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Lichtspiel
«Die freudlose Gasse» und «Die Büchse der Pandora» sind spektakulär gute Filme. Vermutlich sagen Ihnen diese Titel dennoch nichts: Gedreht wurden sie nämlich 1925 und 1929. Regie führte Georg Wilhelm Pabst. Dieser G.W. Pabst war einer der ganz grossen Regisseure der Weimarer Republik. Anders als Fritz Lang und Ernst Lubitsch ist er aber in Vergessenheit geraten. Ein Grund dafür: Pabst konnte sich in den 30er Jahren in Hollywood nicht durchsetzen und kehrte nach Europa zurück. Da, in Österreich, wurde er 1939 vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht. Als alle Versuche scheiterten, aus dem Deutschen Reich auszureisen, gab Pabst dem Druck der Nazis nach und drehte für sie Filme. Nach dem Krieg konnte er nicht mehr an den Erfolg in den 20er Jahren anknüpfen. In seinem neuen Roman «Lichtspiel» erzählt Daniel Kehlmann, was wirklich hinter dieser Geschichte steckt. Se non e vero, e ben trovato: Und wenn es nicht wahr ist, dann ist es so gut erfunden, dass es keine Rolle spielt, ob das Erzählte der Wirklichkeit entspricht. Denn wirklich ist nur das Erzählte. Und das ist im Fall von «Lichtspiel» ein Roman über das Verhältnis von Kunst und Macht. In meinem 178. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum dieser Roman über einen vergessenen Filmregisseur und seine vergessenen Filme mehr über unsere heutige Zeit und unsere heutigen Filme und Romane und Medien aussagt als so manche Analyse.
Die Eckdaten sind schnell aufgezählt: Georg Wilhelm Pabst, geboren 1885 in Böhmen, gestorben 1967 in Wien, war ein österreichischer Filmregisseur. Zur Zeit der Weimarer Republik, also zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten, gehörte er zu den ganz grossen Filmregisseuren. 1925 hat er Greta Garbo und Asta Nielsen entdeckt, 1929 Louise Brooks. 1930 drehte er seinen ersten Tonfilm «Westfront 1918», einen Antikriegsfilm. Die klare Haltung seiner Filme brachte ihm den Beinamen «Der rote Pabst» ein. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wanderte er aus in die USA. Hollywood kannte seinen Ruf, bereits 1934 drehte er einen ersten Film. Doch Pabst konnte sich in Hollywood nicht durchsetzen und kehrte nach Europa zurück. 1939 wurde er in Österreich vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht. Er konnte nicht mehr ausreisen und drehte im Dritten Reich drei Filme. In seinem Roman setzt sich Daniel Kehlmann mit dem rätselhaften Absturz von G.W. Papst vom Kult-Regisseur der Zwanzigerjahre zum Propagandafilmer der NS-Zeit auseinander. Mit dem Absturz eines Regisseurs und der Frage, ob es möglich ist, Kunst unabhängig von der Welt zu schaffen, in der sie stattfindet.
Schon ganz zu Beginn des Romans sagt Papst im amerikanischen Exil zu einer Schauspielerin: «Sonst weiss ich wenig, aber wie man Filme macht, weiss ich.» (Seite 79) Das ist die Tragik des Regisseurs Papst in einem Satz: Er ist ein genialer Künstler, aber er versteht nichts von der Welt – und noch weniger von den Menschen um ihn herum. Diese Tragik arbeitet Daniel Kehlmann in seinem Roman heraus. Als Rahmenhandlung dient die Erinnerung eines dementen Regieassistenten, der in Wien in einem Altersheim lebt und sich an die Dreharbeiten eines Films in den 40er Jahren erinnert. Der Film ist verschollen. Pabst soll bei einer Konzertszene KZ-Insassen als Statisten eingesetzt haben. Die Erinnerungen des dezenten Regieassistenten sind aber sehr unzuverlässig. Kehlmann macht damit von Anfang an klar: Es kommt nicht nur auf das an, was wir leben und erleben, es kommt vor allem auf die Geschichte an, die wir danach uns selbst davon erzählen. Diese Geschichten können gleichzeitig höchst unzuverlässig und dennoch wahr sein. Genau diesen Anspruch erhebt Kehlmann mit seinem Roman. Es ist deshalb kein biografischer Roman über einen Filmregisseur, es ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Stellenwert die Kunst in der Welt hat – und umgekehrt.
«Lichtspiel» heisst der Roman. Lichtspiele, das waren die frühen verruckelten Filme, die auf Jahrmärkten auf schmutzigen Leinwänden gezeigt wurden. Sie zeigten boxende Kängurus, tanzende Paare und Spazierstöcke schwenkende Männer. Zugleich ist ein Lichtspiel der flirrende Sonnenstrahl, der sich durch die geschlossenen Fensterläden ins Zimmer stiehlt, ein tanzender Lichtstreifen, der die Fantasie entzündet. Damals, in den Anfangstagen, war der Film eine neue und unordentliche Gattung, aber das störte keinen, schliesslich war nach dem Ersten Weltkrieg die ganze Welt zerrüttet. Nur die Zukunft, die war hell.
Aber wie jeder Film eine Illusion ist, war auch die helle Zukunft blosse Einbildung. Denn die Nazis eroberten die Welt. Wie viele andere Künstler reist Pabst in die USA aus, dreht da einen Film und scheitert. Im Roman erklärt ein österreichischer Filmproduzent, der sich in Hollywood schon etabliert hat, Pabsts Ehefrau Trude das Problem:
«Schau, Trude, das hier ist eine andere Welt. Palmen stehen herum, nirgends gibt es guten Kaffee, aber die Fruchtsäfte sind erstaunlich! Weisst du, was Mango ist? Man glaubt gar nicht, wie gut eine Mango schmeckt. Wer braucht Sachertorte, sage ich immer, wenn er täglich Mango haben kann!»
«Was meinst du damit?»
«Dass man hier sehr gut lebt, wenn man das Spiel lernt. Wir sind der Hölle entkommen, eigentlich sollten wir uns den ganzen Tag freuen. Aber stattdessen tun wir uns leid, weil wir Western drehen müssen, obwohl wir allergisch gegen Pferde sind.» Er schwieg einen Moment und sagte wie zu sich selbst: «Es ist auch nicht leicht. Man niest die ganze Zeit, und nachts keucht man, als wäre man selbst ein Pferd. Aber ich sage dir, auch ein Western kann was Grosses sein! Und du musst G.W. helfen, damit er die Regeln lernt!»
«Warum ich?»
«Du bist praktischer. Er trägt den ganzen Ballast der Alten Welt mit sich. Aber das ist ein Missverständnis.» (S. 61)
Wir sind der Hölle entkommen, aber statt dass wir uns freuen, tun wir uns leid. So empfinden es viele Emigranten in den USA. Viele deutsche Kreative kommen mit Hollywood nicht zurecht. Carl Zuckmayer bezeichnet in seiner Autobiographie «Als wär’s ein Stück von mir» Hollywood als «Vorhölle». Er schreibt, nie habe er so sehr die Nebel der Depression kennengelernt wie in diesem Reich des ewigen Frühlings, in dessen künstlich bewässerten Gärten mit ihren gechlorten Swimmingpools und neohispanischen Schlössern. «Mich machte Hollywood, trotz des Checks, trotz des Wohlwollens von Frauen und Freunden, nicht ‹happy›.» Er habe «wie ein frisch eingefangener Vogel» verzweifelt nach einer Lücke zwischen den Gitterstäben gesucht. Zuckmayer hat den Käfig schliesslich zertrümmert und ist in Vermont Farmer geworden. Er schreibt: «In Hollywood sagt man nicht nein, niemals, ganz gleich, was von einem verlangt wird. Eine Ablehnung bedeutet Hinausschmiss.» G.W. Pabst hat das entweder nicht gewusst oder sich aus künstlerischen Gründen geweigert, sich den Studiobossen zu beugen. Er sagt am Rand eines «gechlorten Swimmingpools» nein, die Folge ist ein Rausschmiss. Es wird nicht klar, ob er das macht, weil er ein unbeugsamer Künstler ist oder ob er schlicht zu wenig weiss über die Welt ausserhalb des Films. Denn sonst weiss er wenig, aber wie man Filme macht, das weiss er.
Das ist die erste Entscheidung des G.W. Pabst. Die zweite Entscheidung fällt er in Berlin, im Büro von Propagandaminister Goebbels. Der hat den grossen Regisseur rufen lassen, weil er im Dienst er Nazis Filme drehen soll.
«Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann», unterbrach der Minister, «zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen. Aber das wissen Sie. Deshalb haben Sie mich ja aufgesucht. Deshalb gehen Sie nach Canossa.» (S. 207)
Diesmal gibt Pabst tatsächlich nach und beugt sich: Er lässt sich auf den Handel mit den Nazis ein. Wenn Sie jetzt denken: Verständlich, schliesslich droht ihm Goebbels mit Gefangenschaft im KZ oder gar mit der Ermordung. So einfach ist die Sache nicht. Denn anders als Zuckmayer konnte Pabst nicht damit umgehen, dass er in Hollywood ein Niemand war. In der alten Heimat war alles anders. Pabst konnte befehlen, was er wollte. Mit dem Ministerium im Rücken verspottete ihn keiner mehr. Was immer er sagte, man hörte ihm zu, und wenn man ihn doch nicht respektierte, so liess man sich das wenigstens nicht anmerken. Ist die Leitschnur von G.W. Pabst die Kunst oder doch das Ego?
Einmal, im Grunewald, stellt ihn seine Frau zur Rede. «Du hast recht», hat er schliesslich gesagt. «Aber nur halb. Denn all das geht vorbei. Aber die Kunst bleibt.»
«Selbst wenn das so ist. Selbst wenn sie bleibt, die … Kunst. Bleibt sie nicht beschmutzt? Bleibt sie nicht blutig und verdreckt?»
Ja, dieses eine Mal hat sie ihn wirklich getroffen. Verletzt hat er ausgesehen, angeschlagen, regelrecht verwundet.
«Und die Renaissance? Was ist mit den Borgia und ihren Giftmorden, was ist mit Shakespeare, der sich mit Elisabeth arrangieren musste? Gedichte kann man allein schreiben, Bilder kann man allein malen, aber Filme? Dafür braucht es immer Macht und Geld. Für jeden Film eine grosse Maschinerie. Du weisst, dass ich nicht freiwillig hier bin, aber –»
«Weiss ich das?»
«Wir sind wegen Mama gekommen, plötzlich brach der Krieg aus, und nach meinem Sturz von der Leiter war ich gefangen!»
«Das ist die Geschichte, die du jetzt erzählst?»
«Stimmt sie nicht?»
«Sie stimmt so, wie jede Geschichte stimmt … » (S. 303f.)
Das ist die Geschichte, die sich Pabst erzählt. Alles geht vorbei, nur die Kunst bleibt. Seine Kunst ist der Film und der braucht eine grosse Maschinerie und damit Macht und Geld. Seine Kunst ist ihm so wichtig, dass er sich sogar mit den Nazis arrangiert und mit dem Teufel soupiert. Und die Augen schliesst, als Statisten aus dem KZ herangekarrt werden. Die einzige, die im Roman unerbittlich mit ihm bleibt, ist seine Frau Trude. Sie fragt ihn, ob er bei Ausbruch des Kriegs wirklich vorgehabt habe, nach Hollywood zurückzukehren. Nach Hollywood, zu den Produzenten, die nicht wussten, wer Pabst war, bei denen er dann vielleicht als Assistent hätte arbeiten müssen für jemanden, der vor kurzem noch sein Assistent war. «Das wolltest du?», fragt seine Frau. Pabst antwortet:
«Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, was man will. Wichtig ist, Kunst zu machen unter den Umständen, die man vorfindet. Das hier sind jetzt meine Umstände. Und weisst du, so schlecht sind sie nicht! Ich habe gute Drehbücher und hohe Budgets und die besten Schauspieler. ‹Komödianten› ist mein bester Film seit langem, ‹Paracelsus› wird besser als alles, was Lang drüben dreht. ‹Paracelsus› wird man noch in fünfzig Jahren sehen, wenn dieser Albtraum lang vergessen ist!» (S. 304)
Sein Sohn wird später im Roman, als Pabst gestorben ist, zu Louise Brooks sagen: «Wenn er inszeniert hat, wusste er immer, was die Leute zu tun hatten. Aber er selber wusste nie wirklich, was er tun sollte.» Die Geschichten, die Pabst erzählte, lebten nur als Lichtspiele auf der Leinwand – und er selbst nur hinter der Kamera.
Während der Dreharbeiten von «Paracelsus», einem Film über den historischen Arzt im Mittelalter, fragt ihn ein Schauspieler: «Aber finden Sie es nicht seltsam, Pabst, dass wir mitten im Weltuntergang so einen Film drehen? So ein … Kunstwerk?»
«Sie sagen das, als wäre es etwas Schlechtes.»
«Eher etwas Seltsames.»
«Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.» (S. 366)
Das ist die Crux. Kunst ist immer unpassend. Sie kann sich nicht anpassen an den von Dollars regierten Markt in Hollywood – und sie kann sich nicht aufgeben unter der Diktatur der Nazis. Kunst ist immer unpassend und immer unnötig, wenn sie entsteht. Die grosse Frage ist, ob das die Künstler berechtigt, sich Ethik und Moral zu entziehen. Ob es Pabst berechtigte, KZ-Häftlinge auszubeuten und später Regisseure dazu, Frauen (und manchmal auch Männer) sexuell auszubeuten. Vielleicht haben diese Regisseure sich auch damit gerechtfertigt, dass Kunst halt immer unpassend sei. Und wenn die Kunst sich zu sehr anpasst und sich, wie Zuckmayer das beschrieb, wie ein frisch eingefangener Vogel hinter Gitterstäben aus Dollarnoten in einen Käfig einsperren lässt, dann ist sie zum Sterben verdammt. Die Frage ist, ob es zwischen diesen beiden Positionen, dem Speisen mit dem Teufel und dem Dienen im Käfig, einen Platz gibt für die Kunst. Diese Frage stellt Daniel Kehlmann in seinem Roman auf höchst packende Art und Weise. Er bietet dabei viel Einblick in die Filmgeschichte und zeigt, ganz nebenbei, dass er selbst für sich diesen Platz gefunden hat.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel. Roman. Rowohlt, 480 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-00387-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498003876
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Basel, 1. November 2023, Matthias Zehnder
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