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Schattentanz

Publiziert am 25. März 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen, wenn Sie meinen Kanal abonnieren, jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 

Diese Woche: «Schattentanz» von Lukas Hartmann.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Kennen Sie Louis Soutter?

Mir ist, wie Ihnen sicher auch, ein anderer Sutter ein Begriff: Johann August Sutter. Das ist der Baselbieter Abenteurer, der nach Amerika auswanderte und da als «General Sutter» Karriere machte und unter anderem durch Kinderhandel reich wurde. Bei der «Sutter’s Mill», seinem Sägewerk, wurde 1848 Gold gefunden. Dieser Fund löste den kalifornischen Goldrausch aus.

Mit diesem General Sutter hat Louis Soutter rein gar nichts zu tun – er schreibt sich auch anders, mit «ou» nämlich. Dieser Louis-Adolphe Soutter war ein Schweizer Maler aus Morges. Er wird heute zu den wichtigsten Vertretern der Art brut gezählt. Diese «rohe Kunst» meint Bilder, die von Aussenseitern des Kunstbetriebs gemalt worden sind, von Autodidakten, von gesellschaftlich Unangepassten. Auf englisch heisst die «Art Brut» denn auch «Outsider Art» – «Aussenseiterkunst».

Louis-Adolphe Soutter, geboren 1871 in Morges, gestorben 1942 in Ballaigues, war ein Aussenseiter – und ein wichtiger Maler. Bloss merkte das zu seiner Zeit niemand. Soutter wurde in ein Heim weggesperrt und starb vereinsamt.

«Schattentanz» heisst der neue Roman von Lukas Hartmann über das Leben von Louis Soutter.

Mein Name ist Matthias Zehnder – ich gebe Ihnen, wenn Sie meinen Kanal abonnieren, jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 

Diese Woche: «Schattentanz» von Lukas Hartmann.

Für Lukas Hartmann begann die Beschäftigung mit dem Leben von Louis Soutter, wie er selbst im Nachwort seines Buches beschreibt, mit einer Ausstellung: 

«Die grosse Soutter-Ausstellung 2002 im Kunstmuseum Basel war für mich eine Art künstlerisches Offenbarungserlebnis.»

Die «Schweizer Illustrierte» titelte damals: «Entmündigt in den Kunstolymp» und der «Bund» schrieb, die Bilder von Louis Soutter seien «vom Geist des Schmerzes durchdrungen».

Die Bilder, die das Kunstmuseum Basel 2002 zeigte, packten Lukas Hartmann sofort. «Fast ungläubig ging ich damals durch die Säle und fragte mich, wie es möglich sein konnte, dass Soutters Zeichnungen und vor allem die späten Fingermalereien mich derart packten. Es sind wohl die Kraft und die Dringlichkeit seiner tanzenden Figuren, die den Betrachter nicht loslassen.»

In diesen Bildern tanzen tatsächlich die Schatten. Vielleicht sind es die Schatten, die das Leben dieses Louis Soutter verdunkelten.

Louis-Adolphe Soutter, geboren 1871 in Morges, gestorben 1942 in Ballaigues, war der Sohn eines Apothekers und einer Musikerin.

Er hat verschiedene Studiengänge begonnen und abgebrochen: Ein Ingenieurstudium in Lausanne, ein Architekturstudium in Genf, ein Musikstudium am Conservatoire Royal in Brüssel, Kunststudien bei verschiedenen Malern in Genf und Paris. Soutter heiratete eine amerikanische Geigerin, zog in die USA und wurde Leiter des Art Departements am Colorado College. 1903 liess sich seine Frau von ihm scheiden. Soutter kehrte in depressivem Zustand in die Schweiz zurück, führte ein unstetes Leben und brauchte viel Geld. Seine Familie liess ihn deshalb entmündigen und 1923 ins Altersheim von Ballaigues einweisen. Da blieb er bis zu seinem Tod. Er zeichnete und malte – gegen Ende seines Lebens vor allem mit seinen Fingern.

Louis Soutter war sicher ein schwieriger Mann, er hatte es nicht einfach, vor allem mit sich selbst nicht. 

Lukas Hartmann nähert sich seinem Leben aus vielen verschiedenen Perspektiven. Jedes Kapitel ist jeweils aus einer Perspektive geschrieben: aus der Sicht der Mutter Marie-Cécile, der Schwester Jeanne und aus der Sicht von Louis selbst. Das Buch beginnt mit der Perspektive von Cousin Charles-Édouard Jeanneret – besser bekannt als Architekt Le Corbusier. 

Im ersten Kapitel besucht Le Corbusier seinen Cousin im Heim in Ballaigues und fragt Louis, ob er ihm seine Bilder zeigt. Es ist wohl Lukas Hartmann, der da aus Le Corbusier spricht, wenn der erzählt:

«Mir diese Werke so unvermittelt anzuschauen. war eine schockierende, eine völlig unerwartete Erfahrung. Man wird in diesen Liniengeflechten konfrontiert mit eigenen Phantasien, die, nie voraussehbar, Alpträumen gleichen oder paradiesischen Vorstellungen vom Nebeneinander nackter oder halbnackter Körper, man sieht das leere Kreuz und weiss nicht, vollführen die Gestalten ringsum einen Freudentanz oder trauern sie in allen Posen, mit flehend ausgestreckten, übergrossen Händen.»  

Nur die Kapitel aus Sicht von Le Corbusier und jene aus Sicht der kühlen Mutter, Marie-Cécile, sind in Ich-Form geschrieben. Die Kapitel, die über das Leben von Louis berichten, sind in einer distanzierten, dritten Person gehalten und auch die Sicht von Jeanne, der Schwester, bleibt die einer dritten Person, obwohl sie Louis am nächsten stand.

«Sie hat immer wieder den Eindruck, dass Louis sich verpuppt, wenn sie ihm zu nahe kommt.  Aber der ausgeschlüpfte Schmetterling, den sie sich so oft gewünscht hat, der Schmetterling, der seine wunderbar gemusterten Flügel zeigt, entfaltet sich nur in seiner Kunst.»

Nein, im realen leben schlüpft der Schmetterling nicht aus. Er verpuppt sich nur, zieht sich zurück in sein Zimmer im Heim und malt, immer ungestümer. Mit der Zeit legt er sogar den Pinsel weg.

«Er tauchte seinen Zeigefinger ins Tuschfässchen, schüttelte ihn leicht, um ihn abtropfen zu lassen, dann zog er mit ihm eine Linie übers Blatt vor sich, eine zweite, liess eine gehende Figur entsteht; so folgten der ganze Arm mit Hand und Fingern weit besser seinen Absichten, als er es mit einem Stift oder einem Pinsel vermochte, und die Schmerzen, die ihn vorher bis zum Ellbogen gequält hatten, waren weit geringer, er konnte sie sogar vergessen. Diesen Tag hätte er in einem Kalender rot markieren müssen, er war der Beginn einer neuen Schaffensphase.» Ein Schaffen, das zu Lebzeiten von Louis Soutter niemand erkannte, geschweige anerkannte.

Am Schluss des Buchs beschreibt Lukas Hartmann, wie Le Corbusier nach dem Tod von Louis Soutter in dessen Zimmer das Werk des Cousins sichtete: «Den Stapel mit den Fingermalereien liess ich erst auf der Seite, fing dann doch an, sie durchzusehen, und erkannte zu meiner Überraschung plötzlich die Kraft in diesen Figuren, vor denen ich zurückgeschreckt war, ich sag in ihnen das Ungestüme, Barbarische, das Verzweifelte, ich sah die Sehnsucht in ausgestreckten, aber leer bleibenden Armen, in aufwärts gerichteten Gesichtern, die kaum mehr waren als Andeutungen und doch aussagekräftig wie halb entstellte Skulpturen.»

Da spricht wahrscheinlich durch den Architekten Le Corbusier Schriftsteller Lukas Hartmann über die Bilder von Louis Soutter.

Lukas Hartmann ist mit «Schattentanz» ein eindrückliches Portrait von Louis Soutter gelungen. Es ist ein Portrait, das sich, wie die Bilder von Soutter, aus vielen Konturen zusammensetzt. 

«Schattentanz» von Lukas Hartmann ist bei Diogenes erschienen und mein Buch der Woche.

Lesen sie gut.

Lukas Hartmann: Schattentanz. Die Wege des Louis Soutter. Roman, Diogenes, 256 Seiten, 32 Franken; ISBN 978-3-257-07109-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257071092

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 25. März 2021, Matthias Zehnder

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