Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Wo der Wolf lauert
Letzter Tipp: Herren der Lage

Junge mit schwarzem Hahn

Publiziert am 21. September 2021 von Matthias Zehnder

Es ist Krieg und die Pest wütet. 

1618 bis 1648 herrscht in Europa der Dreissigjährige Krieg. 1625 brach in Deutschland die Pest aus. Zu dieser Zeit könnte die Geschichte spielen, die Stefanie vor Schulte erzählt: «Junge mit schwarzem Hahn» heisst sie. Der Titel klingt eher nach dem Titel eines Gemäldes als nach einem Roman. Wenn es ein Gemälde wäre, dann würde es wohl von Hieronymus Bosch stammen: Ein düsteres Bild, bevölkert von phantastischen Gestalten, zerlumpten Bettlern, Siechen und Kranken. Und mitten drin ein Junge, ein elfjähriger Bub mit dem Gesicht eines Engels und mit einem schwarzen Hahn auf den Schultern.

Der Junge, das ist Martin. Er hat seine Familie verloren, als er drei Jahre alt war: Sein Vater lief Amok mit einer Axt in der Hand und hat seine Mutter, seine Geschwister und dann sich selbst ermordet. Überlebt hat nur Martin. Martin und sein Hahn. Schon deshalb ist er den Leuten im Dorf unheimlich. Sie traktieren ihn mit Fusstritten und lassen ihn niedrige Arbeiten verrichten. Wenn überhaupt.

Erst als ein Maler im Dorf auftaucht, der das neue Altarbild malen soll, findet Martin einen Freund. Er folgt dem Maler und zieht in die Welt hinaus. Es beginnt eine Geschichte voller Abenteuer, die an Parzivals Âventiure erinnert und einen eigentümlichen Sog aufweist. Man kann das Buch kaum mehr weglegen.

 

Eine der ältesten und umfangreichsten Heldengeschichten der deutschen Literatur ist die Geschichte von Parzival, wie sie Wolfram von Eschenbach um das Jahr 1200 herum erdichtet hat. Auf einem verschlungenen Handlungsweg entwickelt sich Parzival vom tumben Tor im Narrenkleid zum Gralskönig. Dabei muss er eine Reihe von Abenteuer bestehen. Wobei das moderne Wort «Abenteuer» nicht richtig fasst, um was es geht. Auf Mittelhochdeutsch heisst es Âventiure. Das ist kein zufälliges Abenteuer, in das der Held stolpert, sondern eine gefahrvolle Bewährungsprobe. Eine Bewährungsprobe, die der Held aus eigenem Antrieb sucht – und die gleichzeitig durch wunderbare Fügung für ihn allein bestimmte ist.  

Um eine solche Âventiure dreht sich die Geschichte von Stefanie vor Schulte. 

Und das kommt so. Eines Tages hilft der elfjährige Martin einer Frau im Dorf, der Godel, die Kartoffeln zum Markt ins nächste Dorf zu tragen. Die Godel geht voraus, ihre Tochter an der Hand. Martin geht zehn Schritte dahinter, den Sack mit den Kartoffeln auf der einen, den Hahn auf der anderen Schulter. Da erscheint plötzlich ein Reiter in einem schwarzen Mantel, der schwarze Reiter. 

«In der einen Sekunde galoppiert der Reiter an Martin vorbei, in der nächsten ist er mit der Godel gleichauf, senkt die Hand zum Mädchen, hebt es hoch, als wäre es nichts, und stopft es sich unter den Mantel, dieses Stück Finsternis im milchigen Frost. Irgendwo in dieser Finsternis im milchigen Frost. Irgendwo in dieser Finsternis ist nun das Kind, dem nicht ein Schrei entronnen ist. Zu schnell ist alles gegangen. Die Hand der Mutter hängt noch in der Luft und spürt die Wärme der Tochter. Und schon ist diese fort. Der Reiter hat sie gepflückt wie einen Apfel, ist im nächsten Augenblick auf dem Hügelkamm und lässt den Rappen steigen.» (S. 25-26)

Ein unheimliches Bild: «Die Hand der Mutter hängt noch in der Luft und spürt die Wärme der Tochter.» Es ist der schwarze Reiter, der sich jedes Jahr ein Junge und ein Mädchen holt. Jetzt also die Tochter von der Godel. Martin rennt dem Reiter nach, aber der ist natürlich viel zu schnell. Martin schwört sich, die Tochter der Godel, ja: alle geraubten Kinder zu befreien. Die Befreiung der Kinder wird zur Âventiure, die Martin zu bestehen hat. Eine Âventiure, die er sich selbst wählt und die gleichzeitig durch wunderbare Fügung für ihn allein bestimmte ist. Für ihn und seinen Hahn.

Martin zieht also aus dem Dorf und macht sich auf Wanderschaft. Möglich ist das, weil kurz vor der Entführung ein Maler ins Dorf kommt, um das neue Altarbild in der Kirche zu malen. Zum ersten Mal nimmt jemand Martin ernst, hört ihm zu und schlägt ihn nicht. Er begleitet deshalb den Maler, als der weiterzieht. Auch der Hahn kommt mit. Natürlich. Die Leute im Dorf haben den Hahn für den Teufel gehalten. Dabei ist er der einzige Freund von Martin.

Der Maler gibt Martin als seinen Sohn aus, wenn sie Unterschlupf finden oder wenn er einen Auftrag erhält. Martin hilft ihm bei der Arbeit. Der Hahn schaut zu. Die drei scheinen unzertrennlich. Bis Krieg und Pest zu einer Hungersnot führen und der Maler sich kaum mehr beherrschen kann, dem Hahn den Hals umzudrehen. Martin verlässt ihn und zieht mit dem Hahn weiter. Es bleibt dabei: Er will den schwarzen Reiter suchen und die geraubten Kinder befreien.

Die Geschichte von Stefanie vor Schulte entwickelt einen eigentümlichen Sog. Sie ist in einfachen Worten erzählt, wie eine der Geschichten, die schon im Mittelalter erzählt und weitererzählt wurden. Der Martin, sein Hahn, der Maler, das pöbelnde Volk, der schwarze Reiter, eine geheimnisvolle Fürstin – Martins Glaube an seine Âventiure und wie ihn der Hahn rettet, als er zu verzweifeln droht. Es ist der Stoff, aus dem die grossen Geschichten gewoben sind. Am Schluss wird alles klar – man versteht selbst, warum Martins Vater zur Axt gegriffen hat. Eine Geschichte zum Eintauchen und Abtauchen – und wenn man das Buch weglegt und überrascht feststellt, wo man ist, hat die Geschichte ihre Magie getan.

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257071665

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 21. September 2021, Matthias Zehnder

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/