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Malinverno

Publiziert am 10. Oktober 2023 von Matthias Zehnder

Im fiktiven Dorf Timpamara am untersten Zipfel Italiens entstand im 19. Jahrhundert die erste Papierfabrik Kalabriens. Weil Altpapier der wichtigste Rohstoff der Fabrik ist, wird sie tonnenweise mit alten Zeitungen und Zeitschriften gefüttert. Und mit alten Büchern. Mit der Zeit haben die Arbeiter damit begonnen, einzelne Artikel und Buchseiten zu retten und zu Hause zu lesen oder sich vorlesen zu lassen. So wurde aus dem kleinen Flecken ein literarisches Dorf. Held des Romans von Domenico Dara ist Astolfo Malinverno. Er ist in Personalunion der Bibliothekar und der Friedhofswärter des Dorfs – und damit der Hüter der beiden wichtigsten Quellen für Geschichten. Astolfo führt ein ruhiges Leben zwischen Büchern und Grabsteinen, bis er sich in die Fotografie einer namenlosen Frau auf einem Grabstein verliebt. Und dann taucht auf dem Friedhof plötzlich eine junge Frau auf, die präzise aussieht wie die Frau auf dem Grabstein. Geschichten und Geschichte, Imagination und Realität scheinen miteinander zu zerfliessen. In meinem 175. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum diese Geschichte aus Kalabrien jedes Bücherherz höher schlagen lässt.

Ganz im Süden Italiens, da, wo der italienische Stiefel in seiner Fussspitze endet, die in Richtung Sizilien, Malta und Tunesien zeigt, da liegt Kalabrien. Hier, im fiktiven Ort Timpamara, lebt Astolfo Malinverno. Eines seiner Beine ist zwei Zentimeter kürzer, deshalb hinkt er. Weil er als behindert gilt und Gemeinden, die Behinderte anstellen, gefördert werden, hat ihn der Bürgermeister von Timpamara als Bibliothekar angestellt. Allerdings nur halbtags. Am Morgen und am Abend amtet Astolfo zusätzlich als Friedhofswärter.

Bibliothekar und Friedhofswärter – in jedem anderen Dorf wären das Berufe eines Aussenseiters. In Timpamara aber ist der Bibliothekar eine ganz zentrale Person: Timpamara ist nämlich das Dorf der Bücher. Jeden Tag liefern Lastwagen Tonnenweise Papier an die Papierfabrik, darunter viele Bücher. Schon vor langer Zeit haben die Arbeiter damit begonnen, Bücher vor der Wiederverwendung als Zelluloserohstoff zu retten.

«Alles begann, als ein Arbeiter die Seiten betrachtete, ehe er sie zum Einweichen ins Wasser warf. Anfangs war es nur ein Foto in einer Zeitschrift, dann die Sportnachrichten, und schliesslich reichte für die Lektüre des ganzen Artikels die Zeit nicht mehr, sodass er ihn herausriss und mit nach Hause nahm, wahrscheinlich, um ihn sich dort von seinen Kindern vorlesen zu lassen. Und so erkannte man die Arbeiter, die an der Presse eingesetzt wurden, im Lauf der Zeit an dem Stückchen Papier, das aus einer Hosen- oder Jackentasche hervorlugte. Von einzelnen Blättern war es nur ein kleiner Schritt zu ganzen Büchern, und da die Papierpresse manchmal wochenlang nur Letztere erhielt, wurden die aus Zeitungen herausgerissenen Artikel ersetzt durch lose Buchblöcke, umgearbeitete Kapitel, Erzählungen ohne Einband. Nach dem Abendessen setzten sich die Arbeiter auf die Couch, nahmen die zerknitterten Seiten und lasen sie oder liessen sie im Kreis der Familie vorlesen. Auf diese Weise verbreitete sich wie ein Virus das Laster des Lesens im Dorf. Waren es nicht die Hände der Arbeiter, die Worte auf Papier aussäten, so war es der Westwind, der vom Meer heranwehte und die Blätter auf den Lastwagen, in den Einweichbecken oder den Stapeln auf dem Hof erfasste und sie durch die Luft flattern liess, Schwärme französischer Romane, Scharen von Büchern zur Traumdeutung, Möwen, auf deren Flügeln Die Elenden zu lesen war, Schwalben, die Gullivers Abenteuer im Schnabel hielten und Fragmente von Platons Dialogen, vermischt mit Platanenpollen. Überall in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn jemand sie aufhob, las er sie, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob. Wenn sie ihm hingegen zusagte, nahm er die Seite mit nach Hause und bewahrte sie auf. Sie lasen alles, und sie hoben alles auf, diese Timpamaraner, fast so, als wollten sie der zerstörerischen Bestimmung der Papierpresse etwas entgegensetzen. Die Maschine löschte die Bücher aus, sie dagegen erhielten sie am Leben.» (S. 11f.)

Das hat seine Spuren hinterlassen im Dorf. Damit angefangen hat es, dass einer der Bürger von Timpamara seinen Sohn als Reverenz an Victor Hugo «Victorùgo» getauft hatte. Das führte zu einer Serie von Marcelprousts, Volfangos, Faustinos, Werthers, Marcaurelios, Fiammettas, Ortis und Brüdern namens Gargantua und Pantagruel. Die Namen variierten je nach Herkunft der Bücher, die zur Papierpresse gebracht wurden. Wenn Lastwagen von einer auf Musiknoten spezialisierten Buchhandlung eintrafen, florierten in Timpamara die Walküren, Brunhildes, Armidas, Othellos und Desdemonas, auf die Lieferung von Atlanten folgte eine Welle von Adelaides, Ginevras, Gorizias, Loiras, Galizias, Cracovias und Lisbonas.

Die Namen aus den Büchern sind nur das erste Anzeichen dafür, dass Timpamara zum Dorf der Bücher geworden ist. Mit der Zeit beginnen die Bewohner nämlich auch zu reden wie die Figuren in den Büchern und so mancher lebt auch ein Leben wie ein tragischer Held. Kein Wunder also ist Astolfo als Bibliothekar ein wichtiger Mann, auch wenn er die Stelle nur deshalb erhalten hat, weil er ein lahmes Bein hat. Als die Gemeinde ihm auch noch das Amt des Freidhofswärters überträgt, ist er zunächst erstaunt. Die Kombination der beiden Ämter scheint ihm seltsam. Mit der Zeit wird aber klar: Sowohl in der Bibliothek wie auf dem Friedhof geht es um Geschichten. Mit einem Unterschied: Die Geschichten, die auf dem Friedhof erzählt werden, sind immer schon zu Ende gegangen – sie haben mit dem Tod geendet. Anders die Geschichten in der Bibliothek: Viele Romane enden nicht mit dem Tod der Protagonisten. Doch da weiss sich Astolfo zu helfen: Er schreibt für sich die Geschichten um und lässt sie «richtig» enden – mit dem Tod des Helden.

Alles könnte ewig seinen Lauf nehmen. Doch dann entdeckt Astolfo auf einem Erkundungsgang durch den Friedhof in einem abgelegenen Teil des Gottesackers ein namenloses Grab mit der Fotografie einer jungen Frau auf dem Grabstein. Die Frau verströmt die traurige Wehmut ungelebter Träume. Es ist ein alter Schnappschuss, doch das Gesicht ist klar umrissen und von magnetischer Wirkung. Im Kopf von Astolfo verbindet sich das Gesicht fast sofort mit der Geschichte von Madame Bovary. Er nennt die schöne Unbekannte deshalb nach Flauberts Heldin Emma Rouault. Astolfo hat sich ins Foto einer Toten verliebt. Umso grösser ist sein Schock, als er der Frau plötzlich in der Realität begegnet. Oder wenigstens einer jungen, schönen Frau, die aussieht, wie die Frau auf dem Bild. Emma heisst in der Realität Ofelia – und der Name verrät schon fast zuviel über den Verlauf der Geschichte.

Die unwahrscheinliche Liebesgeschichte ist aber nur das Rückgrat von Domenico Daras Roman. Das Buch lebt von den vielen Geschichten, die Astolfo in seinen beiden Welten begegnet. Sie sind voller literarischer Anspielungen und Domenico Dara erzählt sie mit viel Lust am Fabulieren. Zum Beispiel die Geschichte von Elea Maierà, der von den Toten auferstanden war. Der Arzt hatte ihn für tot erklärt, der Priester hatte ihn geölt, er lag im offenen Sarg, als er sich während der Abdankung zu bewegen begann. Eine Woche später starb ein Mädchen im Dorf. Die Bewohner munkeln deshalb, Elea habe einen Handel mit dem Teufel geschlossen. Elea hat alles verloren, sogar seine Sprache. Er besitzt nur noch sein Grab auf dem Friedhof, die Grube, die sie ihm am Morgen seines Todestages gegraben haben. Hier sitzt er oft, stumm und in sich gekehrt, am Rand seines Grabs und lässt die Beine in seine Grube baumeln. Oder Marcantonio Parghelìa, pensionierter Schiffszimmermann und Witwer, der überzeugt ist, sein Hund sei kein Tier, sondern ein Mensch, der nur nicht sprechen kann. Marcantonio möchte deshalb seinen Hund auf dem Friedhof begraben lassen, was zwar verboten ist, Malinverno findet aber einen Weg, das Hundegrab zu ermöglichen und zeigt Marcantonio, wie er die Grabstelle, die direkt daneben liegt, kaufen und für sich reservieren kann.

Die Beispiele zeigen, wie Geschichten und Realität im Buch miteinander verschwimmen und verschmelzen. Malinverno sagt dazu: «Die Menschen, denen ich begegne, wenn sie an der Bar etwas trinken oder fluchend Karten spielen, wenn sie ein Buch aufschlagen oder um tote Freunde weinen, sie leben ein doppeltes Leben wie wir alle. Jenes, das uns gegeben wurde, das im Tempo der anderen abläuft und uns über die Haut und das Gesicht gleitet. Und dann das andere Leben, das wir uns aussuchen und welches in die einsame Zeit projiziert wird, das Leben, das durch unser Inneres strömt, durch unser Blut, die Sinnesorgane, den Kopf. Die Mehrheit wählt das erstgenannte Leben und versteckt das andere unter einer schweren schwarzen Decke; sie ertränkt es, unterdrückt es und schlägt es in Stücke.
Ich hingegen zog es vor, dieses innere Leben an die Oberfläche kommen zu lassen, es zur Einfriedung meiner Existenz zu machen, und vielleicht besteht meine Andersartigkeit gerade darin, dass ich vermischt habe, was der Rest der Menschheit säuberlich zu trennen versteht. Ich habe es vermischt auf die Art von Madame Bovary oder Don Quijote, die ihre Zeit der Zeit der Welt aufzuerlegen versuchten.» (Seite 57)

Darum geht es in diesem wunderbaren Buch: Dass wir uns nicht mit dem banalen äusseren Leben abfinden, sondern dieses andere Leben leben, jenes Leben, das wir uns selbst aussuchen können, das durch unser Inneres strömt, durch unser Blut, die Sinnesorgane und den Kopf. Und die Seele, ist man versucht, anzufügen.

Domenico Dara: Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten. Übersetzung von Anja Mehrmann. Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-462-00581-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462005813

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 10. Oktober 2023, Matthias Zehnder

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