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Mord in der Strasse des 29. November

Publiziert am 26. April 2022 von Matthias Zehnder

Auf den ersten Blick ist der neue Krimi von Alfred Bodenheimer eine unterhaltsame Geschichte aus Jerusalem. Die Stadt befindet sich im Lockdown der Corona-Krise, die Menschen dürfen ihre Wohnungen kaum noch verlassen. Da werden beim abendlichen Spaziergang mit ihrem Hund die Knesset-Abgeordnete Ruchama Wacholder und ihr Ehemann Gil auf der Strasse vor ihrem Haus erschossen. Polizeipsychologin Kinny Glass geht der Mord nahe: Sie und ihr Ex-Mann waren mit dem Paar befreundet. Jetzt ist sie über ihre Polizeiarbeit indirekt auch in die Ermittlungen eingebunden. Doch Alfred Bodenheimer, Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel, erzählt nicht nur eine süffige Krimigeschichte. Man erfährt ein seinem Buch viel über den Alltag in Israel im Allgemeinen und in Jerusalem im Speziellen. Warum der Kern der Geschichte hochpolitisch ist und sich als scharfe, gesellschaftliche Kritik an Israel lesen lässt, das erkläre ich Ihnen diese Woche in meinem 101. Buchtipp.

Die Corona-Pandemie hat Israel mehrmals stark getroffen. Nach anfänglichem Zögern rief die Regierung unter Premierminister Netanjahu im März 2020 den Notstand aus und brachte das öffentliche Leben in Israel schrittweise fast komplett zum Stillstand. Zu diesem Zeitpunkt setzt die Geschichte ein. Die Stimmung ist düster, viele Menschen sind verzweifelt. Das bekommt auch Kinny Glass zu spüren. Dieser Textausschnitt vom Anfang des Buches bringt die Stimmung in Israel gut auf den Punkt:

«Die letzten Wochen ihrer fast vollständigen Einsamkeit hatten bei Kinny Glass Spuren hinterlassen. Natürlich war sie dauernd über Videoplattformen und per Telefon mit allen möglichen Kolleginnen und Kollegen im Gespräch, und in einzelnen Fällen rief man sie auch persönlich dazu. Vor einigen Tagen hatte sie einen verzweifelten Familienvater am Sprung vom Balkon seiner Wohnung in einem der moderne Hochhäuser von East Talpiot hindern müssen. Sie hatte es am Ende geschafft und war nach vielen Stunden völlig erschöpft nach Hause gefahren.
Bis vor kurzem hatte der Mann gut gelebt, hatte seiner Familie erst vor wenigen Jahren die hübsche Vierzimmerwohnung im vierzehnten Stock gekauft, sie war sein ganzer Stolz. Doch dann kam der seger, der Lockdown des ganzen Landes. Seine Frau wurde von dem Kleidergeschäft, in dem sie arbeitete, sofort entlassen – da sie erst gut zwei Monate dort arbeitete, hatte sie kein Anrecht auf Arbeitslosengeld –, und er musste sein Geschäft für Souvenirs und Ritualgegenstände schliessen. Die Politiker hatten vollmundig Hilfe für alle wirtschaftlich Betroffenen angekündigt, doch die ohnehin schon berüchtigte Bürokratie der Ministerien und der Nationalen Versicherungsanstalt erwies sich als völlig überfordert von dem Ansturm, der sogleich einsetzte. Überhaupt war ganz unklar, ob, was und wieviel einem wie ihm überhaupt zustehen würde, während sich die Rechnungen unbeirrt und erbarmungslos auftürmten. Er hatte keinen Ausweg mehr gesehen. Auch Kinny hatte ihm keinen aufzeigen können.» (S. 5f.)

Sie schafft es zwar, den Mann vom Sprung in die Tiefe abzuhalten, sieht aber, wenn sie ehrlich ist, weder für ihn noch für sich eine Perspektive in diesem Lockdown. In dieser düsteren Stimmung heulen nachts auch noch Polizeisirenen: Ruchama Wacholder, Abgeordnete im Knesset, also im israelischen Parlament, und ihr Ehemann Gil sind auf dem Hundespaziergang erschossen worden. Gassi-Gehen mit dem Hund und Joggen sind die einzigen beiden Gründe, warum man noch vor die Haustür treten kann – für das Ehepaar Wacholder endete der Spaziergang tödlich. 

Bevor sie mir jetzt sagen, dass Sie die düstere Stimmung aus dem Lockdown selbst noch zur Genüge kennen – keine Bange: das Buch beginnt zwar in dieser Stimmung, es bleibt aber nicht dabei. Denn Kinny ist eine energische Frau, die das Leben beim Schopf packt. Im Lockdown ist ihre Tochter Mia wieder nach Hause gekommen, die beiden leben deshalb mehr schlecht als recht zusammen. Kinny ist zwar schon länger geschieden, kann sich aber nicht recht entscheiden, ob sie nun eine neue Beziehung eingehen will oder nicht. Sehr zur Verwirrung von Arbeitskollege Nissim: Mal gibt sie seinem Werben nach, mal weist sie ihn zurück. 

Nissim und Kinny sind sich aber einig in ihrem Ärger darüber, dass die Ermittlungen in Sachen Mord am Ehepaar Wacholder der Polizei entzogen und dem Geheimdienst übertragen werden. Mit einer fadenscheinigen Begründung: Es handle sich um Terrorismus. Ein Zeuge hatte ausgesagt, dass der Mörder im Weggehen «Allahu Akbar» gerufen habe. Oder hat der Geheimdienst die Ermittlungen an sich gezogen, weil er selbst die Finger im Spiel hat? Ruchama Wacholder hat zwar derselben Partei wieder Premierminister abgehört, sie hat ihn in den letzten Wochen aber scharf kritisiert, weil er sich gerichtlichen Ermittlungen entziehen wollte. Kinny und Nissim finden, dass das zum Himmel stinkt – und ermitteln unter der Hand und inoffiziell weiter. Als Psychologin hat Kinny ja immer wieder mit vielen Menschen zu tun und erfährt dabei so einiges. 

Krimitechnisch ist der Roman von Alfred Bodenheimer kein Page Turner, die Handlung entwickelt sich langsam, schrittweise kreist Bodenheimer das Thema ein, um das es im Buch eigentlich geht: die kleine Korruption im Alltag, die Israel von Innen zerfrisst. Das Ausnutzen von Beziehungen und Bekanntschaften, der informelle Handel mit geleisteten Gefallen. Als Tochter Mia Kinny darum bittet, mit ihrer Freundin Rotem zu sprechen, legt Alfred Bodenheimer das Thema des Buchs auf den Tisch. Rotem hat als Assistentin der ermordeten Knesset-Abgeordneten gearbeitet – ihren Job hat sie auf Vermittlung von Kinnys Ex-Mann Ariel erhalten. Ein typisch-israelischer Fall von Beziehungskorruption. Bodenheimer beschreibt es so:

«Kinny wusste, warum sie den Anruf bei Rotem vor sich herschob. Innerlich assoziierte sie Mias Freundin mir Ariel und der protekzia, mit der er ihr damals den Job bei Ruchama verschafft hatte, der Keimzelle jenes Systems von Korruption, das das Land gerade in den Abgrund zu stürzen drohte. Natürlich hatte die junge Frau nur eine ihr angebotene Chance ergriffen – aber so funktionierte protekzia ja fast immer. Jeder verachtete die Leute, die auf diesem Weg etwas ergatterten, und wartete gleichzeitig auf seine eigene Chance, dasselbe zu tun.» (S. 44)

Protekzia also heisst das System, das Israel erfasst hat, und zwar von ganz oben, vom Premierminister her, bis in die einfachsten Chargen der Polizei, der Bauverwaltung, von Architekten und Angestellten. Bodenheimers Jerusalem-Krimi, der an der Oberfläche ein unterhaltend erzählter Roman ist, erweist sich so auf den zweiten Blick als hochpolitisch und als scharfe Gesellschaftskritik an Israel. Bodenheimer weiss, wovon er spricht: Der Basler lebt zeitweise in Jerusalem. Umso spannender lesen sich in seinem Roman die alltäglichen Beobachtungen über das Zusammenleben der Menschen, über den Alltag im Lockdown, über eine Gesellschaft im Dauerkonflikt mit Palästina – und über ein Land, das fest im Griff der protekzia ist. 

Ich empfehle das Buch deshalb nicht nur Krimifans zur Lektüre, sondern allen Leserinnen und Lesern, die sich für Israel, seine Gesellschaft und seine Politik interessieren.

Alfred Bodenheimer: Mord in der Strasse des 29. November. Ein Jerusalem-Krimi. Kampa-Verlag, 224 Seiten, 25.50 Franken; ISBN 978-3-311-12559-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783311125594

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Basel, 26. April 2022, Matthias Zehnder

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