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Lange Schatten über Spanien

Publiziert am 10. August 2022 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche geht es nach Spanien. Marc Wiederkehr erzählt auf zwei Zeitebenen die Geschichte von André Jobin, einem Schweizer, der als Kämpfer am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hat. Das Schicksal führt Jobin 1936 bis 1938 an verschiedene Wendepunkte der spanischen Geschichte. Er wird mehrfach gefangen gesetzt, des Mordes an einem Anarchistenführer verdächtigt, kämpft im Feld und landet schliesslich in einem spanischen Konzentrationslager. Dabei ist er kein Kriegsheld und kein heroischer Kämpfer. Der Schweizer stolpert eher zufällig in die Weltgeschichte und geht, beinahe, darin unter. In meinem 116. Buchtipp sage ich Ihnen, warum sich diese literarische Reise nach Spanien lohnt.

 

San Pedro de Cardeña ist eine Zisterzienser-Abtei im Norden von Spanien in der Nähe von Burgos. Als er das Kloster zusammen mit seiner Frau besucht, entdeckt der Ich-Erzähler im Buch von Marc Wiederkehr in einem Hinterzimmer einige von Hand in die Treppenstufen eingekerbte Inschriften. Daten, Namen und Vornamen spanischer Herkunft, aber auch englische, deutsche und französische Namen. Der Ich-Erzähler macht ein paar Fotos von der Treppe und vergisst den Raum wieder. Er realisiert nicht, dass er in einem Gefängnis gestanden hat: Von 1936 bis 1940 haben General Franco und sein Regime das Kloster als Konzentrationslager zur Umerziehung von republikanischen Gefangenen genutzt. 

San Pedro de Cardeña, eine Zisterzienster-Abtei im Norden von Spanien. diente den Falangisten jahrelang als Konzentrationslager. Bild: Adobe.com

Erst zu Hause fällt seiner Frau auf einem der Fotos ein Name auf: «André Jobin 1938». Der Ich-Erzähler stutzt. Was hat der Name von Onkel Jobin in einem spanischen Kloster zu suchen? Onkel Jobin war ein enger Freund der Familie, der, weil er alleine lebte, einmal die Woche zum Essen zu Gast war und von den Kindern der Familie «Onkel Jobin» genannt wurde.

Der Erzähler fragt seine Mutter nach André Jobin. Sie weiss nichts von einem Spanienaufenthalt des Nennonkels, erzählt aber, dass ihr kürzlich ein Koffer aus dem Nachlass von Jobin in die Hände gefallen sei. Ein Koffer, den nie jemand geöffnet habe. Gemeinsam öffnen Mutter und Sohn den Koffer und finden darin neben einigen persönlichen Gegenständen ein schwarzes Notizheft. Der Ich-Erzähler öffnet das Heft und beginnt zu lesen. Es sind die Aufzeichnungen von André Jobin, die er 1939 während einer Haftstrafe in der Anstalt Witzwil aufgezeichnet hat. Jobin war von einem Berner Divisionsgericht wegen fremdem Kriegsdienst zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden: Er hatte im Spanischen Bürgerkrieg mitgekämpft. Der Hauptteil des Buches gibt dieses fiktive Notizheft wieder, dessen Inhalt aber sehr nahe an der historischen Wahrheit liegt. 

Der Bürgerkrieg brach im Juli 1936 aus, weil nationalistische Soldaten unter General Francisco Franco gegen die demokratisch gewählte Regierung der Zweiten Spanischen Republik putschten. Der Spanische Bürgerkrieg steht heute im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Er hat die Auseinandersetzung zwischen Faschisten und Demokraten vorweggenommen. Auf Seiten der rechten Falangisten unter Francisco Franco kämpften die faschistischen Regierungen von Deutschland und Italien, auf Seiten der Linken Regierung kämpften 40’000 Freiwillige aus über 50 Ländern, darunter auch viele Schweizer, aber auch die Schriftsteller Ernest Hemingway und George Orwell. 

Im Roman von Marc Wiederkehr beschreibt André Jobin in seinem Notizheft, wie er 1936 in Bern von seinem Arbeitgeber entlassen und von seiner Verlobten verlassen wurde. Als er seinen Schmerz im Schnaps ertränken will, trifft er Hans Dobler, einen Freund aus der Gewerkschaft. Der schwärmt von der «Olimpiada Popular Barcelona», einer Volksolympiade in Spanien, die als Protest gegen die faschistische Olympiade in Berlin organisiert werde. Kurz entschlossen schliesst sich Jobin Hans Dobler an. Die beiden jungen Schweizer reisen mit dem Fahrrad von Bern nach Barcelona. Als sie in der katalanischen Hauptstadt ankommen, ist die Volksolympiade aber abgesagt. Stattdessen ist der Bürgerkrieg ausgebrochen. Die beiden jungen Schweizer geraten in die Kriegswirren und kämpfen mit, Hans begeistert, Jobin zunächst eher widerwillig. Er lässt sich jedoch bald von den ersten Erfolgen der Anarchisten mitreissen. 

«Ich setzte mich auf, zündete mir eine Zigarette an und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Gestern erlebte ich die erste Welle der Revolution nur als Zeuge und ich hatte nichts zum Sieg beigetragen. Beim nächsten Akt will ich auch dabei sein und aktiv mithelfen, die Putschisten in die Knie zu zwingen, um die demokratisch gewählte Regierung von Spanien zu retten. Schliesslich bin ich als Demokrat von der republikanischen Sache überzeugt. Die Anarchisten würden den Kampf mit den regulären Regierungstruppen unterstützen, und mit gemeinsamen gebündelten Kräften würden wir siegen.» (S. 44f.)

Der heroische Kampf entpuppt sich rasch als zermürbende Schinderei. Die hygienischen Bedingungen an der Front sind himmelschreiend, das Essen ist knapp und eintönig. Die Läuse, die sich in den  Kleidern einnisten, werden zum eigentlichen Hauptfeind im Sommer 1936. Jobin kämpft in einer Truppe von Anarchisten unter Anführung des legendären Buenaventura Durruti. Jobin avanciert zum Vertrauten des Anarchistenführers und wird im November Zeuge von dessen Ermordung. Weil er so nahe bei Durruti stand, wird er verdächtigt, den Anarchistenführer ermordet zu haben. Er gerät in Haft bei den eigenen Truppen. 

Geschickt führt Marc Wiederkehr Jobin nahe an verschiedene historisch wichtige Ereignisse. Der junge Schweizer kommt frei, kämpft weiter und wird sogar abdelegiert, eine Waffenlieferung aus der Schweiz in Empfang zu nehmen. Die Lieferung wird über Deckfirmen abgewickelt. Weil der stalinistische Geheimdienst NKWD involviert ist, gerät Jobin wieder in Schwierigkeiten, kann sich aber zu seiner Truppe durchschlagen. 1938 wird seine Einheit von Falangisten gefangen genommen und im Kloster San Pedro de Cardeña interniert. Während Amerikaner und Engländer rasch wieder frei kommen, weil sich deren Vaterländer um ihre Bürger kümmern, drohen die Schweizer im Gefängnis vergessen zu werden. Die offizielle Schweiz ist offenbar der Meinung, dass die Schweizer, die sich auf der Seite der Republikaner gegen die Putschisten engagiert hatten, auf der falschen Seite gekämpft haben. 

Marc Wiederkehr ist mit «Lange Schatten über Spanien» ein spannender Kriegsroman gelungen, der Krieg und Kampf nie verherrlicht. Die kleinen Leute wie André Jobin sehen sich vielmehr auf einem unübersichtlichen politischen Schachbrett immer wieder in Spiele verwickelt, die sie nicht durchschauen. Uns Lesenden wird das Buch zu einer interessanten Erinnerung an den spanischen Bürgerkrieg und die faschistische Diktatur unter General Franco. Und die ist bekanntlich noch gar nicht so lange zu Ende.

Marc Wiederkehr: Lange Schatten über Spanien. Wie ein Schweizer in den Bürgerkrieg geriet. Zytglogge, 196 Seiten, 32 Franken; ISBN 978-3-7296-5089-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729650893

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 10. August 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/