Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Das Grab in den Schären
Letzter Tipp: Schweigendes Les Baux

Mord in Sussex

Publiziert am 22. Juli 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Mord in Sussex» von John Bude.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Es ist Sommer – naja, wenigstens dem Kalender nach. Wir alle haben dringend Urlaub nötig, Reisen aber ist nach wie vor nicht ganz einfach. Ich entführe Sie deshalb diesen Sommer mit einer Reihe von Buchtipps an Sehnsuchtsorte: Machen Sie mit mir wenigstens im Kopf Ferien mit Krimis, die in besonders schönen Gegenden spielen. Heute geht die Reise nach Sussex in England.

Die Küste von Sussex mit den Seven Sisters im Südosten von England. © Tadeusz Ibrom – stock.adobe.com

Sussex liegt im Südosten von England. Es ist eine der 39 traditionellen Grafschaften des Königreichs. Am bekanntesten ist wohl die Stadt Brighton, das grösste englische Seebad. Spektakulär sind in Sussex die weissen Kreidefelsen, die steil ins Meer abstürzen, die South Downs. Die weissen Felsen sind auch bekannt von Bildern und Gemälden. Am berühmtesten sind die Seven Sisters, eine Formation mit sieben Erhebungen in Sussex.

Ganz in der Nähe spielt «Mord in Sussex», ein Kriminalroman von John Bude, der in den 1930er-Jahren spielt und 1936 erschienen ist, aber erst jetzt auf Deutsch übersetzt wurde. Hier, in der Nähe der kleinen Ortschaft Washington, liegt Chalklands, das Bauernhaus der Brüder John und William Rother. Auf den kurzrasigen Hängen der Downs lassen sie Rinder grasen. Sie brennen aber auch Kalk. Hinter ihrem Haus befindet sich ein Kreidesteinbruch, an einer Seite des Bauernhauses stehen drei Kalköfen, wo die Rothers und ihre Arbeiter die herausgebrochene Kreide zu Kalk brennen.

Die beiden Brüder John und William Rother sind extrem unterschiedlich. Wer die beiden nicht kennt, würde sie nicht für Brüder halten. John ist rau, aber herzlich, ein stämmiger, rotgesichtiger Mann, der sich gewohnt ist, mit beiden Händen zuzupacken. William dagegen ist schmal, hoch aufgeschossen, empfindsam und ein Theoretiker. Die beiden Brüder sind nicht nur sehr unterschiedlich, sie streiten auch ständig. Und die Stimmung wird nicht besser, als William die schöne Janet Waring heiratet und Janet, weil William sich kein eigenes Haus leisten kann, bei den Brüdern einzieht. So atmen alle drei etwas auf, als John sich eines Sonntags ins Auto setzt und sich in den Urlaub verabschiedet.

Doch schon einen Tag später findet ein Schmetterlingssammler auf den Downs das Auto von John Rother. Windschutzscheibe und Armaturenbrett sind zerschmettert, die Sitze mit Scherben übersäht. Neben dem Auto liegt die Mütze von John Rother. Sie ist auf der Innenseite voller Blut. Auch auf dem Trittbrett des Wagens finden sich Blutspuren, ebenso auf der Polsterung des Fahrersitzes und auf dem Lenkrad. John Rother ist nicht auffindbar. Was ist mit ihm passiert? Hatte er einen Unfall? Oder wurde er gar ermordet? Es ist ein Fall für Superintendent William Meredith.

John Bude war das Pseudonym von Ernest Carpenter Elmore. Der ist 1901 geboren und arbeitete als Produzent und Regisseur am Theater. 1933 heiratete er, zog nach Sussex, where he became a full-time writer, wie es in seiner Biographie auf englisch so schön heisst. Bis zu seinem Tod 1957 schrieb er 30 Kriminalromane, die er unter Pseudonym veröffentlichte. In den meisten Romanen leitet William Meredith die Ermittlungen. 

«Mord in Sussex» ist einer der ersten Krimis von John Bude – und schon hier ermittelt der unermüdliche Superintendent Meredith. Die Indizien sind zunächst mehr als nur mager für eine Mordermittlung – insbesondere fehlt dem wackeren Polizisten eine Leiche. Als jedoch bei Bauarbeiten Maurer einen Knochen im Kalk finden, wird Meredith hellhörig und lässt den Knochen von einem Anatomieprofessor begutachten, der in der Gegend wohnt. Der stellt fest: Es ist ein menschlicher Oberschenkelknochen. Abgesägt und angebrannt, aber definitiv menschlich. 

Meredith lässt abklären, wer den Kalk geliefert hat – es ist Chalklands, die Kalkbrennerei, die John Rother, dem Opfer, gehört hat. Meredith lässt die Auftragsbücher konfiszieren und den Kalk sichern, der in den letzten Tagen ausgeliefert worden ist. Tatsächlich finden sich in fast allen Lieferungen Knochenteile, die der Anatomieprofessor Stück für Stück zu einem Skelett zusammensetzt: dem Skelett eines Mannes. Offensichtlich hat Meredith doch noch die Leiche von John Rother gefunden. Aber wie kamen die Leichenteile in den Kalkofen? Und warum wurde John Rother ermordet? Meredith lässt nicht locker und trägt, Pfeife schmauchend und von einem grumpeligen Fahrer chauffiert, Indiz um Indiz zusammen, bis sich die Geschichte erklärt und der Mörder gefunden ist.

«Mord in Sussex» ermöglicht nicht nur geographisch eine Reise in die sanften Hügel von Sussex, sondern auch eine Zeitreise in die 30er-Jahre, als Autos breite Trittbretter hatten, Strassen die meiste Zeit noch staubig und leer waren und die Menschen Zeit hatten für Klatsch und Tratsch, für eine Pfeife und zwischendurch auch mal ein Bier. John Bude erzählt die Geschichte genau so: in ruhigen Worten. 

S. 93 «Nachdem er den Schuh ins Waschhaus zurückgebracht hatte, beschloss Meredith, zum Chanctonbury Ring  und wieder zurück zu laufen, bevor er zu Rode nach Findon fuhr. Er wollte nachdenken und theoretisieren, und den Rhythmus eines gleichmässigen Gangs hatte er einer geistigen Tätigkeit schon immer als zuträglich empfunden. Vielleicht hatte er diese Angewohnheit entwickelt, als er in Cumberland stationiert war, wo eine lange Wanderung übers Moor noch jedes Mal eine Klärung der Gedanken bewirkt hatte. Und so stopfte er seine Pfeife, pries den Umstand, dass er bei diesem heissen Wetter in Zivil war, und machte sich, nachdem er die Kreidegrube hinterm Haus umgangen hatte, an den Aufstieg durch die reifenden Getreidefelder. Schon bald erreichte er einen Drahtzaun, darin eingelassen ein knarrendes Eisentor, hinter dem die braun-grüne Flanke des Hügels in einem herrlichen Schwung anstieg. Während er hinanschritt, tauchte zu seiner Linken ganz allmählich das Dorf Washington auf, tief in sein waldiges Tal geduckt. Dahinter hielt eine Windmühle über einer roten Sandgrube Wache, während der nördliche Horizont mit dem gezackten Kamm eines Föhrenwalds gesäumt war. Es war ein grossartiger Ausblick, bis weit in die Ferne und dennoch irgendwie vertraut; die Felder wie ein Schachbrett angelegt, dazwischen hier und da einzelne Scheunen und Gehöfte mit roten Ziegeldächern und gelegentlich eine baumgesäumte Strasse, die sich durch die Weiden wand. Meredith seufzte.»

Das Resultat dieser ruhigen Erzählweise ist erstaunlich: Nach ein paar Seiten schlägt der Puls beim Lesen langsamer, man atmet ruhiger und gibt sich dem gemächlichen Lauf der Geschichte in den Hügeln von Sussex hin. Richtig erholsam.

John Bude: Mord in Sussex. Kriminalroman. Klett-Cotta, 288 Seiten, 22.90 Franken; ISBN 978-3-608-96474-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608964745

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 22. Juli 2021, Matthias Zehnder

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/