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Melody
Der neue Roman von Martin Suter ist da. Die Geschichte dreht sich um eine Lebensgeschichte. Oder genauer: Um die Frage, was wichtiger ist, das gelebte Leben oder die erzählte Geschichte. Ein alter Mann, Wirtschaftskapitän, Alt-Nationalrat, Ex-Militär, ein Strippenzieher der liberalen Wirtschaftspartei, holt sich einen jungen Anwalt ins Haus, der seinen Nachlass ordnen soll. Doch statt ihn bloss im Archiv Akten sortieren zu lassen, erzählt der alte Nationalrat Dr. Stotz, dem jungen Anwalt am Kaminfeuer immer wieder Geschichten. Wobei nie ganz klar ist, ob sie der Realität entsprechen. Stotz gesteht denn auch ganz unverblümt: «Ich liebe die Fiktion entschieden mehr als die Realität.» Mit der Zeit stellt sich heraus, dass das Leben des Dr. Stotz sich weder um die Wirtschaft oder die Politik und schon gar nicht uns Militär gedreht hat, sondern um die Liebe. Im Zentrum allerdings klafft eine Leerstelle: Melody, die Liebe seines Lebens, ist vor vielen Jahren kurz vor der Hochzeit verschwunden. Sagt Dr. Stotz. Und verwirrt den jungen Anwalt immer mehr. Es stellt sich die Frage, ob ein Leben das ist, was man gelebt hat oder das, was man erzählt. In meinem 146. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, inwiefern dabei so oder so eine spannende Geschichte herausgekommen ist.
Tom Elmer ist 34 Jahre alt, hat zwei Master of Law, einen der Universität Zürich und einen des King’s College London und er ist pleite. Tom ist arbeitslos. Er hat bisher nur studiert. Als er deshalb in der Tageszeitung auf eine ganz altmodische Anzeige stösst, in der ein «vertrauenswürdiger, gebildeter jüngerer Mann für Nachlassordnung» gesucht wird, bewirbt er sich. Zudem steht da ja auch: «Juristische Vorkenntnisse erwünscht. Vollzeit. Faire Bezahlung». Und Tom kriegt die Stelle prompt. Samt Kost und Logis in der Gästewohnung unter dem Dach der Villa.
Beim Inserenten handelt es sich um Dr. Peter Stotz, einst eine wichtige Persönlichkeit. «Nationalrat. Mitglied der liberalen Wirtschaftspartei, Königsmacher und Geldgeber. In der Wirtschaft spielte er eine grosse Rolle als Banken-, Versicherungen- und Maschinenindustrie-Verwaltungsrat. Daneben war er Kunstmäzen und langjähriges Mitglied des Verwaltungsrats der Oper und dessen Präsident während elf Jahren.» Ein Mann also, der den Schweizer Filz verkörpert. Aber nicht nur. Dr. Stotz ist auch ein begeisterter Leser. Seine Villa ist vollgestopft mit Büchern:
«Tom nippte an seinem Glas und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er glich mehr einer Bibliothek als einem Salon. Es schien, als hätten die Bücher mit den Jahren von ihm Besitz ergriffen, wie die Natur manchmal von der Zivilisation. Einfache Bücherregale unterschiedlicher Machart waren den beiden im Stil der niedrigen Wandtäfelung fest eingebauten Nussbaumregale hinzugefügt worden. Sie hatten wohl das ursprüngliche Mobiliar verdrängt und bedrängten nun die Bilder an der Wand. Schweizer Kunst aus den Achtzigerjahren. Tom glaubte, einen Martin Disler, einen Dieter Roth, einen Fischli/Weiss und wahrscheinlich einen Meret Oppenheim zu erkennen.
Zwischen zwei Regalen war eine einzelne, schmale Konsole angebracht. Einige Gegenstände lagen darauf, und ein kleiner Spot beleuchte ein gerahmtes Foto, das darüber an der Wand hing. Tom stand auf und ging hin, um zu sehen, ob er richtig vermutete.
Ja, es war wieder die junge Frau.» (S. 27f.)
Diese junge Frau ist die grosse Leerstelle im Leben des Dr. Stotz. Melody heisst sie. Eigentlich heisst sie Tarana. Sie stammt aus einer traditionell-islamischen Familie aus Marokko. In der Pubertät wollte sie keinen arabischen Namen mehr tragen und nannte sich Melody. Tarana bedeutet auf Deutsch «Melodie». Diese Melody war die grosse Liebe im Leben des Dr. Stotz. Die tragische Liebe: Denn wenige Tage vor der mit grossem Aufwand und Pomp geplanten Hochzeit ist Melody spurlos verschwunden. Während Jahren, ja Jahrzehnten hat Stotz seine Verlobte auf der ganzen Welt gesucht. Vergeblich. Geblieben sind ihm nur ein paar Bilder seiner Geliebten, die er im ganzen Haus wie kleine Altarbilder verteilt hat.
Eigentlich soll sich Tom Elmer ja um den Nachlass seines Arbeitgebers kümmern. Doch der macht ihm rasch klar, dass er sich für trockene Fakten nicht interessiert. Schon bei der ersten Begegnung sagt Dr. Stotz: «Ich habe mein ganzes Leben immer gelesen. Fachliteratur ungern, aber Romane habe ich verschlungen. Das bitte ich Sie jedoch der Nachwelt umgekehrt zu überliefern. Ich liebe die Fiktion entschieden mehr als die Realität.» Tom kann deshalb nie sicher sein, ob das, was ihm Stotz erzählt, wirklich vero ist, oder bloss ben trovato. Als Tom sich dagegen sträubt, die Fakten zu verbiegen, sagt im Stotz, dass das keineswegs Geschichtsfälschung sei:
«Es ist Geschichtsgewichtung. Geschichte wurde seit jeher gewichtet, das wissen Sie doch.»
Tom nickte. «‹Nicht die ganze Wahrheit sagen ist nicht gelogen.› Auch von meinem Vater.»
«Scheint ein kluger Mann gewesen zu sein.»
«Nicht in jeder Beziehung.»
Dr. Stotz lächelte. «Wie wir alle.» (S. 40)
Es ist die Frage, die sich durch den ganzen Roman zieht: Was ist wahr an der Geschichte, die Dr. Stotz Tom auftischt? Und: Spielt es eine Rolle? Ist es nicht entscheidender, dass man sich für sein Leben eine gute Geschichte erfindet? Stotz macht davon sogar seinen Tod abhängig. Er sagt, der Tod an sich sei nichts schlimmes.
«Nur das Timing kann schlecht sein. Weißt du, wann es schlecht ist?»
Tom stand unbehaglich neben dem Pflegebett und sagte: «Nicht immer?»
«Nein. Wenn das Leben endet, bevor es abgeschlossen ist. Dann ist es kein Happy End. Ein glückliches Ende gibt es nur, wenn die Story in dem Moment endet, in dem der Protagonist das Ziel erreicht, das er verfolgt hat. Und nur dann. Merk dir das.»
Dr. Stotz legte den Kopf zurück ins Kissen und schloss die Augen.
Tom überlegte, ob er ihn zudecken sollte.
«Und weißt du, wann es auch noch schlecht ist?»
Er wartete Toms Antwort nicht ab.
«Wenn es danach nicht endet. Wenn das Ziel erreicht ist und man nur noch krank ist und auf das Ende wartet.» (S. 116)
Im Leben kommt es also darauf an, was für eine Story man lebt. Diese Story bekleidet das Leben wie ein guter Anzug einen Mann. Über Anzüge sagt Dr. Stotz: «Ein gutsitzender Anzug verbessert nicht nur dein Äußeres. Er verbessert vor allem dein Inneres.» Es geht um den Einfluss der Schale auf den Kern. In der Schweiz sagt man in der Umgangssprache ja auch «Schale» für den Anzug. Das ist die Aufgabe von Tom: Die Schale des Lebens von Dr. Stotz zu sichern.
Das ist denn auch der Kern der Geschichte, die Martin Suter uns so eloquent wie elegant erzählt. Ein Freund von Dr. Stotz, nicht ganz zufällig Schriftsteller von Beruf, bringt es auf den Punkt: «Es geht ja letztlich immer um die Frage: Will man sich das Leben nach dem einrichten, was man glaubt, oder will man das, was man glaubt, nach dem einrichten, wie man lebt?» Richte ich, mit anderen Worten, die Schale nach dem Kern oder umgekehrt den Kern nach der Schale?
Was natürlich sehr zu Martin Suter passt, der selbst immer in perfektem Tuch gewandet auftritt. Auch im Roman stimmt die Schale und das meint da: die Sprache. Immer wieder tauchen, wie farbige Einstecktüchlein bei einem Anzug, kleine Sprachpreziosen auf. Sätze, die man sich vergnügt anstreicht, weil sie so schön formuliert sind. So sagt etwa Dr. Stotz über seinen alten Arzt: «Ich hoffe, ich überlebe ihn nicht, ich mag nämlich keine jungen Ärzte. Die verstehen vielleicht mehr von Medizin, aber die alten verstehen mehr vom Leben.» Über seinen Jaguar sagt er: «Das ist das Problem mit diesen Sportwagen: Wenn man sie sich endlich leisten kann, ist man zu alt, sie zu fahren.» Und über Erinnerungen sagt Stotz: «Die Erinnerungen sind eine seltsame Sache. Je älter du wirst, desto weniger weißt du, ob sie echt sind oder einfach entstanden. Wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle.»
Mir gefallen solche sprachlichen Einstecktüchlein in einer Geschichte. Über die Geschichte selbst sei nicht viel mehr verraten. Ausser vielleicht, dass natürlich nicht nur Tom und Dr. Stotz darin eine Rolle spielen, sondern auch Haushälterin Mariella, die verhängnisvoll gut kocht, Roberto der Butler und Helfer und die Grossnichte Laura, die gegen Ende der Geschichte eine immer grössere Rolle spielt. Zum Schluss sei noch ein Einstecktüchlein aus dem Sprachanzug von Martin Suter eingestreut: «Tout comprendre c’est tout pardonner. … Alles verstehen heißt alles verzeihen.» Das sagt natürlich auch Dr. Stotz. Und ich bin sicher, dass Sie, wenn Sie das Buch lesen, es am Ende verstehen werden.
Ich kann dem Buch von meiner Seite aus nur das Prädikat geben, das mir das wichtigste ist: ebenso intelligent wie unterhaltend.
Martin Suter: Melody. Roman. Diogenes Verlag, 320 Seiten, 35 Franken; ISBN 978-3-257-07234-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072341
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Basel, 22. März 2022, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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