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In unseren Kreisen

Publiziert am 11. Mai 2023 von Matthias Zehnder

Wie wird man reich? Man könnte vielleicht einschränkend sagen: Wie wird man legal reich? Nein, nicht durch den legendären Sechser im Lotto, der ist und bleibt sehr selten. Die Antwort in unseren Breitengraden lautet: durch eine Erbschaft. Was könnte einem also besseres passieren, als ein grosses Haus und ein ebenso grosses Vermögen zu erben? Das ist die Ausgangslage des neuen Romans von Georg M. Oswald. «In unseren Kreisen» heisst die Geschichte. Der Titel deutet es schon an: Eine Villa zu erben ist nicht schwer, darin zu leben dagegen sehr. Das muss auch Tatjana Sandmann erleben, als sie von Tante Rose als Alleinerbin eingesetzt wird. Zusammen mit Ehemann Nikolai und Tochter Marie zieht sie ins geerbte Haus. Doch die Schwierigkeiten nehmen nicht erst da ihren Anfang. In meinem 153. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum das Buch auch dann lesenswert ist, wenn Sie nicht gerade ein Erbe anzutreten haben.

Tatjana, Nikolai und ihre Tochter Marie leben glücklich und zufrieden in einer Mietwohnung. Naja, wenigstens einigermassen zufrieden. Tatjana arbeitet als Kuratorin in einem staatlichen Museum, Nikolai ist Schriftsteller. Allerdings klingt das wesentlich glamouröser als es ist, aber immerhin können sie von ihrer Arbeit leben. Einigermassen wenigstens. Also dank Tatjana. Und sie können so mit den Ärzten und Rechtsanwälten im Viertel mithalten. Wenigstens mit den jungen. Wenigstens bisher. Denn die Gegend, in der ihre Wohnung liegt, wird immer teurer. Sie ist mittlerweile eigentlich zu teuer für sie. Zu teuer für alle, die hier wohnen.

Als Tatjana deshalb eines Abends einen Anruf einer Rechtsanwältin erhält, die ihr eröffnet, Tante Rose habe sie, Tatjana, zur Alleinerbin bestimmt, sind die drei ganz aus dem Häuschen. Zu Tante Rose, der Schwester ihres Vaters, hatte sie zwar kaum je Kontakt, aber offenbar hatte Tante Rose keine anderen Verwandten. Die Tante also hinterlässt Tatjana ihr Haus, das nach der offiziellen Schatzung 2,5 Millionen Euro wert ist. Dazu erhält Tatjana auch noch das Barvermögen der Tante, etwa noch einmal so viel. Das ist nicht unwichtig, denn ohne Barerbe könnte Tatjana die Erbschaftssteuer für das Haus nicht bezahlen. 30 Prozent beträgt die Steuer – insgesamt also rund 1,5 Millionen Euro. Danach bleibt der Familie immer noch eine Million – genug, um gut davon zu leben.

Mit der Erbschaft überspringen Tatjana, Nikolai und ihre Tochter Marie den vorgezeichneten Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs. Der ist nämlich sonnenklar in Deutschland (und wohl auch in der Schweiz):

«Es wurde niemals ausgesprochen, aber wenn es um Immobilien ging, lauteten auch in ihren Kreisen die Stufen zur Verheissung: Mietwohnung Neubau, Mietwohnung Altbau, Eigentumswohnung, gemietetes Reihenhaus, gekauftes Reihenhaus, gemietete Doppelhaushälfte, gekaufte Doppelhaushälfte, gekauftes frei stehendes Einfamilienhaus, selbst gebautes frei stehendes Einfamilienhaus. Es gab noch einige Unter- und Zwischenformen, aber das Prinzip dahinter war nicht so schwer zu verstehen und unterschied sich nicht im Geringsten von den hergebrachten Vorstellungen früherer Generationen. Durch die Erbschaft waren die Sandmanns von einer der untersten Stufen praktisch ins Nirwana katapultiert worden.» (S. 66f.)

Im Buddhismus ist das Nirwana der Zustand der Befreiung von allen Formen des Leidens und der Wiedergeburt. Es wird erreicht, wenn man den Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt durchbricht. Das Nirwana ist also die höchste Stufe, die man erreichen kann. Klar, dass die Sandmanns bersten vor Glück. Oder?

Doch so einfach ist es nicht. Das suggeriert schon der Titel des Romans «In unseren Kreisen»: Die Sandmanns haben sich quasi ins Nirwana geschummelt. Es beginnt damit, dass sie sich fühlen, als würden sie vor der Haustüre auf eine Bühne treten, ohne die geringste Ahnung zu haben, was da für ein Stück gespielt wird. Ihr Auto zum Beispiel, das sie vor der Haustüre parken, sieht aus, als gehöre es nicht hierher. Die Sandmanns fahren einen dreizehn Jahre alten Golf Variant. In ihrem alten Quartier hat der allenfalls wohlwollende Ironie hervorgerufen. Nicht weil das Auto so alt war, sondern weil sie überhaupt ein Auto besassen. Ihre Nachbarn am alten Ort sahen in einem Auto einen Stilbruch, ein unabsichtlich deutliches Bekenntnis zu bürgerlicher Normalität. Am besten, fanden sie, fuhr man überhaupt kein Auto. Nicht unbedingt aus ökologischen Erwägungen, auch wenn diese selbstverständlich eine Rolle spielten. Nein: Konformität und Spiessertum wurden traditioneller Weise ganz besonders durch das vor dem Haus geparkte Auto ausgedrückt.

In ihrem neuen Haus ist das ganz anders. Hier, im noblen Philosophenviertel, kommt man gar nicht ohne Auto aus. Bloss fährt da niemand ein Auto wie die Sandmanns. Hier sind die Autos elektrisch angetrieben oder mindestens hybrid und natürlich hat eine Familie nicht nur ein Auto. Ein dreizehn Jahre alter VW Golf Variant vor einem Haus wie dem von Rose kann nur eines bedeuten: Die Erben sind eingezogen.

Georg M. Oswald erzählt die Geschichte dieser Erben süffig und mit hinterhältigen Twists. Auch wenn sich die Sandmanns beobachtet fühlen, sobald sie das Haus verlassen – das Schlimmste sind nicht die Nachbarn, sondern sie selbst: Die nagende Stimme im Hinterkopf. Während sich Tatjana rasch in ihre Nachbarschaft einfügt und Tochter Marie sich gut in der neuen Schule zurechtfindet, kommt Nikolai mit der Stimme im Hinterkopf nicht zurecht. Dazu kommt: Im neuen Haus kann er nicht schreiben. Das Blatt bleibt leer. Als dann bei einer Party auch noch einer der Nachbarn stirbt, wird das vermeintliche Nirwana für Nikolai zur Hölle. Oder ist die Hölle nur in seinem Kopf?

Georg M. Oswald: In unseren Kreisen. Roman. Piper Verlag, 208 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-492-05883-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492058834

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 11. Mai 2022, Matthias Zehnder

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