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Königsmörder

Publiziert am 8. Dezember 2022 von Matthias Zehnder

1649 wurde König Karl I. in London enthauptet. 59 Mitglieder des High Court hatten das Todesurteil des Königs unterzeichnet. Das Parlament erklärte England zur Republik. Regiert wurde sie von Oliver Cromwell. Nach dessen Tod 1658 kam es zur Restauration der Stuart-Monarchie: Karls Sohn übernahm die Regierung und wurde zu Karl II. gekrönt. Mit unerbittlicher Härte verfolgte er alle Männer, die das Todesurteil eines Vaters unterschrieben hatten. Die Männer galten als Königsmörder. In seinem neuen Roman schildert Robert Harris die Menschenjagd nach diesen Königsmördern. Insbesondere die Fahndung nach zwei Offizieren von Cromwells Armee. Die beiden flüchten nach Neuengland, zunächst nach Boston und dann in die Puritaner-Siedlung New Haven. Englische Häscher sind ihnen dabei dicht auf den Fersen. Königliche wie Puritaner zeichnen sich durch einen unglaublichen Fanatismus aus. Beide kämpfen sie einen heiligen Krieg. Die einen ziehen für ihren König, die anderen für ihren Herrgott in die Schlacht. In meinem 133. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich auch dann lohnt, dieses Buch zu lesen, wenn Sie sich nicht für Geschichte interessieren.

Nach dem Bürgerkrieg zwischen den Königlichen und der Parlamentsarmee sehnt sich England in den 60er-Jahren des 17. Jahrhunderts nach Ruhe und Frieden. König Karl II. erlässt deshalb eine Generalamnestie für alle, die am Bürgerkrieg beteiligt waren. Ausgenommen sind nur jene 59 Männer, die das Todesurteil von König Karl I. unterschrieben haben: Sie gelten als Königsmörder. Zwanzig Männer sind bereits gestorben. Eine ganze Reihe ist verhaftet und liegt in Ketten. Sie werden öffentlich hingerichtet – und zwar nicht schnell durch das Beil oder den Strang, sondern langsam und grausam. Dreizehn Männer sind zu Beginn des Romans noch auf der Flucht. Einige von ihnen werden rasch in Amsterdam verhaftet. Und zwar von englischen Truppen, die dafür under cover in den Niederlanden operieren. Zwei Männern gelingt die Flucht nach Neuengland. Es sind Oberst Edward Whalley und Oberst William Goffe aus dem innersten Machtzirkel von Oliver Cromwell. Die Jagd nach den beiden Obersten gilt als grösste Menschenjagd des 17. Jahrhunderts.

Robert Harris beschreibt die Verfolgung der beiden ehemaligen Obersten der Parlamentsarmee aus zwei Perspektiven: Abwechslungsweise schildert jeweils ein Kapitel die Erlebnisse von Whalley und Goffe auf der Flucht und ein Kapitel die Hatz ihrer Verfolger. Um auch die Sicht der Häscher personifizieren zu können, hat Robert Harris die Figur von Richard Nayler erfunden: einen fiktiven Beamten des Kronrats, der die Menschenjagd zu seinem persönlichen Rachefeldzug macht. Nayler hat es als Person nicht gegeben, in der Realität haben sich wohl mehrere Menschenjäger seine Aufgabe geteilt.

Der Kampf, der sich zwischen Nayler und den beiden Obersten entspinnt, ist auch ein Kampf zwischen zwei Welten. Nayler steht auf der Seite des englischen Königs. Er steht für die höfische Welt und die anglikanische Kirche. Aus seiner Sicht haben die Männer rund um Oliver Cromwell Hochverrat begangen, indem sie den König stürzten und die Macht des Parlaments und damit des Volkes ausbauten. Zudem waren Whalley und Goffe wie alle Männer Cromwells Puritaner. Der Puritanismus war eine Reformationsbewegung innerhalb der anglikanischen Kirche. Die Puritaner wollten die anglikanische Kirche vom katholischen Papismus reinigen, daher der Name. Wie viele Reformierte lasen sie selbst in der Bibel und legten sie als Heilige Schrift aus. Wie den Calvinisten ist ihnen die Arbeit heilig und sie sehen in allem Weltlichen den Teufel. Nach der Restitution der anglikanischen Monarchie in England flüchteten viele Puritaner in die Kolonien nach Neuengland und gründeten da puritanische Siedlungen.

Zum Beispiel New Haven. Aus England geflüchtete Puritaner haben die Stadt als neues Jerusalem gegründet. Reverend Davenport zeigt den beiden geflüchteten Puritaner-Obersten stolz die neu gegründete Stadt, ihr neues Jerusalem, wie es in der Offenbarung des Johannes beschrieben sei: «ein Raster aus neun Quadraten, das sie in grossem Massstab kopiert hätten, jedes Quadrat eine halbe Meile lang und breit, jedes mit einem Dutzend Häusern und jedes mit einem eigenen, von ihm selbst ausgewählten geistlichen Oberhaupt. ‹Steht doch im vierten Buch Mose geschrieben: Die Kinder Israels sollen vor der Hütte des Stifts umher sich lagern, ein jeglicher unter seinem Panier und Zeichen nach ihrer Väter Haus.›» (S. 201)

Robert Harris schildert eindrücklich den Fanatismus auf beiden Seiten des Atlantiks. Die Königlichen in England verfolgen die Puritaner mit dem Hass und er Verve, wie sie nur Häretikern zu Teil wird. Die Puritaner ihrerseits berufen sich auf Gott und ihr Wissen darum, was er von ihnen verlangt. Es sind unversöhnliche Standpunkte. Spannend ist, wie plastisch Robert Harris die Verfolgungsjagd quer über den Atlantik und durch Neuengland erzählt. Die Holzhäuser der Siedler, ihre Kleidung, der Krämerladen, die Sklaven, die indigene Bevölkerung – das junge Amerika nimmt Gestalt und Geruch an, ohne dabei überhöht zu werden. Immer wieder überwältigt die Grösse der Landschaft die Engländer, die den beiden Obersten auf der Spur sind. Boston, Cambridge, New Haven und Hartford sind noch Ansammlungen von einigen Holzhäusern. Man kann den Siedlern geradezu dabei zusehen, wie sie die neue Welt mit eigenen Händen aufbauen.

Eine ungemein spannende Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Aber was hat uns die Geschichte heute zu sagen? Ich hatte vor der Lektüre den geköpften König Karl I. und den unerbittlichen Karl II. nicht mehr auf dem Radar. Sie wissen, wie Karl in England heisst? King Charles. Der aktuelle englische König Charles III. ist der direkte Namensnachfolger jenes Königs, der im 17. Jahrhundert die Puritaner verfolgte, handstreichartig Neu-Amsterdam eroberte und in «New York» umtaufte. Der zweite Punkt: Wenn die Lords und die Abgeordneten rund um den König im Unterhaus diskutieren, tönt das manchmal gar nicht so anders als heute. Schon damals war England etwas Besonderes und ganz eigentlich das Zentrum der Welt. Und die Schilderung der geflüchteten Puritaner, wie sie in Amerika gottesfürchtig ihre Städte aufbauen, lassen mich die heutigen Amerikaner besser verstehen. Was für ein Fanatismus. Kurz: ein spannendes Buch, das auch noch viel erklärt.

Robert Harris: Königsmörder. Heyne, 544 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-453-27371-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783453273719

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 8. Dezember 2022, Matthias Zehnder

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