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Mord in Montagnola

Publiziert am 18. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Nach vielen Jahren im Ausland kehrt Moira Rusconi zurück nach Montagnola. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und braucht eine Auszeit – und als Übersetzerin kann sie so gut wie überall arbeiten. Also besucht sie endlich mal wieder ihren Vater Ambrogio, der in dem kleinen Tessiner Dorf lebt. Der freut sich nicht nur über den Besuch seiner Tochter, er ist auch froh darüber. Er hatte nämlich kürzlich einen Schlaganfall. Doch der Friede im Dorf währt nicht lange. In einer Nevèra, einem historischen Eiskeller, wird ein Toter gefunden. Weil Deutschschweizer die Leiche gemeldet haben, wird Moira als Übersetzerin angeheuert. Bald übersetzt sie nicht mehr nur, sondern sucht selbst nach der Wahrheit. In meinem 104. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, für ein paar Stunden in den Roman abzutauchen und welche Rolle Hermann Hesse dabei spielt. 

 

Montagnola ist ein kleines Dorf südwestlich von Lugano, hoch über dem Luganersee. Es wäre wohl eines von vielen Tessiner Dörfern, wenn nicht Hermann Hesse über 40 Jahre lang hier gelebt hätte. In Montagnola hat er seine bekanntesten Werke geschrieben, darunter «Siddhartha», «Narziss und Goldmund» und das «Glasperlenspiel». Natürlich ist dem Dichter und Nobelpreisträger im Dorf ein eigenes Museum gewidmet und natürlich wird Hesse vom Dorf touristisch, sagen wir, bewirtschaftet. Ambrogio Rusconi rümpft darüber nur die Nase: Dem emeritierten Literaturprofessor ist das zu blöd. Staat Hesse zu feiern, liest er lieber die Werke des Dichters. Ambrogio lebt in Montagnola in einem grossen Haus mit fünf Katzen, die alle nach Schriftstellerinnen benannt sind. 

Moira Rusconi hat vom Vater die Liebe zur Sprache geerbt. Aus Abenteuerlust ist sie in Lima gelandet und hat für Hilfsorganisationen Übersetzungsarbeit gemacht. Mittlerweile lebt sie längst wieder in Deutschland und arbeitet als Übersetzerin. Allerdings nicht von literarischen Werken, sondern von Betriebsanleitungen. Sie hat eine Tochter, hat sich aber soeben von ihrem Mann getrennt. Deshalb und weil Papa Ambrogio einen leichten Schlaganfall erlitten hat, gönnt sie sich eine Auszeit im Elternhaus in Montagnola. Sie war seit Jahren nicht mehr im Tessin und geniesst die Ruhe im kleinen Dorf im Haus des Vaters mit dessen Katzen.

«Na, meine Süsse, hast du Hunger?» Ambrogio beugte sich zu der grauen Kartäuser hinunter, die ihm um die Beine strich. Nacheinander fanden sich auch die anderen Katzen ein und miauten im Quartett, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen.
Moira stand auf. «Ich kann sie füttern, ruh du dich ein bisschen aus.» Ambrogio sagte ihr, in welchem Schrank das Katzenfutter aufbewahrt wurde, und Moira füllte nach seiner Anweisung die Steingutschalen. Erst als jede Katze vor einem Napf kauerte, kehrte Ruhe ein.
«Für wen ist der fünfte Napf?»
«Für Elfriede. Sie ist ziemlich scheu und kommt bestimmt nachher, wenn die anderen gegangen sind.»
«Elfriede? Süsser Name!»
«Süss? Etwas Respekt vor diesen einzigartigen Kreaturen, bitte! Die da sind: Herta, Ingeborg, Luise – und Marlen mit einem E. Ambrogio deutete mit dem Zeigefinger auf jede der Genannten. Herta war die Graugetigerte, Ingeborg die grosse Schwarze, Luise der rote Blitz und Marlen die blaugraue Kartäuser.
«So hast du deine Lieblingsautorinnen immer um dich. Sind es wirklich alles Kätzinnen?»
«Selbstverständlich», antwortete Ambrogio ernst. «Ich dulde doch keine Konkurrenz neben mir!» (S. 27f.)

Doch die Ruhe im Haus und im Dorf währt nicht lange. In einer Nevèra wird ein Toter gefunden. Eine Nevèra, das ist so etwas wie ein unterirdischer Turm: Nur die Turmspitze schaut über den Boden, der Rest des Turms befindet sich unter der Erde. Denn eine Nevèra ist ein Eiskeller: Hier wurde, bevor es Kühlschränke gab, Eis gelagert. Der Tote war ganz offensichtlich nicht freiwillig in der Nevèra: Er war angekettet. Ein Fall für die Kriminalpolizei. Da arbeitet Luca Cavadini als leitender Rechtsmediziner. Er bittet Moira um ihre Unterstützung als Dolmetscherin, weil die Übersetzerin der Kantonspolizei krank ist. Moira springt gerne ein. Erstens verspricht die Untersuchung spannend zu werden und zweitens stellt sie ein angenehmes Flattern im Bauch fest: Luca Cavadini war ihre erste Liebe. Aber das ist lange her. Oder?

Es entwickelt sich eine spannende Geschichte im Hessedorf, die Autorin Mascha Vassena mit viel Liebe zum Detail erzählt. Ihre Perspektive auf das Tessin ist interessant: Denn einerseits ist es die Sicht einer Hamburgerin auf die Südschweiz, andererseits kennt sie sich in der Umgebung von Lugano wirklich gut aus, weil sie seit 2004 mit ihrer Familie da lebt. Es ist diese Mischung aus fremd und doch zu Hause, die sie mit ihrer Protagonistin Moira Rusconi teilt. 

Spannend wird es insbesondere deshalb, weil Moira Rusconi sich nicht aufs Übersetzen beschränkt. Sie beginnt selbst, sich im Dorf umzuhören. Der Tote war ein beliebter junger Mann, er hat bereitwillig jedem geholfen. Andererseits scheint er auch bereitwillig jede Gelegenheit genutzt zu haben, etwas zu Geld zu machen. Ob es ihm gehörte oder nicht. Zimmerwirtin Agnes Tobler vermisst Originalbriefe von Hermann Hesse. Davon abgesehen kommt der berühmteste Bürger von Montagnola im Buch übrigens kaum vor. Ein Bauunternehmer im Ort hat dem Ermordeten offenbar grundlos Geld überwiesen. Die Trauer von Susanne, der Lebensgefährtin des Opfers, scheint echt zu sein. Doch da gibt es noch eine andere junge Frau, die verliebt war in das Opfer. Und die ist erst 16 Jahre alt. Mit anderen Worten: Der Krimi nimmt Fahrt auf und Moira steckt plötzlich mittendrin.

Trotz spannendem Kriminalfall: Das Buch ist mit leichter Hand geschrieben. Zähneklappern wird sich trotz interessanter Wendungen und nächtlicher Suchaktionen nicht einstellen. Es ist mit anderen Worten ein richtiger Sommerkrimi, der sich auch für Leser:innen eignet, die sonst mit Krimis nichts am Hut haben. 

Mascha Vassena: Mord in Montagnola. Moira Rusconi ermittelt. Ein Tessin-Krimi. Eichborn-Verlag, 368 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-8479-0102-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783847901020

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 18. Mai 2022, Matthias Zehnder

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