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Kremulator

Publiziert am 2. März 2023 von Matthias Zehnder

Jahrelang hat Pjotr Iljitsch Nesterenko als Direktor des Krematoriums in Moskau dafür gesorgt, dass von den zum Tod verurteilten Feinden des sowjetischen Regimes nur ein Häufchen Asche übrig bleibt. 1941, am Tag nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, ist er selber dran und wird verhaftet. In Verhören mit dem Geheimdienst erzählt er im neuen Roman von Sasha Filipenko sein Leben. Es ist ein zerfleddertes Schicksal, in das im Verhör nur ein Geheimdienstoffizier Sinn hineinlesen kann. Der Roman erzählt mit schwarzem Humor und viel Sarkasmus die sowjetische Diktatur aus der Sicht des Krematoriumsbetreibers. In meinem 143. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, diesen bitterbös-schmissigen Roman zu lesen, auch wenn er definitiv nichts ist für schwache Nerven. Das gilt, nebenbei gesagt, auch für diesen Buchtipp.

Am 22. Juni 1941 überfällt die deutsche Armee die Sowjetunion: Mit beinahe 3,3 Millionen Soldaten greift die Wehrmacht  an – ohne Kriegserklärung notabene. Hitler will den Erfolg seiner «Blitzkrieg-Strategie» im Osten fortsetzen. Am Tag nach dem Angriff verhaftet der Geheimdienst in Moskau über 1000 Menschen, angeblich alles Spione und Saboteure. Es sind nicht mehr viele übrig geblieben, die man noch verhaften könnte. Allein 1937 haben die Geheimdienste über 100’000 Menschen in der Sowjetunion verhaftet und erschossen. Für das Todesurteil genügte der blosse Verdacht auf pro-polnische Umtriebe.

1941 erwischt es auch Pjotr Iljitsch Nesterenko, 55 Jahre alt und Direktor des Moskauer Krematoriums. In seinen Öfen sind in den letzten Jahren alle «Staatsfeinde» gelandet, – jetzt sitzt er selber im Verhör beim berüchtigten sowjetischen Geheimdienst NKWD in Saratow. Die Verhörprotokolle sind der Kern des neuen Romans von Sasha Filipenko. Es ist ein zynisch-sarkastischer Blick auf die Gewaltherrschaft eines Diktators. «Alles in diesem Buch ist wahr – selbst das Erfundene.» Diesen Satz stellt Filipenko dem Roman als Motto voran. Er gibt den Ton vor: Das Buch oszilliert zwischen historischer Faktentreue und erfundener Münchhausiade. Wahr sind dabei vor allem die erfundenen Passagen.

Nesterenko schildert dem Verhöroffizier, einem jungen Burschen namens Perepeliza, sein Leben, in dem sich die wilde Geschichte der Sowjetunion spiegelt. Er dient im Ersten Weltkrieg in der noch zaristischen Armee, er überlebt Revolution und Bürgerkrieg, flüchtet nach Paris und kehrt schliesslich in die Sowjetunion zurück. Hier wird er Direktor des Krematoriums von Moskau und damit so etwas wie der Pförtner des Hinterausgangs der Diktatur. Denn bei ihm werden die Staatsfeinde angeliefert, die ein paar Strassen weiter erschossen worden sind. Jeden Abend einige Lastwagen voll – täglich sind es Dutzende, die Nesterenko in seine Öfen lädt.

«Eines Tages begannen bei mir im Krematorium nicht mehr nur Leichen wildfremder Staatsbürger einzutreffen, sondern auch jene Leute, die viele Jahre lang genau diese Leichen geliefert hatten. Wirklich wahr – sogar Golow habe ich kremiert. Tausende von Toten hatte er mir auf den Donskoi-Friedhof gebracht, und wie viel Wodka hatten wir zusammen getrunken, doch auf einmal wurde er verhaftet, und ein paar Monate später plumpste die vertraute Gestalt von der Ladefläche.» (S. 49)

«Das Verhör ist ein Rechtsmittel zur Beschaffung und Verifizierung von Beweisen sowie ein effektives Mittel zur erzieherischen Einwirkung auf die einzuvernehmende Person.» So zitiert Filipenko eine Richtlinie der sowjetischen Polizei. Vor allem ist das Verhör ganz offensichtlich ein Mittel, dem Sinn eines Lebens auf die Spur zu kommen. Denn Verhöroffizier Perepeliza gelingt, woran Nesterenko selbst immer gescheitert ist:

«In meinem wechselhaften, zerfledderten Schicksal findet der junge Ermittler eine Gesetzmässigkeit, einen Sinn. Ich dachte immer, mein Leben sei eine Aneinanderreihung zusammenhangsloser Episoden, aber nein. Perepeliza bringt es fertig, alles, was in meinem Leben je passiert ist, mit dem Wunsch zu erklären, mich eines Tages am Genossen Stalin zu rächen.» (S. 201)

So, wie Filipenko Politik und Zeitgeschichte auf den Kopf stellt, indem er sie quasi von hinten, vom Krematorium her erzählt, stellt das Verhör also das Leben auf den Kopf und liest vom Ende her Absicht und damit Sinn in jedes noch so zerfledderte Schicksal.

Deshalb sollten auch wir diesen Roman von hinten her lesen. Und das heisst: Vom Jetzt des Jahres 2023 aus auf die irrwitzige Story zurückschauen, die im Jahr 1941 spielt und uns dennoch das zerfledderte Schicksal Russlands besser erklärt, als manches Geschichtsbuch. Und das erst noch schmissig.

«Der Kremulator» von Sasha Filipenko ist, übersetzt von Ruth Altenhofer, im Diogenes-Verlag erschienen und mein Buch der Woche.

Sasha Filipenko: Kremulator. Roman. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes, 304 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-257-07239-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072396

Einen weiteren Buchtipp zu einem Roman von Sasha Filipenko gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-jagd/

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 2. März 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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