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Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens

Publiziert am 1. August 2023 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise ins Hinterland von Saint-Tropez. Im Krimi von Pierre Martin geht es nicht um die glamourösen Seiten der Côte d’Azur, sondern um das alltägliche Leben im fiktiven Dorf Fragolin. Hier lebt Madame le Commissaire Isabelle Bonnet. Als bei Abbrucharbeiten ein eingemauertes Skelett gefunden wird, nimmt sie eher widerwillig die Ermittlungen auf. Ein Loch in der Schädeldecke lässt keinen Zweifel daran, dass ein Verbrechen vorliegt. Doch der Mord liegt viele Jahre zurück. Und Isabelle Bonnet würde sich lieber der Gegenwart widmen. Denn sie hat persönlich noch ganz andere Probleme als eine eingemauerte Leiche. In meinem 165. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise in die Region Saint-Tropez lohnt.

Frankreich ist seit Jahren der Sehnsuchtsort vieler deutschsprachiger Menschen: Offensichtlich träumen Deutsche und Schweizer von der französischen Sonne, dem Wein, gutem Essen und der französischen Lebensart. Entsprechend viele Krimiserien spielen in Frankreich. Nicht alle Autoren stehen wie Martin Walker dazu, dass sie keine Einheimischen sind. Sophie Bonnet zum Beispiel, Autorin der beliebten Serie rund um den ehemaligen Kommissar Pierre Durand, heisst in Wirklichkeit Heike Koschyk und wohnt in Hamburg. Jean-Luc Bannalec, Autor einer ähnlich erfolgreichen Krimiserie rund um Kommissar Dupin, der in der Bretagne ermittelt, heisst im richtigen Leben Jörg Bong und lebt in Frankfurt am Main.

Anders als bei Sophie Bonnet und Jean-Luc Bannalec ist bei Pierre Martin nicht bekannt, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Bekannt ist nur, dass es sich um einen deutschen Autor handelt und dass er sich mit Romanen einen Namen gemacht hat, die in Frankreich und in Italien spielen. Sicher ist: Die Krimiserie rund um «Madame le Commissaire» ist ähnlich erfolgreich wie die Serien um Durand und Dupin. Etwas misstrauisch macht es mich als Leser ja schon, wenn ein Autor nicht zu seinem Werk stehen mag. Entsprechend kritisch bin ich die Lektüre der 10. Folge rund um Frau Kommissarin Bonnet angegangen.

Die Geschichte dreht sich um ein Skelett, das bei Abrissarbeiten hinter einer Mauer gefunden wird. Der (oder die) Tote lag da schon mindestens zehn Jahre. Die Spurensicherung findet nichts. Der Hausbesitzer weiss von nichts, der Mord hat sich zugetragen, bevor er das Haus gekauft hat. Nur widerwillig beginnt Isabelle Bonnet zu ermitteln. Eigentlich kümmert sich Madame le Commissaire nur um den Fall, weil sie von der Bürgermeisterin darum gebeten wird. Die will nämlich verhindern, dass sich die Bauarbeiten für das neue Gemeindezentrum verzögern.

Der Mord steht aber auch nicht wirklich im Zentrum der Geschichte. Er ist eher eine Art Ausrede, warum wir uns mit Madame le Commissaire beschäftigen. Hauptattraktion, Dreh- und Angelpunkt des Romans ist die Hauptfigur selbst. Isabelle Bonnet ist ehemalige Leiterin einer Antiterroreinheit der Police Nationale in Paris. Seit ein paar Jahren lebt sie im Hinterland der Côte d’Azur in Südfrankreich. An der Türe ihres Kommissariats steht «Police nationale» mit dem Zusatz «Commission spéciale». Denn Isabelle Bonnet übernimmt keine regulären Polizeiaufgaben.

Zu verdanken hat sie diesen speziellen Status Maurice Balancourt, dem Chef der Police Nationale in Paris. Der Alte hat nicht nur ihre Karriere in den Spezialkommandos begleitet und gefördert, vor allem hat er ihr später durch schwere Zeiten geholfen – und es ihr ermöglicht, an ihren Geburtsort in der Provence zurückzukehren und hier ein kleines Kommissariat zu führen, das er extra für sie gegründet hat. Ein Kommissariat für besondere Aufgaben. Welche das sind, entschieden nur sie beide. Als Figur ist Isabelle Bonnet also eine Mischung aus frei schaffendem Privatdetektiv und staatlich ermächtigter Kommissarin.

Aber es ist nicht ihr beruflicher Status, die sie für uns Leser interessant macht. Isabelle Bonnet ist eine unabhängige, selbstständige, ja eigensinnige Frau mit Macht, physischer Kraft und viel Power. Das macht sie in der Krimiwelt einzigartig. Sie hat zwei Liebhaber gleichzeitig, die auch noch voneinander wissen. Der eine ist ein international bekannter Kunsthändler, der zum Jet Set gehört, der andere ein Kunstmaler, der im Ort arbeitet, seine Bilder aber unter Pseudonym veröffentlicht. Nicolas de Sausquebord heisst der Kunstmaler. Seine grossformatigen Bilder veröffentlicht er unter dem Namen CLAC. Für die Bilder zahlt der Kunstmarkt Millionen – CLAC erinnert also etwas an den mysteriösen englischen Künstler Banksy.

Bis auf Isabelle und ihren Kunsthändlerfreund weiss kaum jemand, dass hinter CLAC der Maler Nicolas steht, gross, schlaksig, die langen Haare im Nacken zum Pferdeschwanz gebunden und trotz seiner Arbeit im Atelier braun gebrannt, weil er sich viele schöpferische Pausen an der frischen Luft gönnt. Dieser Nicolas hält Isabelle mehr auf Trab als die eingemauerte Leiche. Er verschwindet nämlich zu Beginn der Geschichte und meldet sich dann aus einem Gefängnis in Marokko: Er sitzt in Marrakech in Untersuchungshaft. Isabelle Bonnet muss ihn raushauen.

Madame le Commissaire vereinigt damit viele der Eigenschaften auf sich, die männliche Hauptfiguren von Krimis oft aufweisen: sie ist kampferprobt, clever, unabhängig und zögert nicht, auch in Marrakech nach dem Rechten zu sehen. Sie fährt ein altes Ford Mustang Cabrio, einen blubbernden Achtzylinder, der leider im Lauf der Geschichte das Zeitliche segnen muss. Sie wird von den Männern im Dorf zum Pétanque eingeladen und gewinnt regelmässig. Nach dem Spiel lädt sie jeweils ihre Kombattanten ins Café des Arts zum Pastis ein. Sie weiss, was sich für eine honorige Frau gehört. Und sie hat einen Assistenten, der mit seiner eigensinnigen Art Würze in die Geschichte bringt. Er heisst Apollinaire, ist ein Umstandskrämer, hat eine Vorliebe für ausgefallene Zitate und zeichnet komplizierte Infografiken auf das Whiteboard. Seine Waffe ist aus Prinzip nicht geladen, weil er Angst hat, damit jemanden zu verletzen. Wenn es schwierig wird bei den Ermittlungen meldet er sich mit Kopfschmerzen krank.

Die beiden leben und arbeiten in Fragolin. Das ist ein fiktiver Ort im Hinterland von Saint-Tropez. Zwar führen die Ermittlungen Frau Kommissarin auch in den berühmten Ort an der Côte d’Azur, zum Beispiel ins legendäre Café Sénéquier mit seinen knallroten Markisen. Interessanter als die touristischen Attraktionen ist aber die Schilderung des französischen Alltags im Hinterland, wo Isabelle Bonnet lebt. Da holt sie auf dem Rückweg vom Joggen in der Boulangerie um die Ecke frische Croissants, tratscht mit ihrer Freundin Clodine, die einen Souvenirladen führt, und trifft Freund Nicolas in dessen Atelier. Wenn er denn zu Hause ist. Es ist französische Provinz im guten Sinn.

Mit anderen Worten: Im Laufe der Lektüre hat sich mein Misstrauen gelegt. Ganz egal, wer sich hinter dem Pseudonym Pierre Martin verbirgt – ihm (oder ihr) ist eine interessante Geschichte rund um eine originelle Hauptfigur gelungen – gute Unterhaltung für ein paar Stunden auf dem Badetuch, wenn nicht an der Côte d’Azur, dann wenigstens mit südfranzösischen Gefühlen auf dem eigenen Balkon.

Pierre Martin: Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens. Ein Provence-Krimi. Droemer Knaur, 368 Seiten, 17.50 Franken; ISBN 978-3-426-52675-0

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426526750

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426526750

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Basel, 1. August 2022, Matthias Zehnder

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