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James
Sie kennen sicher das Bonmot: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Ich war deshalb extrem skeptisch, als ich das neue Buch des amerikanischen Schriftstellers Percival Everett zur Hand nahm. Everett hat sich nichts Geringeres vorgenommen als «Huckleberry Finn» von Mark Twain neu zu erzählen. «The Adventures of Huckleberry Finn» ist 1884 erschienen. Es ist der erfolgreichste Roman von Mark Twain. Huck wird von seinem Vater, einem arbeitslosen Trinker, gefangen gehalten. Es gelingt ihm, auszubrechen und seine eigene Ermordung vorzutäuschen. Huck flüchtet auf einem Boot und lässt sich den Mississippi heruntertreiben. Da stösst er auf den schwarzen Sklaven Jim. Der ist ebenfalls auf der Flucht, weil seine Besitzerin, Miss Watson, ihn verkaufen wollte. Jims Ziel ist Ohio, ein freier Staat. Von da aus will er seiner Familie die Freiheit erkaufen. Percival Everett hat diese Geschichte nun neu erzählt: Seine Hauptfigur ist der schwarze Sklave Jim, der bei ihm James heisst. Ich habe das Buch ohne grosse Erwartungen zur Hand genommen. Was dann passiert ist, das erzähle ich Ihnen diese Woche in meinem 206. Buchtipp.
Als Junge habe ich vor allem «Die Abenteuer des Tom Sawyer» geliebt. Ich habe den frechen Jungen bewundert. Zum Beispiel verdonnert ihn Tante Polly dazu, den Zaun neu zu streichen und das auch noch an einem sonnigen Samstag. Als seine Freunde Tom bei der Arbeit sehen, machen sie sich über ihn lustig. Tom erklärt ihnen aber, was für eine tolle und schwierige Arbeit das Streichen sei. Er schafft es, das Streichen des Gartenzauns so verführerisch zu beschreiben, dass seine Freunde darum betteln, auch einmal streichen zu dürfen. Nach gespieltem Zögern willigt Tom gegen Bezahlung ein und verwandelt so die Strafarbeit in einen Verdienst. Zusammen mit Freund Huck erlebt Tom eine ganze Reihe von Abenteuern, Die beiden werden Zeuge eines Mordes, Tom wird Pirat und gilt als ertrunken, er verliebt sich in Becky, die Tochter von Richter Thatcher, und er findet zusammen mit Huck den Goldschatz von Indianer-Joe.
Da setzt der zweite Band der Geschichte ein, «Die Abenteuer des Huckleberry Finn». Mark Twain hat ihn aus der jugendlich-naiven Ich-Perspektive von Huck Finn erzählt. Weil Huck zu Geld gekommen ist, sperrt ihn sein Vater, ein übler Tagedieb und Alkoholiker, in seiner Hütte ein. Huck gelingt die Flucht: Zusammen mit dem Sklaven Jim lässt er sich auf einem Floss den Mississippi heruntertreiben. Es ist eine Abenteuergeschichte: Huck und Jim suchen auf dem Fluss die Freiheit. Jim spricht dabei in einem eigentümlichen Südstaatendialekt, einem verstümmelten Englisch.
Da setzt Percival Everett ein. Seine Geschichte dreht sich um Jim, der sich bei ihm James nennt. Die verstümmelte Sklavensprache entpuppt sich als Finte: Die Sklaven reden nur vor den Weissen so, um sie im Glauben zu lassen, dass sie der Sprache und des Denkens nicht recht mächtig seien. In Wirklichkeit ist James gebildet. Er hat verbotenerweise lesen und schreiben gelernt und ist belesen. Seinen Kindern bringt er bei, so zu reden, wie es die weissen Besitzer von ihren schwarzen Sklaven erwarten.
«Papa, warum müssen wir das lernen?»
«Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen», sagte ich. «Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden. Oder vielleicht sollte ich sagen, ‹wenn sie sich nicht überlegen fühlen›. Also wollen wir zunächst noch einmal ein paar Grundlagen wiederholen.»
«Blickkontakt vermeiden», sagte ein Junge.
«Richtig, Virgil.»
«Nie reden, ohne gefragt zu werden», sagte ein Mädchen.
«Das ist korrekt, February», sagte ich.
Lizzie blickte auf die anderen Kinder, dann wieder zu mir.
«Niemals irgendein Thema direkt ansprechen, wenn man sich mit einem anderen Sklaven unterhält», sagte sie.
«Und wie nennen wir das?», fragte ich.
«Drumherum-Reden», riefen sie im Chor.
»Ausgezeichnet.» Sie waren sehr zufrieden mit sich, und ich erhielt diese Stimmung aufrecht. «Versuchen wir’s mal mit ein paar Übersetzungen für besondere Situationen. Zuerst etwas Extremes. Ihr geht die Straße entlang und seht, dass es in Mrs. Holidays Küche brennt. Sie steht mit dem Rücken zum Haus in ihrem Garten und bemerkt es nicht. Wie sagt ihr es ihr?»
«Feuer, Feuer», sagte January.
«Direkt. Und das ist fast korrekt», sagte ich.
Die Jüngste, die magere, schlaksige fünfjährige Rachel, sagte: «Herrmhimmel, Maam! Da!»
«Perfekt», sagte ich. «Warum ist das korrekt?»
Lizzie hob die Hand. «Weil wir darauf achten müssen, dass die Weißen diejenigen sind, die das Problem benennen.»
«Und warum?», fragte ich.
February sagte: «Weil sie alles vor uns wissen müssen. Weil sie allem einen Namen geben müssen.»
«Gut. gut. Ihr seid ja richtig fix heute. Okay, stellen wir uns vor, es ist ein Fettbrand. Mrs. Holiday hat Bacon unbeaufsichtigt auf dem Herd stehen lassen. Sie ist im Begriff, Wasser darauf zu schütten. Was sagt ihr? Rachel?»
Rachel hielt kurz inne. «Maam, das Wasser machts bloß schlimmer!»
«Das stimmt natürlich, aber was ist das Problem dabei?» Virgil sagte: «Man sagt ihr, dass sie das Falsche tut.» Ich nickte. «Was solltet ihr also stattdessen sagen?» Lizzie schaute zur Decke und sprach, während sie es zu Ende dachte. «Möchten Sie, dass ich eine Schaufel Sand hole?»
«Richtiger Ansatz, aber du hast es nicht übersetzt.» Sie nickte. «Herrmhimmel, Ma’am, so’ich vlleich ne Schaufel Sand ranschaffm?»
«Gut.» (Seite 24f.)
James lehrt seine Kinder also, sich zu verstellen, sich als dumm hinzustellen, damit die Weissen sich sicher und überlegen fühlen. Sprich Fehler nicht direkt an, lass sie das Problem benennen – das sind Tipps, wie sie Angestellte bis heute in hierarchisch geführten Unternehmen befolgen. Percival Everett zeigt anhand der sprachlichen Verstellung der Sklaven also die Machtstrukturen auf. Zuerst hat mich das irritiert, dann verstand ich: Er führt uns Lesern Sklaven als würdevolle, kluge und denkende Menschen ein. Umso härter trifft es uns, wenn wir später davon lesen, wie abschätzig und brutal die Weissen ihre Sklaven behandeln, wie sie sie nach Belieben auspeitschen, quälen, ja vergewaltigen und ermorden.
James ist ein liebevoller Ehemann und Vater und ein umsichtiger Arbeiter. Wie im Original von Mark Twain erfährt er aber eines Tages, dass seine Besitzerin, Miss Watson, ihn nach New Orleans verkaufen will. Er muss befürchten, dass es ihm da um einiges schlechter gehen wird. Also ergreift James die Flucht und schwört seiner Frau Sadie und Tochter Lizzie, dass er sie so schnell als möglich rausholen wird.
Gleichzeitig schafft es Huck, aus der Hütte seines Vaters auszubrechen. Mit Schweineblut täuscht er seine Ermordung vor, damit sein Vater ihn nicht sucht. Das wird zum Problem für James: Die Weissen halten ihn für den Mörder und suchen ihn mit doppelter Anstrengung. Gemeinsam flüchten Huck und James auf dem Mississippi nach Süden. James ist klar, dass er niemand ist, rechtloser als ein Tier auf der Flucht. Also beginnt er, zu schreiben:
Ich heisse James. Ich wünschte, ich könnte mein Leben mit ebenso viel Geschichtsbewusstsein wie Fleiß erzählen. Ich wurde bei meiner Geburt verkauft und dann erneut verkauft. Die Mutter meiner Mutter stammte von irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent, wie man mir erzählt hat oder wie ich vielleicht einfach angenommen habe. Ich kann keinen Anspruch darauf erheben, irgendetwas von dieser Welt oder diesen Menschen zu wissen, ob meine Leute Könige oder Bettler waren. Ich bewundere diejenigen, die sich wie Venture Smith schon als Fünfjährige die Stämme ihrer Vorfahren, deren Namen und die Geschicke ihrer Familien in den Verwerfungen, Gräben und Abgründen des Sklavenhandels merken können. Ich kann Ihnen sagen, dass ich ein Mann bin, der sich über seine Welt im Klaren ist, ein Mann, der eine Familie hat, der seine Familie liebt, der seiner Familie entrissen wurde, ein Mann, der lesen und schreiben kann, ein Mann, der seine Geschichte nicht bloß selbst berichten, sondern selbst aufschreiben wird. Mit meinem Bleistift schreibe ich mich ins Dasein. (Seite 101)
Wie bei Mark Twain begegnen Huck und James zwei Hochstaplern, dem «König», der sich als Nachfahre der Bourbonen ausgibt, und dem «Herzog». Sie nehmen James gefangen. Weil sie auf einem Gutshof einen anderen Sklaven verprügeln und damit das «Eigentum» des Gutsherrn beschädigt haben, müssen sie James zurücklassen. Er soll als Schadensersatz die Arbeit des verprügelten Sklaven übernehmen. Weil James dabei so schön singt und eine Showtruppe grad einen Tenor braucht, wird James aber gleich weiterverkauft. Es kommt zur absurdesten Szene in der Geschichte: Bei der Showtruppe handelt es sich um Minstrels. Es sind Weisse, die sich die Gesichter mit Schuhwichse schwarz färben und Schwarze imitieren. Als echter Schwarzer dürfte James auf keinen Fall mit ihnen auftreten. Weil sie ihm aber das Gesicht mit Schuhwichse schwärzen, sieht James aus, wie ein Weiser, der einen Schwarzen spielt. Einer aus der Truppe erklärt James, wie das funktioniert:
«Hilf mir auf die Sprünge», sagte ich zu Norman. «Ich soll authentisch schwarz aussehen, aber dazu brauche ich die Schminke.»
«Nicht direkt. Du bist schwarz, aber wenn sie das wissen, lassen sie dich nicht in den Saal, also musst du unter der Schminke weiss sein, damit du für das Publikum schwarz aussehen kannst.» (Seite 181 f.)
Es ist eine absurde Welt, in der Menschen andere Menschen besitzen und mit ihnen machen können, was ihnen beliebt. James wird flüchtet wieder, wird weiterverkauft und landet bei einem brutalen Plantagenbesitzer. Zu lesen, wie der James misshandelt, ist fast unerträglich. Nicht etwa, weil Percival Everett das so feurig beschreiben würde. Im Gegenteil: Es ist die Lakonik der Worte, die klar macht, dass das Schicksal eines Sklaven unausweichlich ist, weil ein anderer Mensch ihn besitzt wie einen Rasenmäher oder eine Schaufel.
Ich sagte nichts, während ich Henderson in den großen Schuppen folgte. Ich sagte nichts, als Luke mit einem angedeuteten Grinsen auf dem jetzt hässlichen Gesicht meine Hände mit einem Hanfseil an einen Pfosten fesselte. Ich sagte nichts, als mir – ich weiß nicht, von wem – das Hemd vom Leib gerissen wurde. Ich sagte nichts, als das Leder mich biss, aufriss, brannte. Ehe ich das Bewusstsein verlor, überraschte mich die Feststellung, dass mein fließendes Blut das Brennen der Wunden kein bisschen kühlte.
Ich kam zu mir und sah das Gesicht des kleinen Sammy. Ich wusste nicht, wie ich mich aufsetzen, geschweige denn von hier weglaufen sollte.
«Bin ich am Leben?», fragte ich.
«Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, ja», sagte er.
Ich schaffte es, mich aufzusetzen. Es war dunkel, doch es herrschte etwas Mondlicht. «Mag die Bullenpeitsche», wiederholte ich Lukes Worte.
Sammy nickte. «Er macht das so die ersten zwei Tage. Am dritten Tag lässt er locker, und dann ist man dankbar.» (S. 226)
Der eigentlich sanfte und gebildete James legt die Bigotterie und Morallosigkeit der Weissen gnadenlos offen. Der einzige, der Menschlichkeit beweist in dieser Geschichte, ist der Sklave, der von den Weissen als Besitz verachtet und verhöhnt wird. Wir ballen beim Lesen die Fäuste und verstehen die grenzenlose Enttäuschung und die Wut, die sich in James aufbaut. Widerwillig wird er zum Freiheitskämpfer. Percival Everett gelingt es so, das amerikanische Nationalepos umzustülpen und aus Huckleberry Finn das Freiheits-Epos des Sklaven James zu machen. Dabei schafft Everett das Kunststück, die ursprüngliche Erzählung von Mark Twain nicht zu verunglimpfen.
Den zentralen Satz schreibt James in sein Notizbuch: Mit meinem Bleistift schreibe ich mich ins Dasein. Indem Percival Everett dem Sklaven James auf liebevolle Weise eine Stimme gibt, schreibt er ihn ins Dasein. Die Geschichte macht den Sklaven zum Menschen.
Mich hat dieses Buch gepackt und nicht mehr losgelassen. Es ist definitiv nicht nur gut gemeint, sondern richtig gut.
Percival Everett: James. Übersetzung: Nikolas Stingl. Hanser, 336 Seiten, 36.980 Franken; ISBN 978-3-446-27948-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279483
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Basel, 30. Mai 2024, Matthias Zehnder
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