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Ja, nein, vielleicht
Egal, wie gut Sie sich fühlen – es gibt diese Momente, da schlägt das Alter zu. Im Roman von Doris Knecht trifft es die Ich-Erzählerin beim Zahnarzt. Eigentlich fühlt sie sich gut. Dass sie schon weit über fünfzig ist, spielt keine Rolle. Und dann sagt ihr der Zahnarzt, ihr schmerzender Backenzahn sei verloren: «Den kann man nur noch ziehen», sagt der Zahnarzt. «Und dann?» fragt die Ich-Erzählerin. «Ein Implantat, eine Krone, eine Brücke, wie wird der Zahn ersetzt?» «Gar nicht», sagt der Zahnarzt, «dafür ist es zu spät.» Da ist es, das Alter. Es ist zu spät, um den Zahn zu retten. Oder um Rockstar zu werden. Aber ist es auch zu spät für die Liebe? Die Antwort gibt der Titel des Romans von Doris Knecht: «Ja, nein, vielleicht.» Ihre Ich-Erzählerin hat mit den Männern abgeschlossen. Sie lebt, glücklich getrennt, allein in einem Haus auf dem Land, in Wien hat sie nur noch eine kleine Wohnung. Die Kinder sind längst ausgeflogen, sie hat sich wohlig eingerichtet in ihrem Leben. Allerdings hat ihre beste Freundin Therese einen Mann kennengelernt. Und sie will Eddie heiraten. Schön für sie – aber was wir mit ihrer Freundschaft? Da begegnet die Ich-Erzählerin im Supermarkt Friedrich. Ein Mann aus ihrer Jugend. Soll sie sich noch einmal auf eine Beziehung einlassen? Oder ist es auch dafür zu spät? Die Antwort gibts in meinem 268. Buchtipp. Vielleicht.
Mit dem älter werden ist das so eine Sache. Einerseits soll das Alter ja Gelassenheit mit sich bringen. Andererseits muss man feststellen, dass so manche Türe unwiederbringlich zugefallen ist. Ich zum Beispiel werde in diesem Leben nicht mehr «Weltraumingenieur», wie ich das in der dritten Klasse ins Schulheft schrieb. Ich werde nicht mehr Solohornist, den Marathon habe ich mir abgeschminkt und das mit dem Bestseller taugt höchstens noch als Einschlafhilfe. So gesehen ist das Leben voller Abschiede: Wir verabschieden uns von immer mehr Träumen, bis am Ende das wahre Leben übrig bleibt.
So geht es auch der Ich-Erzählerin im neuen Roman von Doris Knecht.
Es gab, das wird mir bewusst, während ich über diese Sätze nachdenke, schon einmal so einen Punkt in meinem Leben, bald nachdem ich die Kinder bekommen hatte, als mir klar wurde: Ich werde nicht mehr Gitarristin einer Band. Gitarristin einer Band zu sein, das war so lange ein Traum, eine Möglichkeit, die ich nicht verwerfen wollte, nicht einmal im Bewusstsein der Tatsache, dass ich nicht Gitarre spielen konnte. Das kann ich noch lernen! Eines Morgens wachte ich auf, kuschelte, fütterte und kleidete meine Kinder, zog ihnen Schuhe und Jacken an, ging mit ihnen an beiden Händen fünf Stockwerke hinunter auf die Straße, holte ihre Laufräder und Helme aus dem Auto und lief dann hinter ihnen her in den Kindergarten, und als ich wieder heimging, wurde mir, ich weiß nicht mehr, warum, plötzlich klar, in diesem Leben werde ich nicht mehr in einer Band Gitarre spielen. Diesen Abschnitt meines Lebens, in dem eine solche Möglichkeit umsetzbar schien, habe ich hinter mir. Vielleicht kann ich noch Gitarrespielen lernen, vielleicht gemeinsam mit meinen Kindern, aber ich werde mit einiger Sicherheit nie in meinem Leben mit einer E-Gitarre und einer Band auf einer Bühne stehen. Das war mein erster Abschied. (Seite 8f.)

Immer öfter ist sie «zu alt». Zu alt für die E-Gitarre, zu alt für die Zahnreparatur, zu alt für das uralte Spiel zwischen Männern und Frauen. Sie sei, sagt sie, als Frau nicht mehr wahrnehmbar. Was sie die meiste Zeit überhaupt nicht stört, im Gegenteil. Sie empfindet es als Erleichterung, weil damit auch das Beurteiltwerden wegfällt, dem man als jüngere und junge Frau permanent ausgeliefert sei. «Männer oder auch nur ihre Blicke, die einem ungefragt sagen, dass man sexy ist oder nicht sexy genug.» Sie empfindet sich als Reparatur-Fall, beziehungsweise als Fall, bei dem sich das Reparieren nicht mehr lohnt. Wie bei ihrem alten Volvo. Von aussen sieht er noch ganz gut aus, aber da und dort fängt er an zu rosten und bei jedem Defekt stellt sich die Frage, ob sich die Reparatur noch lohnt. «Offenbar bin ich doch nicht so unsterblich, wie ich mir bisher eingeredet habe.»
Trotzdem (oder vielleicht auch deshalb) hat sie sich in ihrem Leben ganz bequem eingerichtet. Sie hat sich schon von Jahren von ihrem Mann getrennt und sich, nach einigen eher toxischen Fehlversuchen, damit abgefunden, dass es in diesem Leben nichts mehr wird mit der Liebe.
Danach wollte ich eigentlich keinen Mann mehr kennenlernen. Das Risiko war zu groß, auch deshalb, weil ich offenbar ein Faible für Verrückte habe, Narzissten, Borderliner, Depressive, Sexsüchtige, Junkies, whatever, ich kenne sie alle, und immer schnalle ich es erst hinterher, wenn der Vorhang schon gefallen ist. Jetzt bin ich klüger, jetzt weiß ich es: Wenn mir einer gefällt, ist er ziemlich sicher ein kompletter Irrer, der früher oder später mein Leben ruinieren wird. Lieber nicht. Es ist sicherer ohne Mann, und es ist meistens auch besser, ich kann das jetzt sagen. Die meisten Männer machen einem nur Schwierigkeiten. (Seite 50)
Dafür hat sie eine BFF, eine beste Freundin: Therese. Seit sie sich in der Kita ihrer Kinder kennengelernt haben, als die Kinder zwei Jahre alt waren, sind Therese und sie zufällig immer am gleichen Punkt im Leben gewesen. Beide haben sie zwei Kinder, beide haben sich etwa gleichzeitig von ihren Männern getrennt – respektive: die Männer von ihnen. Beide halfen sich über diese Trennung hinweg.
Diese Väter waren nicht da, aber Therese und ich, wir hatten einander. Wir besprachen all die Dinge miteinander, die Eltern zu besprechen haben, die Entscheidungen, die für die Kinder zu treffen waren. Wir waren da, wir und unsere Kinder und unsere Überforderungen, die niemand so gut verstand wie wir. Dass wir allein waren, dass wir immer alles sein mussten, zu jeder Zeit. Und nur wir verstanden, wie lange so ein Schmerz anhalten kann, und wir konnten uns das erzählen, immer wieder, auch als alle anderen es nicht mehr hören wollten, weil sie es nicht spüren konnten, weil sie nicht wussten, wie das ist, so im Stich gelassen zu werden. Wir hatten einander, und wir spürten dasselbe, weil wir am selben Ort waren, zur selben Zeit, zu jeder Zeit. (Seite 49)
Beide Frauen hadern damit, dass das Glück bei Frauen so oft mit einem Mann zu tun haben muss, mit romantischer Liebe. Dass sie «ihr Glück nicht bei sich selber finden dürfen, sondern immer in einem Gegenüber suchen, das letztlich unberechenbar bleibt.»
Etwa zum gleichen Zeitpunkt, als der Zahn, der sich dann als nicht zu retten erweisen sollte, zu wackeln beginnt, lernt Therese einen Mann kennen: Eddie. Er ist Professor für technische Chemie an der Universität, wo Therese als Personalchefin arbeitet. Um ihren Geburtstag im Frühling herum fährt Therese mit Eddie nach Venedig. Sie schickt per WhatsApp Bilder von der Reise – darunter auch ein Bild ihrer Verlobung. Die beiden wollen heiraten. Und unsere Ich-Erzählerin fürchtet, dass sie jetzt auch von Therese verlassen wird. Da begegnet sie in «ihrem» Supermarkt Friedrich:
Da war ein Mann mit grauen Haaren, der grinsend mit zwei großen Flaschen Cola durch einen Gang des Supermarkts federte, zu einem Einkaufswagen, der, lässig gehalten von einem gelangweilt wirkenden Teenager männlichen Geschlechts, vor den Milchprodukten stand. Der Teenager blickte dem Mann entgegen, wie ein Kind, das es gewohnt war, von seinen Eltern in Verlegenheit gebracht zu werden. Um seinen Hals baumelten fette Kopfhörer. Als ich wieder zu dem Mann schaute, wie er dem Teenager euphorisch grinsend mit den Cola-Flaschen winkte, wurde mir klar: Ich kannte dieses Grinsen, nur einer grinste so. Dieser Mann in den labbrigen Jeans und der verwaschenen Jeansjacke, das war Friedrich. Friedrich Fellner. Ich erstarrte hinter meinem Einkaufswagen, in dem Prosecco-Flaschen lagen, Hundefutter, Mehl, Nudeln, Kekse, Reinigungsmittel. Das war Friedrich, der die beiden Flaschen in einen schon gut gefüllten Einkaufswagen stellte, während er auf den Teenager einredete, mit dieser Begeisterung im Gesicht, die ich so gut kannte und so lange nicht gesehen, die ich in der Tat vergessen hatte. (Seite 40)
Die beiden erkennen sich, sie reden miteinander und tauschen ihre Handynummern. Sie schreiben sich. Ist da was? Nein. Oder doch? Sie schreibt Friedrich nicht einfach eine Nachricht. Sie feilt daran. Ersetzt einen Punkt durch ein Semikolon und ein «hoffen» durch ein «freuen».
Am nächsten Morgen wache ich auf und finde mich plötzlich wieder an diesem inneren Ort, an den ich nie wieder hinwollte: an dem Ort, wo ich die Nachricht eines Mannes erhoffe. Ich kenne diesen Ort gut. Es ist ein Ort, dessen Landschaft sich von heute auf morgen von einem blühenden Hügel mit idyllischem Ausblick in ein kaltes, schlammiges Tal verwandeln kann, dort geht die Sonne mit einem Anruf auf und mit einer nicht beantworteten Nachricht unter, dort verknüpfen sich mein Wohlbefinden, mein Aussehen, mein Selbstwert untrennbar mit dem Blick eines Menschen auf mich, der nicht ich bin, dort fange ich an, mich den möglichen Erwartungen eines Mannes entgegenzubiegen. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, die Tür zu diesem Ort wieder aufzumachen, ich war dort schon zu oft, ich weiß nicht, ob ich da nochmal hinwill, Friedrich, ich weiß nicht. (Seite 46)
Soll sie ihr Leben, ihr gutes Leben, noch einmal mit einem Mann teilen? Will er überhaupt teilen oder ist sie nur ein nostalgischer Zeitvertrieb? Soll sie sich noch einmal auf die Liebe einlassen oder ist es besser, diese Türe geschlossen zu halten?
Mich hat das Buch von Doris Knecht aus drei Gründen fasziniert. Da ist zum einen das Thema Altern. Klar: Das Buch handelt von einer Frau. Aber glauben Sie mir: Für uns Männer sieht das nicht anders aus mit den geschlossenen Türen und dem guten Leben. Doris Knecht macht diese typischen Fragen des Alters einfühlsam erlebbar. Das heisst: Sie erklärt sie nicht, sie lässt sie uns als Lesende durch ihre Erzählung erleben. Das zweite: Das Bucht ist formal witzig geschrieben. An einigen Stellen durchbricht Doris Knecht das, was man im Kino die vierte Wand nennt: die imaginäre Barriere zwischen der dargestellten Welt des Films und dem Publikum. Sie informiert zum Beispiel darüber, dass ihre Lektorin an einer Figur herummäkelt. An einer anderen Stelle sagt sie: «Wenn ich das in einen Roman schreiben würde, würde es mir die Lektorin rausstreichen, wegen Unglaubwürdigkeit.»
Der dritte Punkt: Das Buch ist schlicht gut geschrieben. Ich meine damit, dass Doris Knecht Gedanken und Gefühle nachvollziehbar ausdrückt. Ich gebe Ihnen dafür zwei Beispiele.
Ich habe sehr lange geglaubt, dass es einen Sinn hätte, sich zu erklären. Mich zu erklären. Ich fühlte mich oft missverstanden, ich erklärte mich viel. Ich schrieb sehr lange Mails, in denen ich Menschen meine Gefühle erklärte, meine Liebe, meine Verzweiflung, einen Plan, wie alles gut werden könnte, und ich schickte sie ab. Ich hielt mich für eine gute, überzeugende Erklärerin, mein Gegenüber, der Adressat meiner Nachrichten, würde das richtig verstehen, nach der Lektüre die Sache so sehen wie ich. Mitunter gelang das, sehr oft nicht. Meistens nicht. Die Liebe eines Gegenübers kann man nicht herbeierklären, auch wenn es so logisch schien: Es war doch alles da, man musste nur zugreifen und ja sagen.
Ich glaube jetzt nicht mehr ans Erklären, wenn es um Beziehungen zu Menschen geht, Männern, Freundinnen, Freunden, auch Schwestern, und ich glaube nur noch begrenzt ans Verhandeln, an das Herbeiargumentieren von Verständnis oder auch nur meiner Sichtbarkeit. Es ist entweder da, oder es ist nicht da, und wenn es nicht da ist, akzeptiere ich das jetzt meistens schnell. Ich bin zu müde, um zu kämpfen, und wenn einer eine rote Flagge hisst, nehme ich das ernst. Ich suche den Fehler nicht mehr bei mir: Es ist einfach nicht da, es passt einfach nicht, okay. (Seite 224)
Das bringt es schön auf den Punkt: In der Liebe geht es nicht um Logik, sondern – nun ja: um Liebe. Und vielleicht gibt einem das Alter die Kraft, das zu akzeptieren. Oder mindestens die Weisheit.

Und noch ein schöner Satz, diesmal einer über die Jugend:
Damals waren wir in einem Alter, in dem unsere Träume für uns die ganz konkrete Zukunft waren, in der wir vieles kategorisch ausschlossen, was uns später, was uns jetzt ganz vernünftig erscheint. (Seite 43)
Schön gesagt. Und, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, wirklich wahr.
Basel, 14.08.2025, Matthias Zehnder
Doris Knecht: Ja, nein, vielleicht. Hanser Berlin, 240 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-28288-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446282889
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
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