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Kein Geld Kein Glück Kein Sprit

Publiziert am 21. August 2025 von Matthias Zehnder

Wann ist ein Held ein Held? In Mythen und Geschichten zeichnet sich der Held (meistens) oder die Heldin (eher selten) durch grosse und kühne Taten aus. Der Held zieht in den Krieg, tötet Feinde vielleicht sogar einen Drachen und er rettet die Prinzessin. Und wenn sie nicht gestorben sind, streiten sie noch heute. Helden sitzen auf dem hohen Ross, stehen auf Podesten und vollbringen ungewöhnliche Taten. Heldentaten eben. Sie sind schier unerreichbare Vorbilder und Gegenstand von Erzählungen am Lagerfeuer. Jetzt sagen Sie vielleicht: Halt, es gibt auch Antihelden. Ja, die gibt es. Von Don Quijote bis Forrest Gump. Es sind Helden, die mit den Erwartungen an Helden brechen. Sie sind komplizierter, haben Schwächen, machen Fehler, sind menschlicher und deshalb nachvollziehbarer. Aber auch sie wachsen meistens irgendwie über sich hinaus und sei es nur, dass sie, wie Forrest Gump, nicht aufhören zu laufen. Die Figuren in den Geschichten von Heinz Strunk sind weder Helden noch Antihelden. Sie taugen nicht zum Vorbild, sie wachsen nicht über sich hinaus und sie retten niemanden. Nicht einmal sich selbst. Genau deshalb liegen sie uns oft viel näher. In meinem 269. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, die Geschichten von Heinz Strunk zu lesen. Spoiler: Unter anderem sind sie schlicht lustig.

 

Sonja hat den Schluckauf. Den Hitzgi, wie wir zu sagen pflegen. Und zwar so richtig. Es hört nicht mehr auf. Es trifft sie eines sonntagnachmittags, nach Kaffee und Kuchen, sie wollte gerade das Geschirr in die Maschine räumen. So plötzlich sich der Schluckauf eingestellt hat, er will nicht ,ehr weichen. Als die Hausmittel nichts helfen, sucht Sonja den Hausarzt auf, dann einen Internisten und einen Facharzt für Infektionskrankheiten, und, als die nicht helfen können, Chiropraktiker, Hypnotiseur und Akupunkteur. Auch neurologische und psychologische Ursachen sind nicht erkennbar. Die Frequenz der Gluckser steigert sich auf quälende 30 pro Minute. Nach einem halben Jahr ist Sonja am Ende.

Sie hing noch nie besonders am Leben. Aus vielen Gründen erscheint es ihr besser, tot als lebendig zu sein. Die Liste ist lang und wird länger, je länger sie darüber nachdenkt: Kein Geld, kein Glück, kein Sprit. Keine Eltern (mehr), kein Mann, keine Kinder. Leider, eigentlich hätte sie gerne welche gehabt, aber es hat sich irgendwie nie ergeben, und kürzlich hat ihr Reproduktionsorgan den Betrieb eingestellt.
Morgen wartet nur ein weiterer finsterer Tag neuer Enttäuschung auf sie; ob sie tot oder lebendig ist, interessiert nicht mehr als das Gewicht eines Steins in einem Schottergarten. Sie glaubt nicht mehr an die Zukunft, sie kann nichts vor sich sehen, kein Klebstoff mehr da, der sie zusammenhält; ein unbedeutender Organismus auf einem winzigen Planeten, der in der kalten Leere des Alls um einen austauschbaren Stern rotiert.
Und so weiter.
Der Tod wird sie nicht nur vom Schluckauf erlösen, sondern auch die Liste löschen, für immer und ewig. Hicks. (Seite 18f.)

Eine Schusswaffe hat Sonja nicht und sie wüsste nicht, wie sie sich eine besorgen könnte. Mit Gift kennt sie sich nicht aus, Erhängen ist ihr zu unsicher, sich vor einen Zug zu werfen für Mitmenschen zu belastend. Nach langem überlegen kommt sie zum Schluss, dass die unauffälligste Methode, um aus dem Leben zu scheiden, ein Sprung aus grosser Höhe in ein Gewässer ist. Sie beschliesst, in Hamburg von der Köhlbrandbrücke zu springen. Sie regelt, was es zu regeln gibt, es ist nicht viel, dann reist sie nach Hamburg und checkt in einem günstigen Hotel ein.

Das Leben ist ihr zwischen den Fingern zerronnen. Alles total schiefgegangen, von Anfang an. Noch die kleinsten Kleinigkeiten. Sie hat keine Interessen, keine Talente und keinen Ehrgeiz. Weder hat sie ein Instrument gelernt, noch kann sie tanzen, turnen oder Mathematikaufgaben lösen. Nicht mal ein Loch in die Wand bohren kann sie. Sie ist weder freundlich noch humorvoll oder charmant, sie hat kein einnehmendes Wesen. Eine blanke Null, subtrahiert von unermesslich viel Nullen. Ihr unter einem unglücklichen Stern stehendes Leben ein einziger Reigen aus Angst, Ungeschicklichkeit, Pech und Schwefel.
Der Schluckauf ist eine Metapher ihres Scheiterns. Mehr Pech kann ein einzelner Mensch nicht haben. Das alles denkt sie, und zum ersten Mal seit langem muss sie weinen. Sie lässt ihr Gesicht in die Hände sinken, Tränen tropfen zwischen ihren Fingern herab. (Seite 27.)

Ein paar Tage lang baldowert sie die Brücke aus, dann kauft sie zwei Fläschchen Wodka und nimmt ihren Mut zusammen.

Punkt Mitternacht tritt sie den Aufstieg an. Als sie von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden LKWs erfasst wird, duckt sie sich, verharrt ein paar Augenblicke, bevor es im extraschneckigem Schneckentempo weitergeht. Vom ständigen Sich-Umschauen bekommt sie Nackenschmerzen. Am sichersten wäre es, auf allen vieren zu kriechen, aber dann ist sie ja morgen früh noch nicht da. Je höher sie kommt, desto nebliger und lautloser wird es. Sie tastet sich in eine wattige, gedämpfte Stille hinein, der tropfende Nebel ist so dicht, dass sie nur ein paar Meter weit sehen kann. Vorteil: Sie ist auch selbst schwer zu sehen.
Als sie ihr Ziel endlich erreicht hat, ist sie völlig fertig. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen ist, nimmt sie ein paar Schlucke Wodka. Über ihr der Mond, groß, bleich und verschwommen, unter ihr bleiblaue Finsternis. Sie spürt die dunkle Luft wie Wasser. (Seite 29f.)

Sie hat alles verloren, was sie hat – jetzt will sie auch das Leben verlieren. Und es kommt, wie es kommen muss: In diesem Moment verliert sie auch ihren Schluckauf. Das ist nicht tragisch-traurig, sondern komisch. Sonja steht angetrunken zuoberst auf dieser Brücke in Hamburg, bereit, endlich etwas zu wagen und zu springen, nur um zu merken, dass ihr der Grund dafür abhanden gekommen ist.

Die Geschichte über Sonja ist eine typische Geschichte aus dem Sammelband «Kein Geld Kein Glück Kein Sprit». Wie ein Refrain taucht dieser Satz in den Geschichten immer wieder auf. Zum Beispiel Frau Niemann, die sich ihre Nase operieren lässt und dafür ihr ganzes Erspartes zusammenkratzt, nur um mit einer Möhre im Gesicht zu erwachen, muss unter Tränen feststellen: Kein Geld, kein Glück, kein Sprit, und jetzt auch noch so was.

Oder Dennis:

Bis zu seiner Frühverrentung war Dennis LKW-Fahrer. Die Frühverrentung war nötig: Rücken kaputt, Bandscheiben verbogen, Gelenkschmiere eingetrocknet, Wirbel verklebt. In lauem Fötalzustand verdämmert er die Tage zusammengerollt auf dem Sofa und schleppt sich nur zwischendurch zum Rauchen auf den Balkon. Ein wüstes Ankämpfen gegen die Zeit, die Grabplatte seiner Antriebslosigkeit ist zu schwer, um gehoben zu werden. Man sollte meinen, er wird verrückt, wenn er den ganzen Tag nichts tut und mit jedem Atemzug dem Tod entgegenschwitzt. Wird er aber verrückterweise nicht. (Seite 66f.)

Dennis will so leben. Antriebslos, ziellos, bewegungslos. Bis ihn Nadine in ein Fitnesscenter schleppt. Zur Generalüberholung. Sie hat geerbt, das Geld will sie in die Renovation ihres Mannes investieren. Nach dem ersten Training ist Dennis völlig fertig.

Sie sprechen kein Wort miteinander. Obwohl Nadine es hasst, wenn er so stumpf vor sich hin schweigt, lässt sie ausnahmsweise Gnade vor Recht ergehen. Er soll Gelegenheit haben, alles erst mal zu verdauen. Die Vorfreude auf sein neues Leben wird sich schon von selbst einstellen. Dennis schweigt, weil es nichts zu sagen gibt. Ihm ist klar, dass er das nicht schaffen wird. Er hatte so sehr gehofft, dass er irgendwie durchkommt, einfach sein Leben zu Ende leben darf. Wo er doch so gut wie keine Ansprüche stellt: Kein Sex, kein Fun, kein Geld, kein Alk. Nur rauchen und naschen und Mezzomix. Und selbst das wird ihm jetzt gestrichen. (Seite 73)

Wir ertappen uns beim Mitleid mit Menschen, für die wir im realen Leben allenfalls Verachtung übrig haben. Das ist das Eine, was die Geschichten von Heinz Strunk auszeichnet. Sie konfrontieren uns mit Abgründen und Tiefpunkten auf eine Weise, die uns verunsichert. Sollen wir lachen? Oder besser solidarisch weinen? Irgendwie steht doch auch in uns ein Dennis, der irgendwie durchkommen will im Leben. Auch wir wollen einfach unser Leben leben. Wie Sonja mit dem Schluckauf. Und bei Lichte besehen haben wir ja alle irgendwie kein Geld, kaum Glück und das mit dem Sprit – ich weiss nicht.

Das Zweite, was die Geschichten lesenswert macht: Sie sind stellenweise verdammt gut geschrieben. Wenn Dennis zum Beispiel das Gesicht grau wie gestorbene Baumrinde auf den stummgestellten Fernseher starrt, dann ist das ein Bild das bleibt. Oder der Mann, der seine langjährige Freundin ganz nebenbei fragt, ob sie heiraten wollen, weil das doch einiges vereinfache.

Die Worte plumpsen zu Boden und liegen wie leere Luftballons im Schnee. Ein schiefes, unsicheres Halblächeln kriecht über sein Gesicht. Für eine Sekunde hält sie seinen Blick mit entsetzlichem Ernst. In dieser Sekunde durchschaut sie ihn, ihn und seine ganzen jämmerlichen Absichten. Tränen schießen ihr in die Augen. So vieles hat sie ihm durchgehen lassen, aber jetzt ist Schluss. «So nicht», sagt sie und rennt davon. (Seite 83)

Die Worte plumpsen zu Boden wie leere Luftballons. Ein schiefes, unsicheres Halblächeln kriecht über sein Gesicht. Sie durchschaut ihn und seine jämmerlichen Absichten. Das sind Sätze, die treffen mitten ins Herz.

Heinz Strunk beschreibt die Abgründe, in die wir alle zu fallen fürchten. Manchmal lacht man beim Lesen, aber ist kein befreites Lachen, sondern eher das Lachen eines Kindes im Keller. Wir erschrecken beim Lesen und lachen über den Schrecken hinweg. Wir wissen alle, dass wir keine Superman und keine Wonderwoman sind – und wir ahnen, dass wir den abstürzenden Gestalten in den Geschichten von Heinz Strunk viel näher stehen, als uns lieb ist.

Seine Geschichten übrigens haben keine Moral. Wäre er Seemann, würde man von Seemannsgarn sprechen: Es sind Geschichten wie Goldfische im Teich: absichtslos. Ein gutes Beispiel ist diese kurze Geschichte:

Starflite
Er ist der Prototyp des gemütlichen Dicken und fährt tagein, tagaus, bei Wind und Wetter mit dem Mofa zur Arbeit. Sein Oldtimer-Maschinchen, eine Starflite Bj. 1974, wirkt unter ihm wie ein Spielzeug, das zierliche Gefährt sieht aus, als würde es gleich unter der Last seiner 150 Kilo zusammenklappen. Weil er so dick ist, erreicht die treue Scheese nur noch bergab die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h. Er hält den Verkehr auf, manche nervenschwachen Autofahrer hupen, beschimpfen ihn, doch er lässt sich nicht beirren. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen und vollkommen mit sich im Reinen tuckert er morgens zur Arbeit und freut sich dabei schon aufs süß-herzhafte Frühstück; die eine Stulle mit Leberwurst beschmiert, die andere mit Erdbeermarmelade, dazu Kakao, und das seit sechsundzwanzig Jahren. (Seite 139)

Wir sehen ihn vor uns auf seinem Mofa. Auf der Strasse würden wir die Nase rümpfen über ihn. Über die Zumutung für Augen und Nase. Und überhaupt. Heinz Strunk schafft es, dass wir den Mofafahrer mit einem Lächeln zurücklassen. Das ist das Schöne an seinen Geschichten: So absonderlich abgründig sie teilweise sind – sie wecken Verständnis für die dicken Mofafahrer, den lahmen Dennis, die Sonja mit dem Schluckauf und Frau Niemann mit der Nase. Es bleibt Verständnis, ein Lächeln – und der Verdacht, dass wir mehr mit diesen Figuren gemein haben, als uns lieb ist.

Heinz Strunk: Kein Geld Kein Glück Kein Sprit. Urkomische, todtraurige Geschichten vom Meister der kurzen Strecke. Rowohlt, 192 Seiten, 32.90 Franken; ISBN 978-3-498-00768-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498007683

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Basel, 21.08.2025, Matthias Zehnder

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