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Seit er sein Leben mit einem Tier teilt

Publiziert am 29. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Kann das gut gehen, wenn ein alter Mann ein Buch schreibt über einen ebenso alten Mann, der zwei jüngeren Frauen begegnet? Es kann, wenn der Autor Bodo Kirchhoff heisst. Kirchhoffs Bücher lesen sich, als wären sie nicht mit Schreibmaschine oder Computer geschrieben, sondern mit Bleistift. Sorgfältig und sanft, irgendwie perfekt und provisorisch zugleich. Hauptfigur seines neuen Romans ist  Louis Arthur Schongauer, ein ehemaliger Filmschauspieler, der in Hollywood auf Nazi-Bösewichte abonniert war. Seit dem Tod seiner Frau lebt er zusammen mit seiner Hündin Ascha zurückgezogen am Gardasee. Die Ruhe wird jäh von Reisebloggerin Frida gestört, die mit ihrem Wohnmobil in der steilen Einfahrt zu Schongauers Grundstück steckenbleibt. Und dann hat sich auch noch eine Journalistin für ein Gespräch angekündigt. Es soll ein Porträt von Schongauer werden – ein Lebensbericht. In meinem 193. Buchtipp sage ich Ihnen, warum ich das Buch zur Lektüre empfehle – am besten auch mit einem Bleistift in der Hand.

Warum lesen Sie ein Buch und sind gespannt darauf, wie es weitergeht? In den allermeisten Fällen liegt die Spannung an der Handlung. Im Kern geht es um eine Frage, die sich durch Weiterlesen beantworten lässt: Schafft es die Heldin, die Welt zu retten? Kommt der Held mit dem Leben davon? Kriegen sie sich? Die Spannung liegt mit anderen Worten am Plot der Geschichte. Das bedeutet auch: Ein Spoiler kann die ganze Spannung zerstören. Das Wort «Spoiler» bedeutet denn auch genau das: «to spoil» heisst auf deutsch «verderben».

Die Romane von Bodo Kirchhoff funktionieren völlig anders. Auch wenn Sie den Plot seiner Romane genau kennen, ändert das nichts am Leseerlebnis. Die Spannung, die Bodo Kirchhoff erzeugt, liegt nicht am Plot, also am grossen Handlungsgerüst, sondern im Kleinen, in der Sprache, in einzelnen Beobachtungen und in Momenten der Begegnung. Das ist auch in seinem neuen Roman so. Die Handlung ist einigermassen schnell zusammengefasst: Louis Arthur Schongauer ist Mitte 70 und lebt allein mit seiner Hündin am Gardasee. Er spürt das Alter.

Seine Frau Magdalena Reinhart war als Tierfotografin bekannter als Schongauer es als Schauspieler je war. Sie ist vor einigen Jahren in der gewaltigen Brandung an einem Strand bei Dakar ums Leben gekommen. Vor seinen Augen ist sie im Meer ertrunken. Schongauer war am Strand geblieben, weil er die wertvolle Fotoausrüstung von Magda bewachen sollte. Bis heute wirft er sich vor, dass er sich nicht auch in die Brandung gestürzt und es nicht wenigstens versucht hat, seine Frau zu retten. Kurz vorher hatte Magda am Strand ein totes Pferd fotografiert. Das Foto mit dem toten Pferd und der Brandung im Hintergrund, dieses letzte Bild seiner Frau, hängt über Schongauers Sofa. Wie eine Selbstbestrafung. Schongauer vermisst seine Frau. Mit seiner Hündin Ascha hat er sich eingerichtet in seiner Einsamkeit und in seiner Trauer über den Tod seiner Frau – und über sein Leben. Das steckt denn auch im Titel des Romans: «Seit er sein Leben mit einem Tier teilt».

Bodo Kirchhoff sagt nicht explizit, dass L.A. Schongauer, wie er sich nannte, alt ist und sich mit seinem Alter abgefunden hat. Er beschreibt es. Den körperlichen Zerfall. Die zu langen Fussnägel. Das Schulterzucken vor dem Spiegelbild. Seit dem Tod seiner Frau geht der ehemalige Hollywood-Bösewicht Schongauer nicht mehr zum Frisör, weil ihm das Geplapper auf die Nerven geht. Er schneidet sich die Haare selbst, so, wie es halt gerade kommt. Es spielt keine Rolle mehr, wie er aussieht. Er hat sich abgefunden mit sich.

Aus dieser eingerichteten Einsamkeit wird Schongauer von zwei Frauen aufgeschreckt. Die Reisebloggerin Frida strandet mit ihrem Wohnmobil in der steilen Auffahrt von Schongauers Grundstück. Am Tag darauf reist die Journalistin Almut Stein an, weil sie ein Porträt über Schongauer schreiben will. Die beiden Frauen konfrontieren Schongauer auf unterschiedliche Art und Weise mit seiner Vergangenheit. Vor allem mit den dunklen Seiten darin. Sichtbar macht das Kirchhoff über die Landschaft: Ein Gewittersturm droht aufzuziehen.

Der jungen Bloggerin begegnet Schongauer zwar zunächst mit einer Pistole in der Hand, weil ihn die durchdrehenden Reifen des Wohnmobils so nerven. Sie ist ihm aber bald sympathisch und weil Ferragosto vor der Türe steht und niemand in Sicht ist, der das Wohnmobil repariert, kann sie zunächst bleiben. Frida ist 24 Jahre alt und jugendlich unbekümmert – Schongauer kann kaum mehr glauben, dass eine Frau so jung sein kann. Sie schliesst sofort Freundschaft mit Ascha, der Hündin, die sonst allen Menschen misstrauisch begegnet. Schongauer sieht es mit gemischten Gefühlen. Einerseits freut er sich, dass Ascha mit Frida längere Spaziergänge machen kann als es mit ihm noch möglich ist – das Herz macht nicht mehr mit. Andererseits mischt sich auch Eifersucht in die Freude. Warum schliesst sich Ascha der jungen Frau so bereitwillig an?

Frida also ist Schongauer sympathisch und tritt quasi neben ihn. Die Journalistin Almut Stein entwickelt sich dagegen zu einem herausfordernden Gegenüber: Sie stellt ihm hartnäckig Fragen. Schnell geht es nicht mehr nur um seine zweifelhafte Karriere als Nazi-Scherge in Hollywood, sondern um den Tod seiner Frau und um seine Ehe. Erst weicht Schongauer aus. Doch die Fragen, die Almut stellt, sind wohl die Fragen, die er sich selbst zu stellen weigert. Und weil Almut selber in einer Ehekrise steckt und ihre Fragen auch als verletzte Frau stellt, öffnet sich Schongauer ihr Schritt für Schritt und blickt gemeinsam mit ihr in die Abgründe seines Lebens.

Auch diese Abgründe macht Kirchoff sichtbar, bevor sie zur Sprache kommen. Schongauer nimmt Almut Stein mit in seinem Boot auf den See zum Schwimmen. Was unter der hellen Sonne Italiens eine lichtdurchflutete Freude sein könnte, wird zum unheimlichen Erlebnis. Die beiden schwimmen an einer Stelle, wo der See besonders tief und dunkel ist. Schongauer spürt beim Schwimmen das kalte Wasser aus der Tiefe an seinen Beinen. So macht Kirchhoff Gefühle sichtbar:

Mehr als drei Bootslängen sind es noch bis zu der Wand, und was er vorher nicht gespürt hat, spürt er jetzt: eine kalte Strömung, wenn er die Füsse nach unten streckt. Nur mit Mühe kann er Almut einholen, vielleicht lässt sie ihn aber auch herankommen – Was mich interessieren würde, sagt sie, als er neben ihr schwimmt, schon nach Atem ringt, während sie weiter mit ruhiger Stimme spricht, ihn auch ruhig dabei ansieht, so als gingen sie spazieren oder lägen gar nebeneinander statt zu schwimmen, ihn fragt, ob er sich je gehasst habe in seinen Rollen und ein anderes Gesicht gewünscht, und Schongauer sieht zu dem Fels, der ihm glatter und steiler erscheint als sonst, als Wand, die auf sie zustürzen könnte, wenn plötzlich die Erde bebt, in dieser Gegend durchaus denkbar. (S. 124)

Die Fragen führen dazu, dass sich ein Abgrund öffnet unter Schongauers Füssen, ein Abgrund, in den er nur nicht stürzt, weil er gerade darüber schwimmt. Die Frage, was die Nazi-Figuren mit ihm zu tun hatten, lässt die Felswand glatter und steiler erscheinen. Schongauer sieht sie gar auf sich herabstürzen, er denkt an ein Erdbeben. Kirchhoff schafft es, Schongauers Gefühle in wenigen, präzisen Worten zu schildern, ohne die Gefühle zu benennen.

Etwas später erholen sich Schongauer und sein Gast auf dem Boot. Es ist still. Auch diese Stille vermittelt uns Kirchhoff in Worten, die sie ganz präsent werden lassen:

Tatsächlich scheint ihnen der See zu gehören, und die Stille ist so umfassend, dass jedes leise Geräusch etwas Überdeutliches hat, der strömende Atem in der Nase, das pochende Herz, oder wenn ein Fisch aus dem Wasser springt, nach einer Mücke schnappt und wieder eintaucht. (S. 131)

Das ist es, was das Buch ausmacht: Präzise Beobachtungen der Natur, von Stimmungen und Gefühlen. Das ist auch der Grund, warum es sich lohnt, das Buch mit einem Bleistift in der Hand zu lesen. Nein, Kirchhoffs Buch ist nicht spannend, weil es einen spannenden Plot bietet. Äusserlich passiert wenig. Beim Lesen öffnen sich aber mit der Zeit die Sinne. Und wenn man das Buch aus der Hand legt, beginnt man selber die Welt genauer zu beobachten. Was kann man sich von einem Buch mehr wünschen.

Bodo Kirchhoff: Seit er sein Leben mit einem Tier teilt. Roman. DTV, 384 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-423-28357-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423283571

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Basel, 29. Februar 2024, Matthias Zehnder

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