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Rauch und Schall

Publiziert am 15. November 2023 von Matthias Zehnder

Goethe hat eine Schreibblockade: Nichts geht mehr. Kein Einfall, kein vernünftiges Wort. Die Musen, die doch all die Jahre treue Gefährtinnen waren, verweigern auf einmal jede Unterstützung. Immer verzweifelter steht der Herr Geheimrat an seinem Pult und ringt nach Worten. Dabei geht es keineswegs nur um Literatur. Seine Durchlaucht, Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzog von Weimar, Freund und vor allem Dienstherr von Geheimrat Goethe, hat ein Geburtstagsgedicht für seine Gemahlin bestellt. Nicht weil er seine Frau so sehr liebt, eher im Gegenteil, weil sich mit einem pompösen Gratulationsgedicht beweisen lässt, dass Serenissimus sich seiner Verpflichtungen als Ehegatte und Landesherr bewusst ist. Also hat er bei Goethe ein Gedicht bestellt. Der hat das prompt vergessen und ist, wie ein Pennäler, auch noch in Zeitnot geraten. Charles Lewinsky schildert in seinem neuen Roman auf höchst vergnügliche Weise das Ringen des Dichterfürsten mit dem Federkiel. Dabei eröffnen sich spannende Fragen: Kann ein bestelltes Gedicht Literatur sein? Darf ein Schriftsteller schreiben, um zu überleben? Und wie soll das Genie die Schreibblockade überwinden? In meinem 180. Buchtipp sage ich Ihnen, warum der Roman von Charles Lewinsky nicht nur unterhaltend, sondern auch klug ist.

Der grosse Goethe ist blockiert. Komplett ausgetrocknet. Im Verlaufe der Versuche, seinen Schreibkanal zu entstopfen, sinniert er über erste Sätze nach. Man müsste, überlegt Goethe, die Anfänge berühmter Romane sammeln. Es ist einer von vielen hintersinnigen Querverweisen auf die Literatur und auf das vorliegende Buch, den Charles Lewinsky in seinem Roman unterbringt. Gäbe es einen Preis für den besten ersten Satz, sein Buch käme bestimmt aufs Podest. Der erste Satz des Romans lautet nämlich: «Goethe hatte Hämorrhoiden.» Gut ist dieser Satz nicht nur, weil er überraschend ist. Es geht auch nicht um das Bedienen eines billigen Fäkalhumors. Nein: der Satz fasst das Thema des Buchs im Bild zusammen. Goethe hat Probleme mit seinen Ausscheidungen. Im übertragenen, wie im wörtlichen Sinn. Erst im Nachhinein wird klar, wie präzise der Anfang des Buches das Problem schildert:

«Goethe hatte Hämorrhoiden.
Auf der Rückkehr nach Weimar plagte ihn sein juckender Hintern jeden Tag mehr, die Kutschenfahrt wurde zur endlosen Odyssee, und immer öfter musste er einen Zwischenhalt befehlen, um der fraglichen Körperöffnung mit Ringelblumensalbe eine vorübergehende Erleichterung zu verschaffen. Am meisten litt er, wenn während dieser Aufenthalte die Natur ihr Recht verlangte, denn das bedeutete jedes Mal die nächste blutige Pein, als ob man, dachte er jedes Mal, wie bei manchen vom Hof bestellten Festgedichten etwas aus sich herauspressen müsse, dem die Natur das ius vivendi verweigert. Einmal hatte er, um den eigenen Körper mit scheinbarer Nichtbeachtung zu überlisten, während der schmerzhaften Prozedur ein Distichon erdacht, in dem er den unangenehmen Vorgang mit sehr viel deutscheren Worten beschrieb, als er sie in den Xenien verwendet hätte. Es war bedauerlich, dass er seine Freude über die Brillanz der skatologischen Formulierung mit niemandem würde teilen können. Er hatte die zwei Zeilen nicht einmal, wie er es sonst mit allen erhaltenswerten Einfällen tat, dem mitreisenden Secretarius Geist diktiert; dessen unbewegtes Dienergesicht liess jeden Gedankenblitz verpuffen wie feuchtes Pulver auf der Pfanne.» (Seite 7f.)

Und genau das steht ihm bevor: Er muss ein vom Hof bestelltes Festgedicht aus sich herauspressen, «dem die Natur das ius vivendi verweigert». Denn damals waren Gedichte, was heute Brillant-Armbänder sind, oder Luxussportwagen: Zeichen der Gunst und der Verbundenheit. Und Goethe muss liefern. Denn er ist nicht nur Freund und Ratgeber des Herzogs von Weimar, Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, sondern auch dessen Bediensteter.

Der Herzog «hatte, wie auch schon in den letzten Jahren, zu diesem Anlass bei seinem Hoflieferanten für Geistiges eine festliche Inszenierung bestellt und hatte das so nachlässig und nebenher getan, wie man bei einem Schneider, der einen schon immer zuverlässig bedient hat, neue Hemden ordert. Goethe hatte die Bestellung mit einer Verbeugung quittiert, hatte sogar noch gesagt, es werde ihm eine Ehre und ein Vergnügen sein, ihrer herzoglichen Hoheit eine kleine Freude bereiten zu dürfen.
Und hatte das Ganze dann einfach vergessen.»
Die ‹Rollen bis spätestens drei Wochen vor der Aufführung in Händen haben› – wie sollte das gehen, wo der geforderte Termin keine zweiundsiebzig Stunden mehr entfernt und noch keine einzige Zeile erdacht, geschweige denn zu Papier gebracht war? Aber wenn Serenissimus etwas wünschte, verfing auch die besterdachte Ausrede nicht; seine Huld strahlte nicht in aeternitate, und wenn man ihn enttäuschte, konnte sich seine Gnade sehr schnell in ihr gefürchtetes Gegenteil verwandeln.» (S. 42)

Wie ein Schneider ein neues Oberhemd liefert, muss der geniale Herr Geheimrat ein Gedicht liefern. Bei Lichte besehen ist Goethe also ein Lohnschreiber und die Schreibblockade gefährdet seine Existenz. Das allerdings will der Dichterfürst nicht wahrhaben. Weder will er seine Blockade ernst nehmen, noch sieht er sich als Lohnschreiber. Er, der Schöpfer von «Werther», des «Götz von Berlichingen» und des «Torquato Tasso», ist nicht einfach Schreiber. Er schafft Literatur. Er schafft Geist, der von seiner Hand in Sprache gekleidet wird.

Als sich sein Schwager Christian August Vulpius anerbietet, ihm zu helfen, lehnt Goethe deshalb zunächst schroff ab. Christian Vulpius ist der Bruder seiner Frau Christiane. Er arbeitet als Registrator in der Bibliothek von Weimar und ist damit letztlich Goethe unterstellt. Dieser Vulpius schreibt in seiner Freizeit Romane, manchmal sogar zwei gleichzeitig. Er kann es sich nicht leisten, auf die Musen zu warten, er schreibt, damit er überleben kann. Das Gehalt als Registrator reicht weder vorne noch hinten, Vulpius braucht die Honorare der Verleger und schreibt deshalb Trivialromane. In den Augen von Goethe ist sein Schwager also ein Vulgärliterat, der schreibt, wie andere tischlern oder Hemden nähen. Bloss fuchst den alten Goethe ungemein, dass dieser kleine Schreiberling offenbar keine Probleme mit seinen Körperöffnungen hat und ihm die Worte nur so aus der Feder fliessen. Während er, der Dichterfürst, in nächtelangem Ringen an seinem Stehpult sich kaum ein Wort abzupressen vermag.

Das Leiden des grossen Dichters am Versagen seiner Worte beschreibt Lewinsky als «Stream of Consciousness», als inneren Monolog von Goethe selbst. Dabei kommt es zu einer ähnlich absurden Situation wie im «Brief des Lord Chandos» von Hugo von Hofmannsthal, in dem Hofmannsthal den fiktiven Philipp Lord Chandos den Verlust seiner Sprache beklagen lässt, dies aber in so sprachmächtiger Art und Weise tut, dass sich Inhalt und Form des Textes diametral widersprechen. So verhält es sich auch beim inneren Monolog von Goethe: Er beklagt seine Schreibblockade und den Verlust der Worte so sprachmächtig, dass es nicht nur eine wahre Lust ist, die Klage zu lesen, der gute Goethe widerspricht sich damit natürlich selbst. Hören wir einmal rein in den Klagestrom in Goethes Kopf:

«Es war die Hölle.
Dass ihm die Musen, die doch all die Jahre seine treuen Gefährtinnen gewesen waren, auf einmal jede Unterstützung verweigerten, dass sie so unerreichbar fern schienen, als seien sie ihrerseits auf Reisen und vergnügten sich, jeder Verpflichtung ledig, im Gebirge oder am Meer, dass ihm die Worte, mit denen er sonst spielen konnte wie ein Gaukler mit seinen Bällen, wie tonnenschwere Steinquader erschienen, aus denen er, angetrieben von den Peitschenhieben mitleidsloser Aufseher, mit blossen Händen ein Haus errichten sollte, einen Turm, eine Pyramide, dass es sich anfühlte, als halte ihm ein Dämon – ach was: als hielten ihm tausend Dämonen die Hand fest und hinderten ihn daran, auch nur einen Buchstaben zu Papier zu bringen, dass die Gedanken schneller vor ihm flohen, als er sie erspähen konnte, Rehe, die schon bei der leisesten Ahnung einer Annäherung im Unterholz verschwanden, dass er sich fühlte wie ein Blinder, von dem verlangt wird, dass er eine Landschaft beschreibe, wie ein Stummer, der eine Rede halten soll, dass sein Verstand eingetrocknet schien, zu Staub zerfallen, mumifiziert, dass er sich kaum mehr daran erinnern konnte, wie es einmal gewesen war, als ihm die Formulierungen wie zahme Vögel von selber zugeflogen waren und sich die Reime, magnetisch voneinander angezogen, fast ohne sein Zutun zu Paaren zusammenfügten, dass ihm das Schreiben, das er doch immer so geliebt hatte, heute vorkam wie die Fron eines Galeerensklaven, mit schweren Eisen an seine Ruderbank gekettet, dass er sich selber verloren hatte, kein Dichter mehr, nur noch ein Wechselbalg mit schwerer Zunge – all das war noch nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste, das er nicht zu denken versuchte und doch seine Gedanken beherrschte, war die Angst, dass dieser Zustand ein dauernder werden könnte, eine Krankheit ohne Antidot, dass er die Fähigkeit, mit Worten Welten zu erschaffen, ein für alle Mal verloren haben könnte, so wie er von Menschen gelesen hatte, die von einem Tag auf den anderen ihre Nächsten nicht mehr erkannten oder sich im eigenen Haus verirrten. Dass ihm auf seiner Reise in die Schweiz ausser der einen oder anderen brauchbaren Formulierung nichts Neues eingefallen war, weniger als nichts, dass ihr mit leeren Händen und leeren Verstand zurückgekommen war, ohne einen Plan für ein neues Werk, waren das – er wollte es nicht denken und dachte es doch – die ersten Symptome einer Krankheit gewesen, die jetzt ihren Höhepunkt erreicht hatte?» (S. 45f.)

Wir sehen: Goethe leidet. Und das so sprachmächtig, wie es nur ein Goethe tun – und nur ein Lewinsky darstellen kann. Als nicht einmal Schillers Geheimrezept von den drei faulenden Äpfeln in der Schreibtischschublade die Blockade lösen kann und sich die Notizen von der Schweizerreise nicht als die notierten Geistesblitze, sondern als blosses Katzengold erweisen, greift Goethe zum äussersten Mittel: Er hechtet geradezu über seinen Schatten und lässt sich von seinem Schwager Christian August Vulpius helfen, dem verachteten Lohnschreiber.

Lewinsky stellt damit die beiden ungleichen Literaten nebeneinander: Hier der geniale Dichterfürst, da der Trivialschreiber, der sich mit seinem nächsten Roman eine neue Hose erschreiben muss. Wir sind uns gewohnt, den Blick bewundernd zu Goethe zu erheben und den Trivialschreiber kaum eines Blicks zu würdigen. Doch abgesehen vom materiellen Erfolg trennt die beiden weniger als man denkt. Schreibhandwerk bleibt Schreibhandwerk, ob es nun um «Pandora» und den «Wilhelm Meister» geht, oder um die «Abentheuer des Ritters Palmendos» und die «Geschichte Blondchens».

Dass Goethe nur der Literatur verpflichtet ist und Vulpius ein schnöder Lohnschreiber, unterscheidet die beiden Männer nur auf den ersten Blick. Denn auch Goethe ist auf Lohn angewiesen. Wenn er weiter blockiert bleibt und nicht liefern kann, muss er um seine Stellung fürchten. Der Herzog könnte ihm seine Ämter wegnehmen, die Ehrungen aberkennen und Goethe wieder zu einem Gewöhnlichen machen, einem Handwerker, der in seinem Handwerk versagt hat. Je mehr er sich anstrengt, von diesen Ängsten nicht überwältigt zu werden, desto mehr überwältigen sie ihn. Je mehr er sich einredet, morgen, ausgeschlafen und erfrischt, werde ihm das aufgetragene Werk schon gelingen, desto weniger will sich auch nur ein Wort von ihm formulieren lassen. Es ist schiere Existenzangst: Ihm schnürt sie die Kehle zu, seinen Schwager treibt sie zu trivialschreiberischen Höchstleistungen – wenigstens was die Zahl der ausgestossenen Worte angeht. So wird der Schreibhandwerker Vulpius zum Schreibcoach des Genies.

In seinem Roman rückt Charles Lewinsky Kollege Goethe also ganz schön nah ans Stehpult. Nebenbei erfahren wir so einiges über den Haushalt des Geheimrats, über seine Frau Christiane Vulpius, die er, entgegen aller Sitten und Standesregeln, liebt und mit der er gerne häufiger alleine wäre, insbesondere im Schlafzimmer, was der summende und brummende Haushalt des viel beschäftigten Ministers aber kaum zulässt. Oder über Sohn August, den Lewinsky als quirlig-kluges Kind porträtiert, das gern die Spiele spielt, die Onkel Vulpius für ihn erfindet. Es ist ein mit viel Zuneigung gezeichnetes Porträt von Goethes Haushalt. Lewinsky holt den Herrn Geheimrat von seinem Sockel runter und macht ihn geradezu liebenswert.

Ach ja: Warum heisst das Buch «Rauch und Schall»? Ich kann da natürlich nur mutmassen. «Schall und Rauch» ist ein geflügeltes Wort aus dem «Faust», an dem Goethe im Roman arbeitet. Gretchen fragt Faust nach dessen Einstellung zur Religion. Das ist die «Gretchenfrage». Faust antwortet ausweichend:
«Nenn es dann, wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch»
Faust sagt damit, dass er den Gottesbegriff weit fasst. Er ist nicht klar abgegrenzt. Lewinsky dreht Goethe diese Worte quasi im Mund um und macht daraus «Rauch und Schall». Meine Interpretation: Er sagt damit, dass er Literatur weit fasst und die Schreibhandwerke nicht voneinander abgrenzt. Einen Namen braucht es dafür nicht, Gefühl ist alles. Das Gefühl, das nach der Lektüre von Lewinskys Roman zurückbleibt, ist grosse Heiterkeit. Sein Roman ist genau das, was ich mir auf meinem Nachttisch wünsche: intelligente Unterhaltung.

Charles Lewinsky: Rauch und Schall. Roman. Diogenes, 304 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-257-07259-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072594

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Basel, 15. November 2023, Matthias Zehnder

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