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Long Island

Publiziert am 6. Juni 2024 von Matthias Zehnder

2009 hat Colm Tóibín die Geschichte von Eilis Lacey erzählt, einer jungen Frau aus Irland, die in den 1950er-Jahren in die USA auswandert. Auswandern muss, weil sie in Irland keine Arbeit findet und ihre Familie ihr über einen Priester in Brooklyn eine Stelle besorgt. «Brooklyn» hiess der Roman. Colm Tóibín schildert, wie Eilis sich schrittweise in New York ein eigenes Leben aufbaut. Die Verfilmung der Geschichte mit Saoirse Ronan in der Hauptrolle wurde mit dem BAFTA Award ausgezeichnet und für drei Oscars nominiert. Jetzt hat Colm Tóibín zu seiner eigenen Überraschung, wie er sagte, eine Fortsetzung des Romans geschrieben: «Long Island» heisst das Buch. Es beginnt mit einem Schock für Eilis und führt sie zurück nach Irland. Wieder steckt sie fest in ihrer eigenen Unentschlossenheit, in ambivalenten Gefühlen und der Unfähigkeit, sie mitzuteilen. In meinem 207. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich unbedingt lohnt, die Bücher von Colm Tóibín zu lesen und nicht die Verfilmung anzuschauen – auch wenn Saoirse Ronan zu recht eine Oscar-Nomination als beste Hauptdarstellerin erhalten hat.

Enniscorthy ist eine kleine Stadt im Südosten von Irland, südlich von Dublin, etwa auf der Höhe von Limerick, gut zwanzig Kilometer hinter der Küste. Hier ist Eilis Lacey als Jüngstes von mehreren Geschwistern aufgewachsen. Obwohl sie intelligent und gut ausgebildet ist, findet sie im Irland der 1950er-Jahre keine Stelle. Es bleibt ihr nur ein Aushilfsjob im Laden der grimmigen Miss Kelly. Ihre Schwester Rose arrangiert deshalb ein Treffen mit einem irischen Priester, der nach New York ausgewandert ist. Dieser Father Flood organisiert Eilis einen Job in Brooklyn und sorgt dafür, dass sie am Brooklyn-College studieren kann. Eilis leidet furchtbar unter Heimweh, die Arbeit im amerikanischen Warenhaus ist langweilig und ihre Zimmerwirtin, Mrs Kehoe, ist äusserst streng. An einem Tanzabend in der Gemeinde von Father Flood lernt Eilis Tony Fiorello kennen, einen Klempner, dessen Familie aus Italien eingewandert ist. Langsam kehrt Farbe ein ins Leben von Eilis Lacey. Da teilt ihr Father Flood mit, dass ihre Schwester Rose plötzlich an einer Herzkrankheit verstorben sei. Eilis muss nach Irland zurückkehren und ihre Mutter besuchen. Tony hat Angst, sie zu verlieren. Er überredet sie deshalb, ihn vor der Abreise heimlich zu heiraten.

In Irland fügt  sich Eilis wieder ein in die Gesellschaft von Enniscorthy, wo alle einander kennen, alles voneinander zu wissen scheinen und sich deshalb nichts sagen müssen. Eilis verbringt viel Zeit mit ihrer Freundin Nancy, deren Verlobten George und dessen Freund Jim Farell. Sie verpasst es , zu erwähnen, dass sie in Amerika geheiratet hat – und irgendwann ist es zu spät, es noch zu sagen. Jim verliebt sich in Eilis, die beiden treffen sich, sie gehen zusammen schwimmen, sie küssen sich. Die Mutter von Eilis ist begeistert: Jim gilt als gute Partie, weil er das Pub seiner Eltern übernehmen wird. Eilis kommt ihr Leben in Amerika vor wie ein schwerer Traum, der langsam verblasst. Sie zögert ihre Rückkehr hinaus, die Briefe von Tony lässt sie ungeöffnet. Bis Miss Kelly, die grimmige Ladenbesitzerin in Enniscorthy, ihr eröffnet, dass sie Bescheid weiss über Tony. Miss Kelly ist mit der Zimmerwirtin von Eilis in Brooklyn verwandt, die beiden telefonieren regelmässig miteinander. Eilis entscheidet sich sofort: Sie bucht fluchtartig ihre Heimreise, gesteht ihrer Mutter die Heirat mit Tony und verabschiedet sich von Jim schriftlich mit einem kurzen Brief.

Diese Geschichte hat Colm Tóibín in «Brooklyn» erzählt. Das Spannende an dem Buch ist die Unentschlossenheit von Eilis. Sie kann nur selten für sich selbst entscheiden. Die Familie schickt sie nach New York, Father Flood besorgt ihr eine Stelle und sorgt für ihre Ausbildung, die Zimmerwirtin und die anderen Mieterinnen überwachen ihre Garderobe und ihr Make-Up, Tony überzeugt sie, ihn zu heiraten. Die Ambiguität der Wünsche und Gefühle von Eilis hat Colm Tóibín in seinem Buch meisterhaft geschildert. Deshalb sollten sie unbedingt zum Buch greifen, wenn Sie sich für diese Vorgeschichte interessieren. Die Verfilmung mit Saoirse Ronan ist zwar gut gelungen; der Film wurde immerhin mit dem BAFTA Award als bester britischer Film ausgezeichnet und holte 2016 drei Oscar-Nominierung, darunter die Nominierung für den besten Film und für die beste Hauptdarstellerin. Der Film ist sehr schön ausgestattet und führt perfekt vor Augen, wie es in Irland und in Brooklyn in den 1950er-Jahren ausgesehen hat. Aber der Film kann dieses unentschlossene Gleichgewicht der Gefühle von Eilis nur unzureichend zeigen. Dafür sollten sie zum Buch greifen, oder zum soeben erschienen Hörbuch: Katja Danowski macht genau diese Unentschlossenheit hörbar.

«Brooklyn» ist 2009 erschienen. Jetzt hat Colm Tóibín die Geschichte weitererzählt. Es handle sich dabei  nicht um ein Sequel, sagte er gegenüber der «New York Times». Er habe nie vorgehabt, die Geschichte weiterzuerzählen. Ihm sei aber eines Tages eine Szene mit Eilis eingefallen, die einen Roman in Gang bringen könnte. Mit dieser Szene beginnt das Buch.

Seit Eilis Hals über Kopf aus Irland abgereist und zu Tony zurückgekehrt ist, sind 25 Jahre vergangen. «Long Island» spielt also etwa 1976. Eilis ist mit Tony verheiratet, die beiden haben zwei Kinder. Tochter Rosella wird bald aufs College gehen, Sohn Larry ist noch ein rebellischer Teenager. Sie leben nicht mehr in Brooklyn, sondern auf Long Island. Da haben Tony und seine Brüder vier Häuser gebaut, je eines für einen Sohn mit Familie und eins für die Eltern Fiorello. Es ist schön auf Long Island, Eilis hat den Aufstieg von der mittellosen Einwanderin zum Mittelstand geschafft. Bloss ist die Grossfamilie von Tony durch und durch italienisch. Sie reden wie Italiener, sie denken wie Italiener und sie verhalten sich wie Italiener. Sie treffen sich zum Beispiel jeden Sonntag zum grossen Familienessen. Mama Fiorella hat ihren Clan fest im Griff. Eilis besorgt die Buchhaltung in der Firma der Brüder, fühlt sich aber sonst in der Familie fremd. Es hat sich, wieder, dieses Gleichgewicht der Gefühle eingestellt. Da klingelt eines Tages ein Fremder an der Tür von Eilis, ein Ire.

Als es an der Tür klingelte, stand Eilis langsam auf in der Annahme, es sei einer von Larrys Cousins, der mit ihrem Sohn spielen wollte. Im Flur erschien allerdings durch das Mattglas der Haustür der Umriss eines Mannes. Erst als er ihren Namen rief, kam ihr der Gedanke, dass das der Mann war, von dem Francesca gesprochen hatte. Sie öffnete die Tür.
«Sie sind Eilis Fiorello?»
Der Akzent war irisch, dachte sie, mit einem Anflug von Donegal, wie ein Lehrer, den sie auf der Schule gehabt hatte. Auch wie der Mann dastand, als machte er sich auf einen Streit gefasst, erinnerte sie an die Heimat.
«Bin ich», sagte sie.
«Ich hab Sie gesucht.»
Sein Ton war fast aggressiv. Sie fragte sich, ob Tonys Firma ihm vielleicht Geld schuldete.
«Hat man mir gesagt.»
«Sie sind die Frau vom Klempner?»
Da die Frage barsch klang, sah sie keinen Grund zu antworten.
«Er versteht sein Geschäft, Ihr Mann. Ich wette, er ist sehr gefragt.»
Er hielt kurz inne, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte.
«Bei uns zu Haus hat er alles perfekt erledigt», sagte er weiter und zeigte mit einem Finger auf sie, «er hat sogar etwas mehr gemacht als vereinbart. Ja, er ist regelmäßig wiedergekommen, wenn er wusste, dass die Frau im Haus sein würde und ich nicht. Und er ist so gut im Rohrverlegen, dass sie im August ein Kind von ihm kriegt.»
Er trat einen Schritt zurück und quittierte ihre ungläubige Miene mit einem breiten Grinsen.
«Genau. Deswegen bin ich hier. Und ich kann Ihnen schriftlich geben, dass ich nicht der Vater bin. Ich hatte nichts damit zu tun. Aber ich bin mit der Frau verheiratet, die dieses Kind kriegt, und falls einer glaubt, ich würde das Balg eines italienischen Klempners in mein Haus aufnehmen und würde mir anhören, wie es mitten in der Nacht plärrt, und meine Kinder glauben lassen, es wäre auf genauso anständige Weise auf die Welt gekommen wie sie, dann hat er sich geschnitten!»
Er streckte ihr wieder einen Finger entgegen.
«Sobald dieses Hurenbalg also da ist, nehme ich es und liefere es hier ab. Und wenn Sie dann nicht zu Hause sind, dann drücke ich es dieser anderen Frau in die Hand. Und wenn überhaupt keiner da ist, in keinem eurer Häuser, dann lege ich es genau hier vor Ihrer Tür ab.»
Er trat ein paar Schritte näher und senkte die Stimme.
«Und Ihrem Mann können Sie von mir ausrichten, wenn er sich je wieder in der Nähe meines Hauses blicken lässt, geh ich mit einer Brechstange auf ihn los, die ich parat habe. Haben Sie das verstanden?»
Eilis wollte ihn fragen, aus welcher Gegend von Irland er stammte, als nähme sie nicht zur Kenntnis, was er gerade gesagt hatte, aber er hatte sich schon abgewandt. Sie versuchte, sich etwas anderes zu überlegen, was ihn vielleicht aufhalten könnte.
«Haben Sie das verstanden?«, fragte er noch einmal, als er sein Auto erreicht hatte.
Da sie keine Antwort gab, tat er so, als wollte er wieder zurückkommen.
«Wir sehen uns im August, vielleicht auch schon Ende Juli, und das wird dann das letzte Mal sein, dass ich Sie sehe, Eilis.» (Seite 7f.)

Das ist die Szene, die Colm Tóibín einfiel. Sie ändert alles. Dass eine fremde Frau ein Kind von Tony kriegt, bringt Eilis aus dem Gleichgewicht. Sie schluckt nicht mehr alles, was ihre italienische Familie von ihr verlangt. Sie weigert sich, das Kind aufzunehmen. Sie will nicht im Haus sein, wenn der Mann das Kind bringt. Nicht im Haus, nicht in der Stadt, nicht einmal im Land. Sie reist zurück nach Irland. Anlass dazu gibt es genug: Ihre Mutter wird ihren 80. Geburtstag feiern und die Tochter ihrer Freundin Nancy soll heiraten. Also packt Eilis den Koffer. Diesmal lässt sie sich von Tony nicht zu einem Versprechen überreden, dass sie zurückkommt. Alles ist offen.

In Irland, in Enniscorthy, trifft sie wieder auf Jim Farrell. Eilis weiss nicht, dass Jim mit ihrer Freundin Nancy verlobt ist. Deren Mann ist fünf Jahre zuvor gestorben, sie unterhält schon länger heimlich eine Beziehung mit Jim. Als Eilis plötzlich wieder auftaucht, bringt sie auch in Irland alles aus dem Gleichgewicht. Ihre eigene Familie, ihre Mutter und vor allem Jim Farrell. Er ist bereit, für Eilis alles stehen und liegen zu lassen. Die Frage ist bloss: Was will Eilis?

Auch in «Long Island» zeigt Colm Tóibín eindrücklich, welche Konsequenzen es hat, nicht miteinander zu reden. Eilis fällt zwar am Anfang des Buchs einen eigenen Entscheid, das fremde Kind nicht ins Haus zu nehmen. Danach bleibt aber, wie in «Brooklyn» vieles unausgesprochen und vage. Sie verhält sich so, wie sie denkt, dass andere es von ihr erwarten. Ich gebe Ihnen zwei kurze Beispiele dafür.

Mit Tony hat sie nach der ersten Konfrontation nie wirklich über das Kind und ihre Gefühle gesprochen. Ihre Schwiegermutter hat die Organisation übernommen, die Söhne fügen sich. Tony fährt sie schliesslich zum Flughafen. Es ist die letzte Gelegenheit, sich auszusprechen. Eilis fragt sich, ob sie ihm sagen soll, dass sie ausziehen wird, wenn das Kind auch nur eine Nacht in ihrem Haus verbringt.

Sie wusste, dass das, wäre es einmal gesagt, alles zwischen ihnen ändern würde. Bislang hatte sie sich gehütet, es auszusprechen. Während sie langsam durch den Verkehr vorankamen, probierte sie, wie sie es jetzt sagen könnte.
Sie konnte sagen: «Wenn du das Kind ins Haus nimmst, verlasse ich dich und nehme die Kinder mit», oder «Es ist mein Ernst, wenn ich sage, dass ich nicht will, dass deine Mutter das Kind aufnimmt. Kannst du mir versprechen, dass das nicht geschehen wird?» Sie probierte im Geiste noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten, ihm ihren Standpunkt klarzumachen, doch keine schien ihr die richtige.
Und dann begriff sie, was das Problem war. Tony hatte bereits erraten, was sie sagen wollte, und tat jetzt, während er geradeaus auf die Straße starrte, irgendetwas, um sie davon abzuhalten zu sagen, was sie sagen musste. Es war nichts Offensichtliches, nichts, wogegen sie hätte argumentieren oder was sie hätte entkräften können. Es zeigte sich nicht in seinem Gesicht; sie konnte es weder an seiner Atmung noch an seiner Fahrweise erkennen. Und dennoch spürte sie, dass er dabei war, sich mit einer Aura von Verletzlichkeit oder sogar von Unschuld zu umgeben, die sie daran hindern würde, etwas Schroffes und Unwiderrufliches zu sagen, eine Drohung auszusprechen, die sie nicht würde zurücknehmen können. (Seite 148)

Das Problem ist also nicht, was Eilis und Tony zueinander sagen, sondern das, was sie voneinander denken. Wei sie nichts sagen, können sie auch nicht miteinander argumentieren. Es gibt nichts zu entkräften oder zu widerlegen. Es gibt nur Vermutungen – und Schweigen. Das ist in Irland nicht anders. Ihrer Mutter erzählt sie nichts von den Schwierigkeiten mit Tony. Die erfährt es aber trotzdem, weil Larry es ihr erzählt.

Ihre Mutter, dachte sie, nahm ihr bestimmt übel, dass sie sich ihr nicht anvertraut hatte, so wie sie es ihrerseits ihrer Mutter übelnahm, dass sie Larrys Unfähigkeit ausgenutzt hatte, Geheimnisse für sich zu behalten. Möglicherweise wartete ihre Mutter darauf, mit ihr über das Thema zu sprechen, aber es gab nichts, was sie hätte sagen können. Sie konnte ihrer Mutter kaum erzählen, dass sie vergangene Woche eine Nacht mit Jim Farrell in einem Zimmer im Montrose Hotel in Dublin verbracht hatte. Ebenso wenig konnte sie ihr sagen, was sie wegen Tony zu unternehmen gedachte, da sie es selbst noch nicht wusste. (Seite 233)

Es gab nichts, was sie hätte sagen können. Zum einen, weil sich Eilis und auch all die anderen um sie herum in den Annahmen darüber verstricken, was das Gegenüber wohl denken und antworten könnte. Zum anderen, weil sie selbst nicht weiss, was sie will, und Wörter, wenn sie einmal ausgesprochen sind, sich nicht mehr zurücknehmen lassen. So ziehen sich alle in ihr Schweigen zurück, weil sie sich alle Möglichkeiten offen halten möchten – und verbauen sich gerade damit die Wirklichkeit. Nur eine Person hält sich nicht daran. Wer das ist, das verrate ich Ihnen nicht. Aber es sorgt für die Entscheidung in Irland.

Colm Tóibín: Long Island. Übersetzung: Giovanni und Ditte Bandini. Hanser, 320 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-446-27947-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279476

Das Hörbuch zu «Brooklin»: Colm Tóibín, Katja Danowski: Brooklyn. Hörbuch. Goyalit, Jumbo Neue Medien & Verlag GmbH, 14 Franken. ISBN 9783833747663

Erhältlich ist es hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-2244072892868

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Basel, 6. Juni 2024, Matthias Zehnder

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