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Iowa

Publiziert am 21. März 2024 von Matthias Zehnder

Sie sind sehr selten: Bücher die mich zum Lachen bringen. Dabei tut Lachen so gut. Doch lustige Literatur ist selten und sie lässt sich auch nicht mit KI herbeizaubern. Denn Computer haben keinen Humor. Lachen können nur wir Menschen. Zum Beispiel über das neue Buch von Stefanie Sargnagel. Das amerikanische Grinnell College hat die österreichische Autorin und Cartoonistin gemeinsam mit der Berliner Musikerin Christine Rösinger für eine Guest Lecture respektive ein Konzert eingeladen. Grinnell ist eine Kleinstadt in Iowa im Mittleren Westen der USA – also mitten im Nirgendwo. Erlebt haben die beiden Frauen bei ihrem Besuch ein Stück Amerika, nein, nicht aus dem Bilderbuch, schon eher aus der Klischeekiste. Sargnagel berichtet über den Besuch und das, was sie in der amerikanischen Provinz gesehen und erlebt hat, Rösinger korrigiert sie in Fussnoten. Ihre Beobachtungen sind mit so präziser Boshaftigkeit (oder so boshafter Präzision) geschildert, dass das Buch immer wieder furchtbar lustig ist. Das Adjektiv ist dabei bewusst gewählt: Die amerikanische Provinz entpuppt sich bei näherem Hinsehen als so furchtbar, dass man nur noch lachen kann. In meinem 196. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was Sie, ausser ein paar lustigen Lesemomenten, sonst noch von dem Buch erwarten dürfen.

Waren Sie schon einmal in den USA? New York? San Francisco? Las Vegas? Yosemite-Nationalpark? Grand Canyon? Das sind die beiden Elemente, aus denen wir unser Bild der USA zusammensetzen: spannende Städte und fantastische Landschaften. Und natürlich Fernsehserien und Filme, von «Friends» und «Desperate Houswives» bis «Sleepless in Seattle» und dem neuesten Woody Allen. Aus dieser Mixtur bauen wir uns ein Bild der USA – und wundern uns, dass Donald Trump erfolgreich ist und Schusswaffen so beliebt sind.

Das Problem ist, dass der grösste Teil der USA zwischen New York und San Francisco liegt. Zum Beispiel Iowa. Der Bundesstaat im Mittleren Westen ist etwa dreieinhalbmal so gross wie die Schweiz, in der Schweiz leben aber fast dreimal so viele Einwohner. Iowa hat also fast zehnmal weniger Einwohner pro Fläche als die Schweiz. Iowa ist sehr, sehr ländlich. Hier, in Grinnell, einem Städtchen mit nicht einmal 10’000 Einwohnern, befindet sich das private Grinnell College. Diese Schule hat die Wiener Schriftstellerin Stefanie Sargnagel und die Berliner Musikerin Christine Rösinger für ein paar Wochen eingeladen. Sargnagel sollte Kurse in Creative Writing geben, Rösinger ein Konzert. Über ihre Erlebnisse berichtet Sargnagel in ihrem Buch. Und warum ist das so lustig?

Aus drei Gründen. Stefanie Sargnagel ist eine schonungslose Beobachterin und hat die Gabe, das Gesehene in präzise Worte zu fassen. Lustig ist das, weil sie sich dabei bemüht, den arroganten Blick der europäischen Kulturarbeiterin abzulegen und versucht, sich von den Klischees zu befreien, die wir vom «rural America» haben. Das Problem dabei ist: Die Klischees stimmen. Das merkt sie, als die beiden mit der Professorin, bei der sie zu Gast sind, eine Bar besuchen. Auf dem Bartresen stehen zwei riesige, durchsichtige Plastikgefässe mit Schraubverschluss. Darin schwimmen an die vierzig Eier in einer trüben Lake. Es sind «Pickled Eggs», hartgekochte Eier in einer Gewürzlake. Als sich einer der übergewichtigen Amerikaner, denen sie begegnen, auch noch als «Homer» vorstellt, wird ihr klar: Die «Simpsons» sind keine überzeichnete Erfindung. Jedes Detail aus den Simpsons ist brillant verarbeitete amerikanische Realität. Eine Realität, die wir aus der amerikanischen Popkultur zuweilen besser kennen als unsere eigene. Schliesslich sehen wir vor allem amerikanische Filme, hören amerikanische Musik, lesen amerikanische Comics – und manchmal auch ein bisschen amerikanische Literatur. Und das, was wir darin für erfunden und überzeichnet halten, ist die Wirklichkeit in den USA. Stellt Stefanie Sargnagel sarkastisch fest.

Lustig wird dieses Enttarnen des amerikanischen Klischee-Alltags, weil Sargnagel das Talent für höchst unterhaltsame brachial-präzise Beschreibungen hat. Ein Beispiel:

Der Flughafen von Des Moines ist winzig und riecht nach Flohmarkt. An den Wänden hängen Bilder von Kriegsveteranen, die im Irak oder in Afghanistan gefallen sind, dekoriert mit Plastikblumen. Von der Hektik Chicagos ist hier nichts mehr zu spüren. Die Menschen bewegen sich langsam, weil sie Wurzeln haben, tief ins Leben hinein, sie tragen Baseballkappen und weite Pullover. Die Decken sind niedrig, die Farben trüb. Über die Realität legt sich ab jetzt ein beige-bräunlicher Schleier. Das hier ist der vergilbte Teil der USA. (Seite 30)

Der vergilbte Teil der USA – da leben die Wähler von Donald Trump. Boshaft-präzise ist Sargnagel übrigens nicht nur den gegenüber den Amerikanern, sondern auch gegenüber sich selbst. Sie schreibt:

Dass Christiane gerne spielt, habe ich schon in Berlin gemerkt, als ich nach einem gemeinsamen Auftritt verkatert aus ihrem Arbeitszimmer kroch und sie am Esstisch vorfand, wie sie gerade «RIEN NE VA PLUS» rief, während ihr elfjähriger Enkel die kleine Silberkugel ins Rouletterad warf. Nicht jeder mag Gesellschaftsspiele, ich liebe sie allerdings auch. Denn sie automatisieren Gesprächsverläufe, wie Alkohol. Sie ordnen die Verhältnisse und erhöhen den Puls, wenn man sie ernst nimmt. Keine peinlichen Pausen, alles geschieht unter Anleitung. Ein «Du bist dran» ersetzt die mühsame Themenfindung in unvertrauten Runden und löst meine soziale Verklemmung. In Phasen völliger Alkoholabstinenz klammere ich mich erbittert an Spieleabende. (Seite 51)

Die präzisen Beobachtungen von Stefanie Sargnagel sind nicht nur lustig, sie sind auch ausgesprochen spannend. Etwa wenn sie sich über die Verhältnisse am College Gedanken macht. Das Grinnell College ist reich, weil es Intel-Anteile besitzt. Robert Noyce ist hier zur Schule gegangen, einer der Mitbegründer von Intel. Trotzdem muss, wer hier studieren will, mit Kosten von um die 70’000 Dollar rechnen. Das führt zu einer ganz anderen Stimmung am College als an einer europäischen Universität. Sargnagel schreibt, das College sei einerseits voll junger grossartiger Menschen voller Idealismus und Tatendrang, andererseits seien es verwöhnte Bengel, die meinen, jedes ihrer Bedürfnisse wäre ein Politikum. Am meisten überrascht sie der grosse und steigende Stellenwert der Religion. Sogar die queeren Studierenden seien momentan sehr religiös. Vor allem aber verwandeln die hohen Gebühren die Studierenden.

Nach dem Mittag spaziere ich noch über das Collegegelände. Eichhörnchen hüpfen um mich herum über den Rasen. Sie sind kräftiger, grauer, extrovertierter und optimistischer als die verschreckten, depressiven europäischen Pendants. Die Studierenden wirken ja auch so zufrieden, engagiert und lebenshungrig. Ob es hier trotzdem Dropouts gibt? Leute, die die Institutionen von Grund auf ablehnen, weil es kein richtiges Leben im falschen gibt? AnarchistInnen, depressive TrinkerInnen, die voll auf anti sind und alles sabotieren wollen? Lässt sich das überhaupt mit einer Universitätskultur vereinbaren, in der man 70’000 Dollar für ein Studienjahr zahlt? Und wird nicht jedes Rebellentum von dem liberalen, durch Protestkultur geprägten Geist dieses Colleges absorbiert und damit zahnlos gemacht? Hätte ich es in Amerika je auf eine Uni geschafft oder wäre ich in meinem Trailerpark verrottet? Wäre eine Slackerkarriere wie meine, abgesichert durch Gemeindebauten und soziale Mindestsicherung, in den USA überhaupt möglich oder schaffen es hier wirklich nur die ekelhaft Ehrgeizigen in die Kunst?
Christiane sagt, wenn man mit amerikanischen Expats in Berlin ausgehen will, müssen die immer arbeiten, selbst die KünstlerInnen, die gar keinen Erfolg haben. Die kennen das gar nicht, dass man als Bohémien jahrelang einfach nur rumhängt. Ausgeht und schläft und ausgeht und schläft.
Die normale Sozialisation mitteleuropäischer UndergroundkünstlerInnen. Bin ich ein Produkt der Sozialdemokratie, des roten Wiens, der österreichischen Antriebslosigkeit?
Wahrscheinlich. (Seite 115f.)

Die extrovertierten, optimistischen Eichhörnchen, die optimistisch-lebenshungrigen Studenten – das ist gleichzeitig lustig und gut beschrieben, aber eben auch scharf beobachtet. Wer 70’000 Dollar für sein Studium zahlt, studiert anders als ein Student bei uns – und er wird auch mit einem ganz anderen Druck ins Berufsleben einsteigen.

Es ist lustig und bezeichnend zugleich, wie sehr Stefanie Sargnagel versucht, sich von ihren Klischees zu befreien und unvoreingenommen auf die Amerikaner zuzugehen – nur um die typisch europäischen Klischees umso heftiger bestätigt zu sehen. Das Essen zum Beispiel ist furchtbar, das Bier dünn, der Kaffee noch dünner, die Menschen dick und freundlich, Kultur gibts ausserhalb des Internets fast gar nicht und gefühlt führen alle Strassen in Iowa ins Nirgendwo. Vor allem aber finden sich im Buch immer wieder kleine Beschreibungsperlen wie diese:

Neue Leute kommen in die Bar. Ich werde nervös, muss mich aus meinem Kopf rausgraben und an den regen Gesprächen teilnehmen, und ich möchte mich an der Flasche festhalten wie am Hosenbein eines Elternteils, wenn man drei Jahre alt ist. (S. 77)

Das ist lustig, weil es so präzis ist: «Ich möchte mich an der Flasche festhalten wie am Hosenbein eines Elternteils». Eine schöne Mischung – und beste Unterhaltung.

Stefanie Sargnagel: Iowa. Ein Ausflug nach Amerika. Rowohlt, 304 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-498-00340-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498003401

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 21. März 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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