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Martha und die Ihren

Publiziert am 13. Juni 2024 von Matthias Zehnder

Was passiert mit Kindern, wenn ihre Eltern nicht mehr für sie sorgen können? Heute springt der Staat ein: Die Sozialhilfe sorgt für Unterstützung, Pflegeeinrichtungen für die Kinder. Früher war das anders. Waisenkinder oder Kinder von verarmten Eltern wurden in der Schweiz bis in die 1960er Jahre «verdingt». Sie wurden den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich angeboten. Diese Verdingkinder mussten auf Bauernhöfen schuften wie Sklaven – und das waren sie auch: Sie hatten keine Rechte, wurden ausgenutzt und oft missbraucht. In seinem neuen Roman erzählt der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann die Geschichte eines solchen Verdingkinds: «Martha und die ihren» heisst das Buch. Das Besondere daran: Es ist die Geschichte von Lukas Hartmanns eigener Grossmutter. Entstanden ist ein schlichtes Buch über eine Frau, die sich mit eisernem Willen und gegen alle Wahrscheinlichkeit aus der Verdingung hochgearbeitet hat. Es ist aber keine simple Tellerwäscher-Geschichte. Lukas Hartmann zeigt, dass Martha einen ungeheuren Preis für den sozialen Aufstieg zahlen musste. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Söhne und sogar ihre Enkel. In meinem 208. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum dieses Buch nicht nur viel über Verdingkinder aussagt, sondern auch über das Wesen der Schweiz.

«Verdingen» ist ein fürchterliches Wort. «Kinder verdingen» das klingt, als würden Kinder zu Dingen gemacht. Auch wenn das nicht der Bedeutung des Wortes entspricht, waren die Folgen doch ganz ähnlich. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts haben die Behörden in der Schweiz verarmten Familien die Kinder weggenommen. Im Amtsdeutsch ist beschönigend von «Fremdplatzierung» die Rede und von «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen». Die Realität sah so aus, dass Waisen und Kinder von verarmten Familien von den Behörden den Eltern weggenommen und wie Sklaven auf einem Verdingmarkt quasi versteigert wurden. Den Zuschlag bekam jene Familie, die am wenigsten Kostgeld verlangte. In den Familien und auf den Höfen wurden die Kinder wie Arbeitssklaven gehalten.

So geht es auch Martha, der Grossmutter von Lukas Hartmann. Nach einem Arbeitsunfall und langer Krankheit stirbt ihr Vater, die Familie verarmt. Die Mutter kann nicht für die sechs Kinder aufkommen. Die Gemeinde nimmt ihr die Kinder weg und verdingt sie bei Bauern in der Umgebung. Die Mutter selbst wird als Hilfskraft einer Wäscherei zugewiesen. Martha kommt auf den Bauernhof der Familie Bürgi.  Es sind «Stündeler», also Mitglieder einer evangelikalen Freikirche. Am Tisch sitzen zehn Personen: Die Eltern Bürgi, ihre Kinder, eine Magd, ein Knecht – und jetzt auch Martha. Der Bauer sitzt oben am Tisch. Nach dem Gebet bedient er sich von der Platte, die ihm von der Magd gereicht wird: Kartoffeln, Bohnen, Speck und Wurst. Dann wird die Platte von Platz zu Platz weitergereicht, bis sie bei Martha landet. Es sind nur noch zwei kleine Kartoffeln übrig, eine davon schartig. Das Fleisch ist weg. So bleibt es. Bis sie drankommt, ist die Platte leer.

Martha muss sich ihr Essen bei den Bürgis verdienen. Sie arbeitet auf dem Hof, putzt, macht den Abwasch und betreut eines der Kinder, das behindert ist. Sie ist immer wieder hoffnungslos überfordert. Aber sie weiss, dass sie dankbar sein muss und beisst sich durch. Mit Fleiss und Durchhaltewillen, das trichtert ihr die Pflegemutter ein, kann sie viel gewinnen, auch wenn sie nur ein Verdingkind ist. Als Mahnung steht ihr das Bild der verarmten Mutter vor Augen.

Ein Lichtblick ist die Schule. Sie ist intelligent und lernt schnell. Der Lehrer fördert sie. Als sie sechzehn Jahre alt ist, vermittelt er ihr eine Stelle in einer Fabrik in der Stadt. Zu Fuss braucht sie eine Stunde bis in die Strickerei. Auch in der Fabrik erweist sie sich als gelehrig. Sie beisst sich durch und spart, bis sie sich ein eigenes Fahrrad kaufen kann. Den Bürgis erzählt sie nichts davon. Sie übt heimlich Fahrrad fahren. Als sie stürzt und sich den Rock aufreisst, erzählt sie, sie sei in der Fabrik hängen geblieben. Noch am Abend flickt sie den Rock, am nächsten Tag ist vom Riss nichts mehr zu sehen.

Wenn es ihr schlecht geht, betet Martha manchmal, wie sie es gelernt hat. Sie merkt aber, dass es nicht zu ihr passt. Vom Gemeindepfarrer hat sie immer wieder dasselbe gehört: «Es gibt einen Gott, den Gott der Bibel, der über euch wacht und eure guten und weniger guten Taten sieht. Nicht an ihn zu glauben ist verwerf‌lich.» Doch in sich erkennt Martha vor allem den eisernen Willen voranzukommen. Oder auch: sich Unabhängigkeit zu erkämpfen. (Seite 53)

Im Zweifelsfall verlässt sich Martha lieber nicht auf den lieben Gott, sondern auf ihren eisernen Willen. Tief eingegraben hat sich ihr, dass armengenössig zu sein die grösste Schmach ist, in die man geraten kann. «Armengenössig», das bedeutet, dass jemand unterstützungsbedürftig wird. Seit 1681 musste für solche Menschen in der Schweiz die Heimatgemeinde aufkommen. Bis heute gilt es als Schmach, unterstützungsbedürftig zu werden. Das hat Folgen: Laut Studien beantragen zum Beispiel in der Stadt Basel 30 Prozent der Menschen, die ein Anrecht auf Sozialhilfe hätten, aus Scham keine Unterstützung. Gründe, warum Menschen zur Zeit von Martha armengenössig wurden, gab es viele. Der Familienvater konnte einen schweren Unfall haben, erkranken oder zum Trinker werden. Und dann wurden die Kinder verdingt.

Die Angst davor, zu verarmen, begleitet Martha ein Leben lang. Als sie Jakob heiratet, einen Schuhmacher, und selber Kinder hat, bleibt die Angst ihr Begleiter und bringt sie dazu, sich noch mehr anzustrengen. Es ist die stärkste Energie in ihr: das Elend, die Schande von der Familie abzuwenden.

Die Familie hat zwei Söhne, Toni und Peter. Toni ist der Vater von Lukas Hartmann. In Wirklichkeit heisst er nicht so. Er habe lange gebraucht, um über das Leben seiner Grossmutter schreiben zu können, sagt Lukas Hartmann. Um Abstand zu gewinnen, hat er die Namen geändert. Die Namen seiner Eltern, der Verwandten, seines Bruders und von sich selbst. Im Buch nennt er sich Bastian. Nur den Namen Martha behielt er bei. Er sei zu stark verbunden mit seinen Erinnerungen an sie, schreibt Hartmann.

Martha macht sich zu recht Sorgen. Ihr Mann Jakob ist kränklich, er wird immer schwächer. Martha lernt sein Handwerk und hilft ihm. Sie arbeitet nachts, bei zugehängten Fenstern. Im Dorf darf niemand wissen, dass in Wirklichkeit nicht der Schuhmacher, sondern seine Frau die Schuhe flickt. Als Jakob stirbt, steht die kleine Familie wieder vor dem Nichts.

Die Beerdigung auf dem kleinen Friedhof erinnerte Martha an die ihres Vaters vor langer Zeit. Aber ihre Söhne würden es besser haben als sie damals, das schwor sie sich zum tausendsten Mal. Und wo auch immer sie selbst sein würde, der Teller wäre nie leer, wenn Toni und Peter zu ihr kämen. Das Bild, das sie verscheuchen wollte, stieg von irgendwo auf: der leere Teller, und niemand füllte ihn für das kleine Mädchen am Ende des Tischs. Sie hatte es ausgehalten, sie hatte es überlebt. (Seite 95)

Martha kämpft, Martha schuftet – und sie heiratet bald wieder. Diesmal ist es ein Milchhändler.

Diese aus Vernunft geschlossene Ehe bestand aus Arbeit und aus Absprachen, wofür sie wie viel vom Reingewinn ausgeben sollten. Die Milch beherrschte Marthas Leben wie vormals die Strickmaschine, die Pflege der Kinder und die Schuhe. Es waren andere Handgriffe, andere Gerüche, andere Leute, besser gestellte. Die Frauen aus den Mietwohnungen, die sie mit Milch belieferte, hatten oft toupierte Haare und rochen nach neuartigem Shampoo, das entging Martha nicht. (114)

Nicht nur ihre Ehe, Marthas ganzes Leben besteht aus Arbeit. Aus Arbeit und aus Angst vor Armut. Und aus ihren Pflichten. Pausen kennt sie nicht, sie hat nie gelernt, sich auszuruhen. Wenn die Pflichten fehlen, wird Martha unruhig, ja unzufrieden. In der Verbandsmolkerei, der sie die überschüssige Milch bringt, kauf‌t Martha manchmal eine Flasche Rahm zu stark ermässigtem Preis und dazu eine Büchse Pfirsiche. Am Sonntag macht sie daraus einen Fruchtsalat. Was für ein Luxus, der halbe Pfirsich im zuckersüssen Saft und darauf eine Haube aus Schlagsahne. In solchen Momenten hat Martha das Gefühl, dass sie es nun doch weit gebracht hat. Und sie hoff‌t, dass ihre Söhne es noch weiter bringen werden.

Toni, der ältere Sohn, muss möglichst bald Geld verdienen, um das Familieneinkommen aufzubessern. Marthas Ziel für ihn ist eine gute Stellung, am besten beim Staat. Das ist die beste Garantie für ein sicheres Einkommen. Toni findet nach aufreibender Suche tatsächlich Arbeit als Hilfsbrief‌träger bei der staatlichen Post. Er ist fleissig und besucht Weiterbildungskurse neben der Arbeit. Bald steigt er auf ins Büro, in die Verwaltung der Post. Eigentlich würde er gerne Musik machen. Er spielt Trompete. Bald hat er aber kaum mehr Zeit dafür. Auch im Büro rackert er sich ab. Mit Erfolg: Er klettert langsam aber sicher die Karriereleiter hoch.

Er heiratet Lena, die Tochter eines Bauern. Sie haben zwei Söhne, Bastian, das Alter Ego von Autor Lukas Hartmann, und Ferdi. Eindrücklich zeigt Lukas Hartmann, wie Marthas Angst vor dem Verarmen über Generationen weiterwirkt. Wie Martha kennt auch Toni nur Arbeit und Pflichten. Was nichts bringt, ist nichts. Dass Bastian gerne zeichnet und sich für Kunst interessiert, ist ihm suspekt. Immerhin verschafft ihm Vater Toni Zeichenpapier:

Er fragte in der Druckerei, die am Arbeitsweg lag, nach Ausschussware und bekam einen ganzen Packen. «Das wird lange reichen», sagte er. «Aber achte darauf, dass du exakt zeichnest. Exakt, darauf kommt es an.» Bastian wusste nicht genau, was das bedeutete, aber der Vater lobte ihn, wenn seine Striche bei den Häusern und auch bei den Indianerzelten gerade waren, das fand er bald heraus. Er zeigte seine Werke auch der Grossmutter, sie nickte und ermahnte ihn, nicht zu viel Papier zu verschwenden. «Du kannst deine Menschen auch kleiner zeichnen, da haben mehr auf einem Blatt Platz.» Das wollte Bastian nicht, Indianer mussten so gross sein, wie sein Stift sie machte. (Seite 173)

Der Vater will, dass Bastian exakt zeichnet, Grossmutter Martha ermahnt ihn, nicht zu viel Papier zu verschwenden. Ein Gefühl für die Zeichnungen haben sie nicht. Zeichnen bringt nichts, deshalb ist es Zeitverschwendung. Der wichtigste Massstab für das, was er tut, ist für Toni der Lohn. Er ist nicht geldgierig oder geizig. Er kennt nur nichts anderes. Was sich nicht auszahlt, ist unnütz. Wie Martha rackert er sich ab und beisst sich durch, bis er an den Anforderungen zerbricht.

Auch Martha arbeitet, bis ihre Gesundheit ruiniert ist. Sie kommt in ein Pflegeheim und fühlt sich dabei nutzlos und abgeschoben. Bloss Enkel  Bastian besucht sie regelmässig und bringt sie mit der Zeit dazu von sich zu erzählen. Sie spricht von ihrer Kindheit, der Zeit bei den Bürgis, beschreibt die Arbeit und wie sie ausgenutzt wurde. Lukas Hartmann schreibt, dass sie merkwürdig sachlich erzählt, ohne Anklage, einfach als etwas, das sie damals durchlebt hat.

Und genau so ist das Buch geschrieben: merkwürdig sachlich, ohne Anklage, einfach als etwas, das geschehen ist. Der zurückhaltende Erzählstil hat mich zunächst irritiert. Das Buch liest sich stellenweise nicht wie einen Roman, sondern eher wie die Notizen zu einem Roman. Ich hatte den Verdacht, dass Lukas Hartmann vielleicht nicht mehr anders schreiben konnte, weil er während der Arbeit an diesem Buch einen Schlaganfall erlitten hat. Bis ich diese Stelle gelesen habe und mir klar wurde, dass diese merkwürdige Sachlichkeit das künstlerische Mittel ist, mit dem Lukas Hartmann die Strenge, die Kraft und den Willen seiner Grossmutter darstellt. Die Ironie dabei ist, dass er genau das macht, was Vater Toni und Grossmutter Martha vom Bastian beim Zeichnen fordern: Lukas Hartmann schreibt exakt und sparsam.

Beeindruckt hat mich das Buch, weil Hartmann zeigt, wie dieser Wille, der Armut zu entkommen und aufzusteigen, der Drang nach Sicherheit, die Angst vor Scham und Verarmung, sich übertragen auf die folgenden Generationen. Nur ja keine Schwäche zeigen. Sich auf das Nützliche konzentrieren. Die Spuren davon erkenne ich auch in der eigenen Familie – und sie sind in der ganzen Schweiz spürbar. Bis vor Hundert Jahren war die Schweiz in weiten Teilen ein armes Land. Viele Schweizer Familien dürften eine Martha-Figur in der Verwandtschaft haben. Einen Vorfahren, der sich hochgearbeitet hat aus bitterer Armut und seinen Nachkommen jenen eisernen Willen mitgegeben hat, durch Arbeit und Fleiss aufzusteigen, die Zeit nicht mit Unnützem zu verplempern, Geld zu verdienen – und zu sparen.

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren. Roman. Diogenes, 304 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-257-07273-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072730

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 13. Juni 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

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