7 eine ruhige Kugel schieben. Doch damit wird es nichts: In Lichterfelde sorgt eine Serie von Einbrüchen für Unruhe unter den Hausbesitzern. Der Thriller von Johannes Groschupf steht im Buchhandel wohl nicht gerade bei den Regionalkrimis. Trotzdem vermittelt sein Buch ein lebendiges Bild von Berlin. Er erzählt seine Geschichte nicht in klassischer Manier nur aus der Sicht der Ermittlerin, sondern blickt drei Hauptfiguren über die Schultern. Neben Romina Winter, der Kriminalpolizistin mit Roma-Hintergrund, sind das Koba, ein junger Einbrecher aus Tiflis und der Finanzbetrüger Jacques Lippold, soeben aus dem Strafvollzug entlassen. Eigentlich haben Koba, Romina und Lippold nichts miteinander zu tun. Eigentlich. Aber irgendwo in der Vergangenheit ist eine Weiche falsch gestellt worden und jetzt rasen die drei Schicksale wie drei Züge in Berlin aufeinander zu. In meinem 267. Buchtipp, der sechsten Folge meiner Sommerserie, sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach Berlin lohnt.

 

Die Harzer Straße steht vermutlich in den wenigsten Reiseführern über die Stadt Berlin. Es ist eine Strasse mit einer langen Geschichte. Ein Abschnitt der Strasse trennt Neukölln und Treptow voneinander. Hier war während der Teilung von Berlin der Grenzstreifen. 1961 liessen die DDR-Behörden hier die Häuser zwangsräumen, um Platz für die Grenzanlagen zu schaffen. Eine Gedenkstele Ecke Harzer Straße/Bouchéstraße erinnert an diese Zeit.

An dieser Harzer Straße wohnt die Familie von Romina Winter. Siebzehn Jahre zuvor sind sie aus Fântânele gekommen, einem Dorf in der Nähe von Bukarest. Der ganze Ort, fünfhundert Roma, hatte die Sachen gepackt, sich aufgemacht und in Berlin, in der Harzer Straße, Quartier genommen. Romina war damals zehn Jahre alt, ihre Schwester Sanda acht. In Rumänien waren sie auf dem Schulweg bespuckt und verprügelt worden. In der Harzer Straße haben sie ein neues Leben begonnen. Nur die Grossmutter lebt innerlich weiter in ihrer alten Heimat: Sie träumt von Wölfen und von Vampiren.

Romina hat die Harzer Straße längst hinter sich gelassen. Sie, das Roma-Mädchen, Tochter eines Taschendiebs, hat die Polizeischule absolviert. Für die Familie ist sie jetzt die Polizistin. Für die Kollegen bei der Polizei die Roma. Kollege Steinmeier nervt sie immer mal wieder damit, dass sie ihm das Portemonnaie klaut. Wenn Steinmeier sich dann an die Gesässtasche greift, ist sie leer. Dann schaut er Romina an und die wirft ihm grinsend sein Portemonnaie zu. Das Klauen ist ein Spiel zwischen ihnen.

Kein Spiel ist das Klauen für Koba: Der junge Mann ist aus Tiflis über Istanbul und Bukarest, Czernowitz und Lwiw in der Ukraine über die polnischen Grenze nach Berlin gekommen. Hier, in der Stadt, haben zwei Kollegen günstige Häuser beobachtet und ausgesucht und eine Liste erstellt mit den Adressen und den Gewohnheiten der Leute. Es sind über achtzig Häuser. Zusammen mit zwei anderen jungen Männern aus Tiflis soll Koba in den nächsten zwei Monaten die Liste abarbeiten. Einer bleibt jeweils im Auto, zwei dringen ins Haus ein und räumen es systematisch aus.

Toma ging nach oben zu den Schlafzimmern, dort hatten die Frauen ihren Schmuck, meistens in der Kommode, hinter den Strümpfen und zwischen der Unterwäsche. Überall war es das Gleiche, in Tiflis, in Olmütz, in Cottbus, in Berlin: Wenn sie wertvollen Schmuck hatten, lag er hinter der Unterwäsche. Manchmal fanden sie auch was in der Schublade des Schminktischs, doch das war bloß Strass, Modeschmuck, der war nichts wert.
Koba blieb unten im Wohnzimmer. Er wusste, was zu tun war, zog die Schubläden der braunen Schrankwand auf, kippte den Inhalt auf den Boden, fächerte die Mappen, Broschüren, Ordner auf. Die Deutschen waren gut sortiert, das musste er ihnen lassen, gerade hier am Stadtrand. In der dritten Lade fand er einen Stapel Geldscheine, Euros: Fünfziger und Hunderter. Er steckte ihn ein, suchte weiter. Manchmal hatten sie auch Franken und Dollars. Sie legten gern Vorräte an, wie Eichhörnchen, vor allem die älteren Leute. Er hatte auch schon Stapel mit alten deutschen Geldscheinen gefunden, Deutschmark, doch die nahm ihm keiner ab. In der Anrichte daneben: eine Schatulle mit einer Armbanduhr und ein goldenes Dupont-Feuerzeug. Er verstaute sie in seiner Brusttasche. Ein guter Tag. (Seite 9)

Romina und Koba sind beide klassische Diebe, aber sie sind aus biografischen Gründen auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes gelandet. Jacques Lippold ist kein klassischer Dieb. Er ist ein Finanzbetrüger. Sein letzter Coup mit der Rückforderung von Umsatzsteuern hat ihm Millionen eingebracht. Und zweieinhalb Jahre Gefängnis in Tegel.

Er hatte zweieinhalb Jahre lang gesessen, Eisen gepumpt, viel gelesen, im Hof mit den anderen Tischtennis und Handball gespielt, die Wolken draußen, oben im Himmel angeschaut. Die Belegschaft in seinem Trakt wechselte ständig, fast alles Ausländer. Araber, Russen, Türken, Litauer, Sinti und Roma, ein paar Deutsche darunter. Viele zogen weiter nach Heidering, Lippold blieb. Mit den meisten Männern kam er zurecht, und wenn nicht, dann zeigte er klare Kante. Schlug sofort zu, wenn man ihm blöd kam. Schlug hart zu, am besten auf die Zähne, da waren sie alle empfindlich. Das sprach sich herum. Man respektierte ihn, er saß die Zeit im Grunde auf der linken Arschbacke ab, aber es waren zweieinhalb Jahre ohne Bier. (Seite 17)

Romina, die Polizistin, Koba der Dieb und Lippold der Betrüger. Und ein grosser Fehler: Lippold hatte eine Armbanduhr mit dabei im Gefängnis. Eine Patek Philippe Nautilus im Wert von 20’000 Euro. Lippold hatte keine Freunde im Knast. Er hatte nur seine Fäuste. Wenn ihm etwas nicht passte, schlug er zu. Im Gefängnis sassen viele Diebe, wirkliche Künstler. Man besprach, ob es möglich wäre, Lippold die Patek Philippe Nautilus zu entwenden. Man sprach im kleinen Kreis darüber, alle hielten es für unmöglich. Es war eine Sache der Ehre, es zu versuchen.

Mit diesem Diebstahl verheddern sich die Schicksale des brutalen Lippold, des scheuen Koba und der aufrechten Romina miteinander. Es beginnt damit, dass Rominas Schwester Sanda verschwindet.

Sieben Stunden dauerte es, bis Romina ihre Schwester fand. Sieben Stunden lang fuhr sie durch die Stadt, suchte in den Seitenstraßen des Viertels, fragte in Supermärkten und Spätis, schaute in die Hauseingänge und Hinterhöfe der Nachbarschaft, fand sie nirgends, weitete die Suche aus, lief durch die Hasenheide bis zum Südstern, fand sie nicht, fuhr weiter die Straßen ab, und in diesen sieben Stunden brannte die Sonne auf der Haut der Stadt. Die Hitze kroch in die Häuser, nistete im Asphalt, flirrte auf dem Wasser des Landwehrkanals. Romina folgte seinem Lauf hinein in die Stadt, am Halleschen Tor vorbei, am Gleisdreieck und Potsdamer Platz, es war wie immer, wenn Sanda verschwand. Romina war die große Schwester, sie musste sie finden. Zu Mittag aß sie einen Teller Graupensuppe bei Staroske. Sie schwitzte. An den Stehtischen neben ihr löffelten die Leute Erbsensuppe. Romina ließ sich Zeit. Sie wusste nicht weiter. Ihre Mutter rief an: «Was ist denn nun? Wo ist sie?» «Keine Ahnung», sagte Romina. Draußen liefen die Frauen in Tops mit Spaghettiträgern, Shorts und schweren Boots herum. »Wenn ich sie bis heute Abend nicht finde, rufen wir die Polizei.« «Polizei», sagte ihre Mutter. «Du bist selbst Polizei, du musst sie finden. Sie hat wahrscheinlich vergessen, wo sie wohnt. Warst du auf dem Friedhof? Frau Rosenberg haben sie auf dem Friedhof gefunden. Sie ist dement. Sie haben ihr ein Schild gemalt, auf dem steht, wo sie hingehört.» (Seite 21)

Aber Sanda hat nicht vergessen, wo sie hingehört, sie ist verprügelt worden. Romina findet ihre Schwester. Sie liegt blutend, am Bahndamm.

«Deine Schwester hat ein Loch im Kopf?», fragte Steinmeier. Sie fuhren zurück zum Abschnitt. «Meine Schwester hat kein Loch im Kopf», sagte Romina. «Jemand hat sie verprügelt, habe ich dir doch gesagt. Hörst du überhaupt zu?» «Wie ich schon sagte», sagte Steinmeier. «Anzeige. Polizei regelt. So muss das. Oder willst du den etwa selbst zur Strecke bringen?» «Will ich», sagte Romina. «Da kannst du dich drauf verlassen, dass ich den zur Strecke bringe.» (Seite 51)

Die Schicksalszüge von Romina, Koba und Lippold rasen aufeinander zu. Jetzt lassen sie sich nicht mehr aufhalten.

Bemerkenswert am Buch von Johannes Groschupf ist die Art und Weise, wie er Berlin beschreibt. Es ist eine einzigartige Mischung von Szene, Stimmung und präziser Ortsbeschreibung. Er beschreibt keine touristisch-wohlfeile Stadt, sondern das echte Berlin, mit Löchern in der Strasse und Schmutz am Verputz. Und dazwischen finden sich immer wieder Sätze, die aufglühen im Text, Sätze wie dieser:

Romina nahm die Stadtautobahn und sah keine einzige Sternschnuppe fallen. Niemand in Berlin sieht je eine Sternschnuppe. (Seite 199)

Am Ende wird klar: Romina ist selber eine Sternschnuppe. Eine Sternschnuppe, die durch den Himmel über Berlin schiesst – und verglüht.

Johannes Groschupf: Skin City. Thriller. Suhrkamp, 231 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-518-47449-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783518474495

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 07.08.2025, Matthias Zehnder

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