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Milde Gaben

Publiziert am 31. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Donna Leon muss man nicht vorstellen: Die Romane rund um Commissario Guido Brunetti gehören, mindestens auf Deutsch, zu den erfolgreichsten Krimiserien überhaupt. Das wird auch mit dem neusten Roman «Milde Gaben» so bleiben. Bereits zum einunddreissigsten Mal ermittelt Commissario Brunetti in Venedig. Allerdings ist es diesmal keine offizielle Untersuchung. Elisabetta Foscarini, eine Jugendfreundin von Brunetti, bittet den Commissario, diskret zu untersuchen, wer die Familie ihrer Tochter bedroht. Brunetti will die Bedenken seiner Jugendfreundin schon als übertriebene Angst einer besorgten Mutter abtun, als aus dem Verdacht plötzlich blutiger Ernst wird. Wir oft bei Brunetti geht es dabei nicht um Recht und Gesetz, sondern um Gerechtigkeit. Weil Brunetti inoffiziell ermittelt, wird der Krimi diesmal zu einem etwas wehmütigen Kammerspiel zwischen Erinnerungen und dem postpandemischen Alltag in Venedig. Warum es sich trotzdem lohnt, das Buch zu lesen, sage ich Ihnen diese Woche in meinem 106. Buchtipp.

 

Warum lesen Sie einen Kriminalroman? Ein guter Krimi ist spannend, vielleicht sogar packend, und entführt einen für ein paar Stunden in eine andere Welt. Es gibt Krimis, die man verschlingt und dabei die Stuhllehne packt, bis die Knöchel weiss sind. Die Bücher von Donna Leon gehören nicht dazu. Sie bieten so etwas wie «Lindenstrasse» in Venedig, einfach in Buchform. Die Fans kennen und lieben die Figuren der Krimis. Commissario Brunetti und seine Frau Paola, die an der Universität von Venedig Englische Literatur unterrichtet. Die beiden Kinder Raffaele und Chiara – Raffaele studiert inzwischen an der Uni, Chiara geht noch zur Schule und fragt im Buch den Papà, welche griechische Tragödie er am liebsten hat.

Anders als in früheren Romanen ermittelt Brunetti diesmal nicht in Sachen Mord. Eigentlich ermittelt er gar nicht, offiziell jedenfalls nicht. Er untersucht das Geschäftsgebaren einer Stiftung, weil ihn eine Freundin aus Kindertagen um einen Gefallen gebeten hat: Elisabetta Foscarini besucht ihn eines Tages in der Questura und bittet ihn, unter der Hand und diskret herauszufinden, ob ihr Schwiegersohn krumme Geschäfte macht. Der junge Mann ist Buchhalter und Elisabetta erzählt, ihre Tochter fürchte, dass er, ja sie beide bedroht werden. Jedenfalls sei da etwas im Busch. Brunetti geht der Sache nach und stösst schnell auf eine Stiftung, für die der Schwiegersohn gearbeitet hat. Es ist die Stiftung des Ehemanns von Elisabetta Foscarini.

Weil Brunetti den Fall nicht offiziell untersucht – für das Geschäftsgebaren der Stiftung ist ohnehin nicht die Kriminalpolizei zuständig sondern die Guardia di Finanza –, wird der Roman zum Kammerspiel. Eingebunden in die Ermittlungen sind nur die engsten Kolleginnen und Kollegen von Brunetti in der Questura: Sergente Lorenzo Vianello, Kollegin Claudia Griffoni und natürlich Vice Questore Pattas Sekretärin, die famose Signorina Elettra. Der Vice Questore selbst hat im Buch keinen Auftritt, er geistert abwesend durch die Kulissen. Auch seine rechte Hand, Tenente Scarpa, wabert eher bedrohlich im Hintergrund. 

Mehr denn je steht deshalb Guido Brunetti im Zentrum, etwas wehmütig und oft allein. Brunetti geht es so, wie vielen von uns in dieser Pandemie: «Keine Wangenküsse zur Begrüssung, keine Umarmungen, und niemand stupste mehr einen Fremden am Arm, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er etwas verloren oder sich in der Tür geirrt hatte. Sang- und klanglos war ihnen allen eine eisige Förmlichkeit auferlegt worden. Brunetti fehlte der lockere, freundliche Umgang zwischen den Menschen.» (S.24)

Da hören wir wohl nicht bloss Brunetti, sondern auch Donna Leon selbst. Die Amerikanerin hat zwar inzwischen die Schweizer Staatsbürgerschaft und lebt vorwiegend im Münstertal, weil es ihr in Venedig zu viele Touristen hat. Die Zurückhaltung, zu der uns die Pandemie gezwungen hat, dürfte der temperamentvollen Frau aber schwer gefallen sein – auch wenn sie im Herbst dieses Jahres 80 Jahre alt wird, ist und bleibt sie doch eine zupackende Autorin.

Nicht nur an dieser Stelle spricht Donna Leon selbst aus dem Buch. Auch als Brunetti im Polizeiboot an der Universität vorbeifährt und an Paola denkt, lässt die Autorin tief blicken.

Vor Jahren hatte Brunetti Paola «einmal zu erklären versucht, dass sie beide im Grunde das Gleiche machten: Darüber nachdenken, warum Menschen bestimmte Dinge tun. Sie hörten Leuten zu, die über sich oder andere redeten; sie fanden heraus, dass manche von ihnen die Wahrheit sagten und andere nicht. Und dass manche Leute Dinge sagten, die nicht stimmten, weil sie sie von anderen übernahmen, die entweder gelogen hatten oder sich täuschten. Bei ihrem letzten Gespräch darüber hatte Brunetti bemerkt, seiner täglichen Arbeit mangle es am Luxus eines glaubwürdigen Erzählers. Paola hatte dazu nur gelächelt.» (S. 304f.) Und wir lächeln mit ihr, denn der Erzähler, den Brunetti da vermisst, das ist natürlich Donna Leon.

Und wie in der Literatur geht es dem Commissario bei seinen Ermittlungen oft nicht um das Recht, sondern um die Gerechtigkeit und zwischen beiden klafft in Italien manchmal eine grosse Lücke. Vor allem die grossen Gauner kommen immer wieder davon und die kleinen sind nicht wirklich schuldig. Das ist in der Polizeiarbeit nicht anders als in der Literatur. Wobei diese Überlegung natürlich in einem Buch stattfindet, das weder das eine, noch das andere ist und trotzdem lesenswert bleibt.

Wie sehr Donna Leon sich dabei treu bleibt, zeigt eine andere Stelle im Roman, als Brunetti sich das Bücherregal einer Zeugin anschaut.

«Er bückte sich, um die Titel besser sehen zu können. Es waren hauptsächlich Gedichte, teils Übersetzungen, teils im Original. Wie seltsam dachte er, dass ich dies für eine geeignete Methode halte, Einblick in die Seele eines Menschen zu gewinnen. Da standen Donne und Bishop auf Italienisch; Bachmann und Rilke auf Deutsch; Dickens und Wharton auf Englisch. Flaubert. Und eine zerlesene Dante-Ausgabe: die Petrocchi-Edition. Völlig verblüfft, konnte Brunetti der Versuchung nicht widerstehen, das Buch in die Hand zu nehmen. Signora Galvani sagte: «Ja, auf ihm baut alles andere auf, nicht wahr?»
Brunetti lächelte überwältigt und richtete sich auf. All diese Bücher hatten nur eins gemeinsam: das Genie ihrer Verfasser.
«Nun?», fragte sie. «Habe ich den Test bestanden?»
Er rief sich ins Gedächtnis, dass er hier war, weil er es auf sich genommen hatte, der Tochter einer Frau zu helfen, die früher einmal gut zu ihm gewesen war. «Wenn es ein Test war, Signora», sagte er, «hatten Sie den bereits bestanden, als Sie die Mutter einer Frau in Schutz nahmen, die gut zu ihnen war. Die Bücher erklären lediglich, warum Sie das getan haben.» (S. 221 f.)

Es sind solche Stellen, die uns Büchermenschen beweisen, dass Donna Leon eine von uns ist. Deshalb macht das Lesen eines neuen Brunettis immer noch Spass, auch wenn es bereits der 31. Roman der Serie ist.

Donna Leon: Milde Gaben. Commissario Brunettis einunddreissigster Fall. Diogenes, 352 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-257-07190-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257071900

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 31. Mai 2022, Matthias Zehnder

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