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Kairos

Publiziert am 9. November 2021 von Matthias Zehnder

Sie kennen sicher den Ausdruck «die Gelegenheit beim Schopf packen». Der Ausdruck wird auf eine Darstellung des griechischen Gotts Kairos zurückgeführt: Der Gott des glücklichen Augenblicks hat vorn über der Stirn eine Locke. Einzig an diesem Schopf kann man ihn halten. Ist der Gott auf seinen geflügelten Füssen einmal an einem vorbeigeglitten, gibt es keine Möglichkeit mehr, ihn zu packen: Am Hinterkopf ist Kairos nämlich kahl. 

Und genau von einem solchen Kairos-Moment handelt der neue Roman von Jenny Erpenbeck. Als Katharina neunzehn Jahre alt ist, trifft sie in Ostberlin Hans – der Busfahrer hat extra für sie gewartet und ihr die vordere Tür geöffnet, Hans steht bereits im Bus. Bei der Haltestelle am Alexanderplatz steigen sie beide aus – und beide suchen sie vor dem strömenden Regen Schutz unter der Brücke. Es ist ihr Kairos-Moment und sie packt die Gelegenheit beim Schopf. Katharina stürzt sich Hals über Kopf in eine Liebesgeschichte – und das, obwohl Hans 53 Jahre alt ist und ihr Vater sein könnte.

Das ist die eine Ebene des neuen Romans von Jenny Erpenbeck: Die Liebesgeschichte zwischen zwei ungleichen Menschen. Die andere Ebene ist die Zeitgeschichte: Der Roman spielt in den Jahren 1986 bis 1992. Es ist die Zeit des Mauerfalls, der Wiedervereinigung von Deutschland – des Untergangs der DDR. Die Geschichte der beiden ungleichen Liebenden spielt nicht nur in dieser Zeit, sie spiegelt sie auch. 

Blick von Westberlin aufs Brandenburger Tor. Bild: © Andreas Prott – stock.adobe.com

Hans ist Mitte fünfzig, er arbeitet beim Rundfunk und als Schriftsteller. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Mit seiner Frau lebt er in einer geräumigen Altbauwohnung und das soll so bleiben. Das macht er Katharina gleich am ersten Tag schon klar. Katharina ist 19 Jahre alt und lässt sich zur Schriftsetzerin ausbilden. Sie wohnt noch bei den Eltern. Ihr ist alles gleich, wenn sie nur mit Hans zusammensein kann. Dem Anfang wohnt ein Zauber inne, die beiden packen Kairos bei der Locke. Doch es ist von Beginn weg eine ungleiche Beziehung.

Er weicht keinen Millimeter ab von seiner Routine, seiner Arbeit, seinen Gewohnheiten, sie gibt sich schrittweise völlig auf. Diese Ebene der Geschichte ist zwar grossartig beschrieben, trotz der Monstrosität der Beziehung bleiben die Handlungen von beiden Personen nachvollziehbar. Doch ist von Anfang an klar, dass Katharina, eigentlich noch ein Mädchen, sich dem arrivierten Hans auf Dauer nicht wird widersetzen können. 

Hans ist im Nazideutschland aufgewachsen. Er war in der Hitlerjugend und sagt von sich selbst, dass er ein kleiner Nazi war. Nach dem Krieg zieht er als junger Mann bewusst in den Osten Deutschlands, weil er sich von der Ideologie seiner Eltern abschossen will. Er identifiziert sich vor allem mit den intellektuellen Säulenheiligen der DDR: mit Eisler und mit Brecht. Katharina ist dagegen politisch unbekümmert. Sie ist in der DDR aufgewachsen und ihrer etwas überdrüssig, ohne dass der Überdruss sich politisch äussern würde. Zur ersten kurzen Trennung von Hans kommt es, als sie zur Grossmutter nach Köln reisen darf – um da nach Herzenslust einzukaufen. 

Es kommt, wie es kommen muss: Der ältere Mann kann sich nicht zwischen Ehefrau und Geliebter entscheiden – oder er will sich nicht entscheiden. Zwar findet die Ehefrau heraus, dass er eine Geliebte hat und wirft in aus der Wohnung, weil er aber immer wieder Liebschaften hatte und letztlich trotzdem zu ihr hält, lässt sie ihn zurückkehren. Als umgekehrt Katharina am Theater in Frankfurt an der Oder, wo sie nach ihrer Ausbildung ein Praktikum absolviert, eine Affäre hat, reagiert Hans hart und ungehalten, selbstgerecht und auch etwas wehleidig. Er presst die Wahrheit aus ihr heraus und unterwirft sich die junge Geliebte, die sich ihm doch schon ganz unterworfen hat, indem sie nur noch die Musik hört, die er hört, die Bücher liest, die er liest – und die Sex-Spiele mitmacht, die er vorgibt.

Würde diese Liebesgeschichte in der Bundesrepublik spielen, wäre es eine sprachlich gut geschriebene Geschichte, aber doch «nur» eine Liebesgeschichte. Die Geschichte spielt aber in der DDR zur Zeit der Wende und bietet damit Einblick in eine Welt und eine Zeit, die wir vor allem aus der Sicht des Westens kennen, aus einer, mit Verlaub, etwas gönnerhaften Sicht. Es ist die Sicht von Helmut Kohl. Die Geschichte lässt sich deshalb durchaus auch als Parabel für die Wiedervereinigung lesen, wobei der arrivierte Hans für den etablierten Westen steht, der sich das junge Mädchen DDR schonungslos und letztlich egoistisch einverleibt.

So gelesen wird aus der gut geschriebenen, aber letztlich oft erzählten Liebesgeschichte eine spannende politische Parabel. Ihren Kairos-Moment hatten die beiden Deutschland 1989, als die Mauer fiel – doch der Zauber war, wie bei Hans und Katharina, nur von kurzer Dauer. Seither hat die DDR sich aufgegeben, der Westen hat sich durchgesetzt. So gesehen erzählt das Buch eine wirklich spannende Geschichte. 

Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman. Penguin Verlag München, 384 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-328-60085-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783328600855

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 9. November 2021, Matthias Zehnder

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