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Nach Manhattan

Publiziert am 28. Juni 2023 von Matthias Zehnder

1907 reist Alcide Chiquet aus dem kleinen Dorf Cornol im Schweizer Jura über Paris und Le Havre nach New York: Er will sein Glück in Amerika suchen. Aber nicht als Goldsucher oder Farmer, sondern als Diener: Alcide will im Haushalt eines reichen Mannes arbeiten. Und das gelingt ihm tatsächlich: Alcide Chiquet wird der persönliche Bedienstete von John D. Rockefeller, Jr., dem Sohn des damals reichsten Menschen der Welt. Damit wechselt er vom kleinen Selbstversorger-Hof mit drei Kühen in die luxuriöse Welt der Rockefellers mit Palästen in Manhattan, Pocantico Hills und Seal Harbor – ein grösserer Kontrast ist kaum denkbar. Bernhard Chiquet erzählt die Geschichte seines Grossonkels mit viel Empathie – und wohl auch mit viel Phantasie. Denn die Geschwister Chiquet, die in die USA auswanderten, haben nur wenig Schriftliches hinterlassen. Entstanden ist ein liebevolles Buch über ein Leben, das stellvertretend für jene Zeit steht, in der Schweizerinnen und Schweizer ihr Glück in Amerika suchen mussten, weil der Boden zu Hause zu wenig hergab. In meinem 160. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was das Buch über die Auswanderer aus dem Jura so lesenswert macht.

Alcide Chiquet ist der zweite Sohn eines Kleinbauern in Cornol, einem kleinen Dorf bei Porrentruy in jenem Teil des Kantons Jura, der nach Frankreich hineinragt. Kurz: am Ende der Welt. Sein älterer Bruder hat sich als Zollbeamter nach Basel abgesetzt. Alcide fürchtet, dass es an ihm liegen wird, den kleinen Hof zu übernehmen, dass er also Zeit seines Lebens eingesperrt sein wird in dem kleinen Bauernhaus im Jura am Ende der Welt. Er beschliesst deshalb, nach Amerika auszuwandern. Noch einmal melkt er mit dem Vater die Kühe, rollt die Milchkanne zu Pierre, der sie mit einem kleinen Fuhrwerk in die Laiterie bringt. Noch einmal setzt er sich an seine Werkbank im ersten Stock, wo er bis vor kurzem arbeitete, als die Uhrenindustrie noch Heimarbeit gab. Am anderen Morgen steht er in aller Herrgottsfrühe auf. Maman taucht den Daumen ins Weihwasserbecken und malt ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. «Gesegnete Reise», murmelt sie, und dann noch «Sei schlau!». Alcide berührt mit der Hand ihre Schulter, dreht sich um und geht. Weg aus dem Bauerndorf im Jura, hinaus in die Welt, zuerst nach Paris, dann Le Havre und mit dem Dampfer nach New York. Es ist eine weite Reise – so weit weg von zu Hause können wir heute gar nicht mehr sein.

Bernhard Chiquet erzählt die Geschichte seines Grossonkels, der nach New York auswanderte, in schlichten Worten. Er kommentiert nicht und das ist auch nicht nötig: Die Erlebnisse sprechen für sich. Die lange Überfahrt, das Ankommen in New York. Wie Alcide in einem New Yorker Club das Handwerk des Dieners lernt. Die Suche nach einem Vermittler, der Bedienstete an reiche Familien vermittelt. Bei Robert Henry McCurdy, einem Banker, macht er erste Schritte als persönlicher Diener. Er begegnet John D. Rockefeller jr. und macht offenbar einen guten Eindruck auf den Magnaten. Als Rockefeller seinen deutschstämmigen Diener entlässt, weil der im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zu enthusiastisch für Deutschland Partei ergreift, tut sich für Alcide die Chance seines Lebens auf: Von nun an arbeitet er als persönliche Diener in der reichsten Familie der Welt.

Nicht nur Alcide suchte sein Glück in Amerika. Seine ältere Schwester Joséphine war die erste, die auswanderte. Die jüngere Schwester Julia folgte Alcide, arbeitete zunächst ebenfalls als Kammerzofe und Kindermädchen bei reichen Leuten und heiratete dann einen Maschineningenieur französischer Abstammung, einen Erfinder. Und alle sind sie zurückgekehrt nach Cornol in den Schweizer Jura. Alcide als erster. 1917 reise er zurück in die Heimat, mit einem Kriegsschiff, wie man sich erzählt. Er übernahm doch noch den elterlichen Hof, unterstützte die Maman und den kranken Papa. Warum, weiss man nicht. Bernhard Chiquet stellt sich vor, dass Alcide Sehnsucht hatte nach den Tieren. Dass er wieder mit den Händen arbeiten wollte. Vielleicht wurde auch seine beginnende Schwerhörigkeit zum Problem im Haushalt der Rockefellers. Joséphine folgte, als der Vater starb. Nur Julia blieb und erlebte die wilden 20er-Jahre in New York.

Als Kind hat Autor Bernhard Chiquet seinen Grossonkel noch erlebt: Bei Besuchen im jurassischen Cornol ist er ihm begegnet.
«‹Ah, da ist ja Long’Alcide!›, rief mein Vater aus. In meinen Kinderohren klang das nach Abenteuer, ein amerikanischer Name aus einer Geschichte von Karl May, eines Helden wie Old Firehand, Dick Hammerdull, Hobble Frank und Long’Alcide, warum nicht? Tatsächlich war dieser Name eine in der Gegend übliche Verkürzung vom französischen l’oncle Alcide. An dieses erste Mal, als ich nach Cornol mitgenommen wurde, kann ich mich erinnern, da war ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Mit meinem Vater kam ich von der Kirche her, und als wir beim Haus in der Gabelung der Dorfstrasse nach rechts in das Strässchen La Rasse einbogen, begriff ich, dass hier meine Verwandten wohnten. Der Grossonkel war am Holzspalten vor dem Scheunentor.» (S. 7)

Abgesehen von einigen schablonenhaften Sätzen war in der Familie aber kaum etwas bekannt über die Zeit der Geschwister Chiquets in Amerika. Bernhard Chiquet fragt sich deshalb, warum niemand in der Familie Long Alcide die Fragen gestellt hat, die ihn beschäftigen. Wie der junge Mann aus der französischsprachigen Schweiz es geschafft hat, sich für den amerikanischen Millionär interessant oder gar unentbehrlich zu machen. Wann er genau im Hause Rockefeller angestellt war. Welche Ereignisse ihn damals bewegt hatten. Welche Aufgaben er für Rockefeller übernahm. Wie sein Verhältnis zum US-Tycoon war. Der war damals extrem umstritten, weil er Soldaten gegen streikende Arbeiter in einem Kohlebergwerk antreten liess. Wie hat der Millionär den Diener aus der Schweiz behandelt? Über was haben sie gesprochen? Was hat Alcide verdient? Von all dem hat in der Familie nie jemand gesprochen. Es blieb bei dieser pauschalen Aussage: «Long Alcide war Kammerdiener bei Rockefeller Junior.»

Mit seinem Buch hat Bernhard Chiquet die Erinnerungslücken gefüllt: So könnte es gewesen sein. Se non e vero, e ben trovato: Und wenn es nicht stimmt, dann ist es gut erfunden. Entstanden ist daraus ein lesenswertes Buch, das im Ton so liebevoll und bescheiden auftritt wie die Protagonisten aus dem französischsprachigen Jura, inhaltlich aber reich ist an Wissen und Anekdoten. Spannend.

Bernhard Chiquet: Nach Manhattan. Zytglogge-Verlag, 424 Seiten, 36 Franken; ISBN 978-3-7296-5116-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729651166

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Basel, 28. Juni 2022, Matthias Zehnder

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