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Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit
Als sie zwölf Jahre alt ist, kratzen ihre Eltern in Minsk ihr ganzes Geld zusammen und schicken Penina Munweis zu Verwandten nach New York. Da soll sie die Schule abschliessen, Medizin studieren und dann andere Familienangehörige zu sich holen. Die russischen Pogrome und der Tod des Vaters machen der Familie jedoch einen Strich durch die Rechnung. Penina, die sich jetzt Paula nennt, bildet sich zur Krankenschwester aus – und sie wird Anarchistin. Im Sommer 1915 lernt sie einen jungen Mann namens David Grün kennen, der sich bald David Ben-Gurion nennt. 1917 heiraten sie, nur wenig später meldet sich David freiwillig bei der jüdischen Legion und zieht als Soldat nach Palästina. Paula lässt er im dritten Monat schwanger zurück. Sie sehen sich erst wieder, als ihre Tochter schon ein Jahr alt ist. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass David seine Frau der Einsamkeit überlässt. Jahre später, nachdem ihr Mann als erster Premierminister von Israel zurückgetreten ist, leben Paula und David in einem Kibbuz in der Negev-Wüste. David erwartet ebenso hohen wie heiklen Besuch: Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, will ihn in der Wüste besuchen. Am Tag vor Eintreffen des deutschen Gasts ist Paula mit der Organisation des Besuchs beschäftigt und erinnert sich an ihr Leben. Das ist die Geschichte von «Paula oder die sieben Farben der Einsamkeit». In meinem 210. Buchtipp sage ich Ihnen, warum das Buch auch dann lesenswert ist, wenn Sie sich nicht für Israel interessieren, sondern für starke Frauen.
Im Mai 1966 reist Konrad Adenauer auf Einladung von David Ben-Gurion nach Israel. Adenauer ist 90, David Ben-Gurion ist 80 Jahre alt. Beide Männer waren die ersten Staatsoberhäupter in ihren Ländern: Adenauer war der erste Bundeskanzler der BRD, David Ben-Gurion der erste Premierminister Israels. Beide waren fast zeitgleich im Amt, beide sind sie schon zurückgetreten. Trotzdem wird der Besuch Adenauers in Israel wie ein Staatsbesuch wahrgenommen und entsprechend kritisiert.
David Ben-Gurion lebt mittlerweile im Kibbuz Sde Boker in der Negev-Wüste. Da will er seinen Freund aus Deutschland empfangen. Seiner Frau Paula gefällt das gar nicht. Sie findet, ihr Mann bezeichne den Deutschen etwas zu nachdrücklich als Freund. Schliesslich hat er ihn bisher nur einmal getroffen, im Waldorf Astoria in New York. Sie selbst hat den ehemaligen deutschen Kanzler noch nie gesehen. Trotzdem weiss sie einiges über ihn. In einer der schlaflosen Nächte hat sie sich ins Arbeitszimmer ihres Manns geschlichen und da das Dossier des Geheimdienstes über Adenauer gefunden. Stempel: Strikt vertraulich. Natürlich hat sie das Dossier sofort gelesen. Sie will wissen, wer dieser merkwürdige Mann mit dem Gesicht eines Häuptlings der Cherokee ist. Am Ende weiss sie viel, kann aber trotzdem nicht sagen, was sie von dem Deutschen halten soll. Sie weiss nur, dass sie ihm misstraut. Und dass dieser Besuch und das damit verbundene Tohuwabohu am falschen Ort und vor allem zur falschen Zeit erfolgt. Denn Paula fühlt sich nur noch erschöpft. Trotzdem bereitet sie den Kibbuz gewissenhaft auf den hohen Besuch aus Deutschland vor.
Das ist die Rahmenhandlung des Buchs von Stephan Abarbanell. Eingestreut in den Kontrollgang im Kibbuz sind Paulas Erinnerungen an ihr Leben. Ein Auslöser dafür ist die Begegnung mit der jungen Kibbuzim Shoshana aus New York. Der amerikanische Akzent und die Jugendlichkeit der Amerikanerin lösen bei Paula Sehnsucht nach dem New York ihrer Jugend aus. Im Gespräch mit Shoshana erklärt sich auch der Titel des Buchs:
Einmal hatte Shoshana gesagt, dass sie bei all ihren wechselnden Empfindungen stets an Farben denken müsse. Jede habe ihre eigene.
«Wie meinen Sie das?»
«Liebe, Trauer, Schmerz, Wehmut, Lust, Neugier, Verzweiflung, Sehnsucht. Was immer Sie nehmen, es gibt eine Farbe dazu.»
«Wie sieht bei Ihnen die Sehnsucht aus?». Diese Frage kam unvermittelt aus ihr heraus, irgendwo aus der Tiefe ihrer Seele, sie hätte sie im Moment des Aussprechens am liebsten schon wieder zurückgenommen, ungeschehen gemacht. Aber Shoshanas helles Lachen unterbrach jeden weiteren Gedanken.
«Die Sehnsucht ist ein tiefes Rot. Fragen Sie mich nicht, warum.»
Sie hatte Mut gefasst.
«Und die Einsamkeit?», wollte sie jetzt wissen.
Shoshana blieb stehen, blickte in die Wüste, als suche sie dort etwas. Die Staubwolke eines in der Ferne vorbeifahrenden Autos stieg in die Luft, die heiße Luft stand reglos, die Berge flimmerten, der Ockerton von Sand und Steinen schien um diese Zeit des Tages wie ausgeblichen. Erst am Abend, wenn die Sonne wieder tiefer stand, würde der kräftige rotbraune Erdton in die Adern der Welt zurück kehren.
Shoshana schien zu zögern.
«Es ist eigenartig», sagte sie.
«Was ist eigenartig?»
«Die Einsamkeit hat als einzige Empfindung mehrere Farben. Ich habe sie immer wieder gezählt. Jetzt bin ich mir sicher: Es gibt sieben Farben der Einsamkeit.»
Für mich gibt es nur Grau, wollte sie sagen. Aber im selben Moment wurde ihr klar, dass es nicht wahr gewesen wäre. Sie kannte die Hoffnung und die Sehnsucht und die Liebe, und sie war sich plötzlich vollkommen sicher, dass diese Empfindungen auch bei ihr verschiedene Farben hatten, vielleicht sogar mehrere, wie bei Shoshana. Sie musste nur etwas warten und Geduld beweisen. Sie hatte es so oft getan, warum nicht noch dieses eine Mal, wo sie doch jetzt wusste, dass es sich lohnte. Vielleicht würde auch das Schwarzgrau der Einsamkeit irgend wann in ein mildes Rot übergehen. Rot wie die Sehnsucht. (Seite 121f.)
Das ist der Kern des Romans und darum herum kreisen die Erinnerungen, denen Paula nachhängt: Sie erinnert sich an die grauen Momente der Einsamkeit in ihrem Leben, die gleichzeitig immer auch rote Momente der Sehnsucht waren.
Den ersten Moment von Einsamkeit erlebt sie, als ihre Eltern sie von Minsk aus nach Amerika schicken. Den schlimmsten erlebt sie in New York, als sie erfährt, dass ihr Vater gestorben ist. Als David 1917, kurz nach ihrer Heirat, ins Militär einrückt und für einen Staat kämpfen will, den es damals noch nicht einmal auf dem Papier gibt, sondern nur in Form eines vagen Versprechens der Briten, der Balfour-Deklaration, ist sie wieder einsam und allein – und wütend auf ihren Mann. Sie ist keine Zionistin und macht das Ben-Gurion gegenüber auch klar. Sie hat kaum jüdische Gefühle, fühlt sich als Amerikanerin und versteht sich als Anarchistin. An einem Staat Israel hat sie kein Interesse. Dieser Konflikt zwischen dem Staat, dem sich ihr Mann verschrieben hat, und dem persönlichen Leben, der schwelt auch Jahre später im Kibbuz noch. David Ben-Gurion erklärt ihr, es sei wichtig, dass er die Geschichten der Vergangenheit erzähle. «Weil nur das nicht vergessen werden kann, was in Geschichten weitergetragen wird. Und weil dieser Staat nicht darauf warten will, dass andere unsere Geschichte erzählen.»
Er sagt zu Paula: «Wir müssen stets die Zukunft im Blick haben, sie mit der Vergangenheit verknüpfen und zugleich von ihr lösen, damit sie sich vor uns entfalten kann. Das, was wir Gegenwart nennen, ist nur ein Werkzeug. Sie hat keinen Wert an sich. Ich arbeite für das, was kommt.» Bevor es ihn wieder davontrug, sagte sie:
«Ich lebe heute, und wer weiß, wie lange noch. Außerdem meinst du mit Zukunft, auch mit unserer Zukunft, immer nur den Staat, den du auf die Beine gestellt hast.»
«Wenn es dem gut geht, wird es auch dir gut gehen.» Mir geht es aber nicht gut, wollte sie antworten. Und dem Staat auch nicht. Im Grunde war sie zu erschöpft, um das Gespräch weiterzuführen. Aber das Gespräch hier abzubrechen, erschien ihr ebenso unmöglich.
Noch einmal nahm sie alle Kraft zusammen.
«Wenn ich von der Gegenwart rede, dann meine ich allein mein Leben.» Ich fühle, wie es mir entgleitet, wollte sie hinzufügen, aber dann hätte sie genauer beschreiben müssen, was dieses Entgleiten genau hieß und was sich da von ihr zu entfernen schien. (S. 129f.)
Es ist ein Konflikt, den viele Paare auf die eine oder andere Weise kennen: Der eine verschreibt sein Leben einer Sache, einem Staat, einer Firma, seiner Kunst, der andere möchte leben, in der Gegenwart, sein eigenes Leben, zusammen mit der Partnerin oder dem Partner. Neben Männern (oder Frauen) wie David Ben-Gurion geht das nicht.
Das tönt nach einem traurigen Buch, das ist es aber überhaupt nicht. Paula Ben-Gurion ist eine eigenständige und eigensinnige Frau, die ihr Leben mit viel Schalk erzählt. Als ihr Mann (gegen ihren Willen) beschliesst, Tel Aviv zu verlassen und in einen einfachen Pavillon in der Wüste zu ziehen, verschenkt sie zum Beispiel die Kleider, die sie bei all den Staatsempfängen getragen hat, ihr «Staatsgemäntel», wie sie es spöttisch nennt. Wenig später ist sie sicher, dass sie am Purimfest einige der Stücke als Verkleidung an Kindern wiedererkennt. Ihre ehemalige Galagarderobe ist jetzt Kostüm für «Clowns, Waldungeheuer, Maikäfer und Schlossgespenster». Zu ihrem Mann sagt sie danach: «Gut so. Da haben die Sachen von Anfang an hingehört.»
Im Kibbuz trägt sie am liebsten weite Hosen aus solidem Stoff oder ein schlichtes Kleid, dazu offene Sandalen. Ohne Socken. Sie findet, der Mensch werde nackt geboren und irgendwann im Leben werde es Zeit, sich daran zu erinnern und sich auf den letzten Gang einzustimmen. Wie pragmatisch sie das Leben mit ihrem berühmten Mann angeht, zeigt die eiserne Regel, die sie pflegt: in ihrer Küche gibt es niemals eine Mahlzeit zur vollen Stunde. Denn die gehört dem Radio. Genauer: den Nachrichten von Kol Israel. So wie Mönche ein Stundengebet einhalten, hört ihr Mann stündlich Radionachrichten.
Alle sechzig Minuten wollte und musste er wissen, ob sein Land in Gefahr war, überhaupt noch existierte und welche Dummheiten seine Nachfolger im Amt wieder einmal begangen hatten (hatten sie doch zuletzt die Gebeine des rechtsnationalen Gegners ihres Mannes, dieses alles-gehört-uns-besessenen Vladimir Jabotinsky nach Eretz Israel geholt und ihn mit Staatspomp und Steuergeldern beigesetzt. Das verhieß für die Zukunft des Landes nichts Gutes). Auch wenn er sich immer noch an den Stundentakt der Nachrichten gefesselt sah, das kleine, neue Gerät machte ihn immerhin zum Souverän über den Ort. Wenn die Batterie geladen und der Empfang ausreichend gut war, konnte er mit dem krächzenden Kasten vor dem Bauch durch den Kibbuz oder um ihn herumlaufen, und nichts würde ihm entgehen. Nicht einmal der Weltuntergang. Und sie konnte in aller Ruhe aufräumen. (Seite 37)
Das ist es, was sie am Tag vor dem Besuch von Konrad Adenauer macht: Paula räumt auf. Im Kibbuz, in ihrem Haus und in ihren Erinnerungen. Erinnerungen, die viele Farben haben. Aber immer sind auch Farben der Einsamkeit darunter. Farben, die jetzt zu ihr gehören, wie alle Erinnerungen ihres Lebens. Das sie überstanden hat, weil sie auch im «Staatsgemäntel» die pragmatische, zupackende Krankenschwester blieb. Ich habe das Buch nach der Lektüre nur ungern weggelegt. Paula ist eine Figur, die mir starken Eindruck gemacht hat. Eine Frau, an die ich mich gerne erinnere. In allen Farben.
Stephan Abarbanell: Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit. Blessing, 240 Seiten, 34.9 Franken; ISBN 978-3-89667-757-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783896677570
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Basel, 26. Juni 2024, Matthias Zehnder
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