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Lorna
Paul Maar hat mit seinen Geschichten über das Sams ganze Generationen von Kindern verzaubert: Die freche Fantasiefigur mit den blauen Wunschpunkten im Gesicht, die in Reimen spricht und das Leben von Herrn Taschenbier ziemlich durcheinanderbringt, hat viele Freunde. Mit den Geschichten hat Paul Maar nicht nur Sprachwitz bewiesen, sondern auch ein Herz für Aussenseiter. Im Dezember wird Paul Maar 88 Jahre alt – zum ersten Mal hat er jetzt eine Erzählung für Erwachsene publiziert. «Lorna» ist eine klassische Novelle. Auch diese Geschichte kreist um eine Aussenseiterin: Lorna ist eine junge Frau mit einer bipolaren Störung. Paul Maar erzählt damit liebevoll, wenn auch etwas verfremdet, die Geschichte seiner Schwester Barbara und ein bisschen auch die seiner an Demenz erkrankten Ehefrau Nele. Anders als seine Kinderbücher ist «Lorna» keine lustige Geschichte: Die junge Frau verzweifelt an ihrer Krankheit und an der Psychiatrie, die ihr nicht zu helfen weiss. Und der Ich-Erzähler, er heisst Markus, scheitert in und an seiner Liebe zu Lorna. In meinem 261. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich Ihnen die Lektüre des Buchs trotzdem (oder gerade deshalb) empfehle.
Menschen, die unter einer bipolaren Störung leiden, erleben extreme Stimmungsschwankungen zwischen zwei Polen: manische und depressive Phasen wechseln sich ab wie Tag und Nacht. Die Unterschiede können extrem sein. Derselbe Mensch kann während manischen Episoden überaus aktiv, ja aggressiv sein, risikoreiches Verhalten an den Tag legen, kaum Schlaf brauchen, fast schon abheben vor lauter Energie und überzeugt sein, dass ihm alles gelingt – und während depressiver Episoden ganz in sich zusammenfallen, ohne jede Energie, Antrieb und Interesse, geplagt von Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen.

Genau so geht es Lorna in der Geschichte von Paul Maar. In einem Interview mit der «Augsburger Allgemeinen» hat Paul Maar erzählt, dass er mit der Erzählung die Geschichte seiner Schwester Barbara verarbeitet. Barbara Maar war manisch-depressiv und hat sich das Leben genommen. Sie war wesentlich jünger als Paul, nur ein wenig älter als dessen Sohn Michael. Er habe sie, sagt er, oft eher wie eine Tochter empfunden. In seiner Autobiographie «Wie alles kam» erzählt er, dass Barbara vor allem für seinen Vater das Mädchen war, das der sich ersehnt hatte.
Was Paul Maar im Buch von den Bedingungen in der Psychiatrie erzählt, hat er so erlebt, als er Barbara in der Klink besuchte. Die Geschichte spielt in den 1970er-Jahren – es sind keine schönen Szenen. So wird Lorna, als sie sich weigert, ihre Tabletten zu nehmen, mit Spritzen sediert, bis sie nicht mehr sich selber ist.
Lorna also handelt von einer psychischen Störung – aber eigentlich ist es eine Liebesgeschichte. Denn Lorna ist nicht etwa ein schwaches oder bemitleidenswertes Mädchen. Im Gegenteil: Sie ist das Mädchen, in das alle verliebt sind. Paul Maar sagte in Interviews über sie, dass er sich mit Lorna die Frau vorgestellt habe, die er gerne kennengelernt hätte, wenn seine Jugend anders verlaufen wäre. Wenn er also nicht schon vor dem Abi Nele kennengelernt hätte, die Frau, mit der er bis heute zusammenlebt.
Bevor er mit dem Schreiben der Geschichte begann, hat er Lorna gezeichnet. Wir dürfen vermuten, dass es die Zeichnung auf dem Buchumschlag ist. Die junge Frau wirkt selbstbewusst, sie hat rote Haaren und Sommersprossen. Lorna ist ein starkes Mädchen. Das macht Paul Maar gleich auf der ersten Seite klar, indem er die Geschichte des abgebrochenen Zahns von Toni Liebert erzählt, einem der Jungen in der Clique.
Dem hatte nämlich Lorna beim Fussballspielen auf dem Kirchplatz genau ins Gesicht geschossen. War keine Absicht. Der Zahn war hinterher trotzdem eine Ruine. Lorna war eine gute Spielerin, und jeder wollte sie in seiner Mannschaft haben. (Seite 7)
Diese vier Sätze zeigen gut, wie Paul Maar schreibt. Die Sprache ist knapp. Ohne Wertung, fast schon naiv, werden die Gedanken von Ich-Erzähler Markus wiedergegeben. Jeder Satz sitzt. So zeigt Paul Maar in diesen wenigen Worten – und er zeigt es, er sagt es nicht explizit – , dass Lorna mehr Kraft hat, als sie selber weiss und dass es manchmal für ihr Umfeld zu viel Kraft ist. Toni Liebert kostet es einen Zahn. Trotzdem ist Lorna beliebt, weil sie eine gute Spielerin ist. Das heisst auch: Sie kann sich in ein Team einfügen, für die Mannschaft spielen, nicht nur für sich selbst. Und dann sieht sie erst noch gut aus.
Wir erleben die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Markus, einem etwas schüchternen Jungen, der auf derselben Etage wie Lorna im Hochhaus wohnt.
Alle in unserer Clique waren mehr oder weniger in Lorna verliebt. Wir schwärmten uns gegenseitig vor, wie gut ihr die langen roten Haare standen und wie sehr die grünen Augen dazu passten. Irgendwie irisch, nannte es Roland. Dabei war uns natürlich klar, dass sie nicht direkt aus Irland kam. Ihre alleinerziehende Mutter, Frau Grassnitzer, war aus Prenzburg zu uns ins Hochhaus gezogen. Frau Grassnitzer hatte dunkelblonde Haare. Lorna hatte ihre Haarfarbe wohl vom Vater geerbt. Der war britischer Soldat gewesen, und hatte Lornas Mutter schon vor der Geburt seiner Tochter Richtung Belfast verlassen. (Seite 10)
Auch der Vater von Markus hat die Familie verlassen, nicht Richtung Belfast, sondern Richtung Marietta. Markus kann nicht begreifen, was an dieser Marietta besser sein sollte als an seiner Mutter. Marietta schminkt sich stark. Markus findet, ihr Gesicht sei so was von angemalt. Lorna sagt, es sei überschminkt.
Zuerst will Lorna nichts von Markus wissen. Sie, die jeden in der Siedlung hätte haben können, verliebt sich in Magnus Schmidt, den die anderen «Hinkebein» nennen, weil er Kinderlähmung hatte. Er hinkt, weil das rechte Bein verkürzt ist und auch der rechte Arm ist halb gelähmt.
Markus bleibt aber in Lorna verliebt. Später kommen Lorna und er doch noch zusammen. Markus weiss nicht genau, warum sie ein Paar werden. Er sagt, die Initiative sei von Lorna ausgegangen. Sie ist da schon zu Hause ausgezogen und lebt mit zwei Freundinnen in einer WG, einer Wohnung in einem Haus, das nie fertig gebaut wurde. Lorna und Markus haben Pläne. Sie will Psychologie oder Sozialpädagogik studieren, er will an die Kunstakademie. Doch dann verändert sich Lorna. Sie wird unruhig, aggressiv und unberechenbar.
Was mir zuerst auffiel, waren die Pupillen in Lornas verweinten, rot umrandeten Augen. Sie waren ungewöhnlich gross. Dazu kam eine Hektik in ihren Bewegungen, offensichtlich eine starke innere Unruhe. Lorna dass am Tisch, stand auf, ging ein paar Schritte auf und ab, setzte sich wieder und beschäftigte sich mit einer auf dem Tisch zurückgebliebenen Serviette: faltete sie zu einem Dreieck, zog es wieder auseinander, bildete daraus eine Röhre, zerknüllte sie und warf sie quer durchs Zimmer in Richtung des Papierkorbs unter dem kleinen Schreibtisch. Dass sie das Ziel verfehlte und die geknüllte Serviette auf dem Schaffellteppich landete, kümmerte sie nicht das Geschoss blieb da liegen. Ich stand auf und warf die Serviette in den Papierkorb.
«Deutscher Saubermann!», kommentierte sie mit einer Aggression in der Stimme, die ich so bei ihr noch nie gehört hatte. «Papier auf dem Teppich ist wohl streng verboten?» Ich zuckte mit den Achseln und setzte mich wieder neben sie. (Seite 45f.)
Auch da sagt Paul Maar nichts von einer manischen Episode, er zeigt sie. Die Unruhe, das Brodeln, die Aggression. Lorna hat immer häufiger solche Phasen, in denen sie extrem aggressiv wird. Irgendwann legt sie Feuer in der WG, vor der Tür ihrer Mitbewohnerin Katharina. Lorna kommt in die Psychiatrie. Katharina ist daran nicht ganz unschuldig. Sie hat die Brandstiftung angezeigt. Lorna kommt wieder raus aus der Klinik. Und wird wieder eingeliefert. Sie kommt wieder raus. Und wieder rein. Immer wieder. Lorna leidet – und wir mit ihr.
Weder Markus noch Lorna sind dem gewachsen und ihre Liebe schon gar nicht. Die Polizei ist hart, die Welt der Psychiatrie, wir sind in den 70er-Jahren, ist kalt. Niemand hat Verständnis für die Krankheit von Lorna. Auch Markus versteht die Krankheit nicht. So löst sich zwischen all den Spritzen und den Gurten, die Lorna still halten sollen, die Liebe langsam auf. Auch daran hat Katharina ihren Anteil.
Markus ist daran nicht unschuldig. Gar nicht. Aber er weiss es nicht besser. Er ist, auf eine ganz andere Weise, genauso Opfer wie Lorna. Am Ende spuckt ihn das Krankenhaus durch die Drehtür aus nach draussen, in die Welt. Markus muss weiterleben, Lorna kann das nicht mehr.

Und Paul Maar? Warum hat er diese Geschichte geschrieben? Ich vermute, es geht nicht nur um seine Schwester. Vor sechs Jahren ist seine Frau Nele an Alzheimer erkrankt. Mittlerweile erkennt sie ihn nicht mehr. Maar hat sich schon einmal mit der Demenz seiner Frau auseinandergesetzt und ein Theaterstück für Kinder geschrieben: «Opa Bär und die Menz». Darin legt Opa Bär manchmal die Handtücher in den Kühlschrank. Oder sagt «Haselflocken» statt «Haferflocken». Übertragen in eine heitere Tiergeschichte thematisiert Maar die grosse Herausforderung durch die Krankheit und sensibilisiert die Kinder dafür.
So lässt sich auch «Lorna» lesen: Als sorgfältiges Sensibilisieren für eine psychische Erkrankung. Aber auch als Coming-of-Age-Roman mit einer Liebesgeschichte, die alle Beteiligten überfordert. Nach der Lektüre bleibt ein warmes Gefühl zurück. Für Menschen, die anders sind, als wir es von ihnen erwarten. Für unsere Unzulänglichkeit, die wir an den Tag legen – im Umgang mit diesen Menschen und mit unseren Wünschen und Sehnsüchten. Und ein warmes Gefühl für Paul Maar, der mit 88 noch so wunderbare Geschichten schreibt.
Paul Maar: Lorna. Novelle. S. Fischer, 112 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-10-397700-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103977004
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 26. Juni 2025, Matthias Zehnder
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