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In einer dunkelblauen Stunde

Publiziert am 25. Januar 2023 von Matthias Zehnder

Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm spielt in seinem neuen Roman mit dem Erfinden von Lebensbeschreibungen. «In einer dunkelblauen Stunde» heisst das Buch. Es beschreibt, wie ein Fernsehteam einen Film über den bekannten Schriftsteller Richard Wechsler drehen will. Nachdem das Team Wechsler in Paris getroffen und in einem Café einige Szenen abgedreht hat, sollen Dreharbeiten im Heimatdorf des Schriftstellers folgen. Doch der taucht nicht auf. Dokumentarfilmerin Andrea beginnt im Dorf nach ehemaligen Bekannten und Freunden von Wechsler zu suchen. In einem Buch findet sie Hinweise auf eine Jugendliebe, die sein Leben beeinflusst hat, von der aber nie jemand wusste. Sie trägt Information um Information zusammen und verirrt sich immer mehr im Dorf und im Leben von Richard Wechsler. In meinem 138. Buchtipp sage ich Ihnen, wie Peter Stamm in seinem Buch zeigt, dass das Leben eines Schriftstellers keine Rolle spielt, sondern nur sein Werk.

Wenn ein Schriftsteller von sich selbst erzählt und diese Erzählung tatsächlichem Erleben entspricht, dann ist das Resultat eine Autobiographie, also die Selbstbeschreibung eines Lebens. Wenn ein Schriftsteller sich selbst als fiktiven Charakter einsetzt und dieses Alter Ego eine erfundene Geschichte erleben lässt, dann ist das Autofiktion. Ein Meister dieses Fachs ist Peter Stamm: Die Leserinnen und Leser seiner Bücher wissen nie, was in seinen Büchern real ist und was erfunden. Es spielt auch keine Rolle: So oder so ist es «ben trovato», gut erfunden – und gut erzählt.

Ganz besonders gilt das für sein neustes Buch «In einer dunkelblauen Stunde». Es ist ein Vexierspiel von Ebenen und Verspiegelungen. In der Realität wollten die beiden Dokumentarfilmer Georg Isenmann und Arne Kohlweyer für das Schweizer Fernsehen SRF einen Film über Peter Stamm drehen. Statt ein klassisches Portrait zu drehen, wollten sie die Entstehung seines neusten Romans dokumentieren. Sie begleiteten Peter Stamm von der ersten Idee bis zum fertigen Roman, beginnend in Paris, wo sich Stamm einen Sommer lang in ein Atelier einquartiert hatte. Die Reise führte aber auch in seine alte Thurgauer Heimat. Während der Dreharbeiten merkten die beiden Regisseure, dass Peter Stamm daran ist, einen Roman über einen bekannten Schweizer Schriftsteller zu schreiben, der von Dokumentarfilmern porträtiert werden soll. Sie realisierten, dass sie selber zum Sujet des neuen Buchs werden, dessen Entstehung sie eigentlich dokumentieren wollten. In der Realität ist dieser Film bereits als DOK-Sendung im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt worden.

Im Roman «In einer dunkelblauen Stunde» erzählt Peter Stamm, wie die beiden Dokumentarfilmer Tom und Andrea einen Film über einen bekannten Schweizer Schriftsteller drehen wollen. Während sich die beiden Filmer in der Realität auf das Spiel von Stamm eingelassen haben, scheitern die Filmer im Roman, weil sie dem Schriftsteller zu sehr auf den Leib rücken wollen. Sie meinen, dass sie im Leben des Autors die Wahrheit finden würden und finden doch nur Schnipsel von Fakten.

Richard Wechsler ist berühmt für seine autofiktionalen Bücher. Aber was sagen sie über ihn aus? Als Letztes hat er ein Buch mit dem Titel «Alle Tage meines Lebens» veröffentlicht.

«Nicht dass darin viel Verwertbares stehen würde. Es sind die immer gleichen Szenen, die in seinen Büchern vorkommen, die immer gleichen Schauplätze, das Dorf seiner Kindheit, Paris, ansonsten namenlose Orte, Provinznester, Agglomeration, Industrielandschaften und Gewässer, Flüsse, Seen, Weiher. Und ganz oft diese Frau, diese Jugendliebe, von der er besessen zu sein scheint. Eigentlich ist es erstaunlich, dass das überhaupt jemand liest.» (S. 42f.)

Das schreibt Schriftsteller Peter Stamm über sein Alter Ego Richard Wechsler – eine wunderbar selbstironische Spiegelung des eigenen Werks.

Eigentlich haben die Dokumentarfilmer im Roman vereinbart, den Schriftsteller in seinem Heimatdorf zu treffen. Doch der Autor taucht nicht auf. Also suchen die Filmer im Dorf nach Spuren. Sie reden mit dem Metzger, der sich zwar an den ehemaligen Mitschüler erinnert, aber seine Erinnerungen sicher nicht mit einer Fernsehcrew teilen will. Dokumentarfilmerin Andrea stöbert eine Jugendliebe auf und redet mit ihr, ohne Tom, den Kameramann mitzunehmen. Judith redet tatsächlich über Wechsler. Doch Andrea begreift, dass ihr das nicht weiterhelfen wird:

«Solange sie redet, wird sie nichts sagen. Sie spricht über die gemeinsame Schulzeit mit Wechsler am Gymnasium, darüber, dass er immer viel gelesen hat, dass er der Klassenclown war, aber auch eine verschlossene Seite hatte. Dass sie immer ein bisschen Angst vor ihm hatte, weil er so böse sein konnte. Aus lauter Unsicherheit wurde er verletzend. Statt mir zu sagen, dass er verliebt ist in mich, hat er sich über meine Frisur lustig gemacht oder über meine Kleider. Wobei wir damals wirklich schreckliche Frisuren hatten und komische Kleider trugen. Sie spricht über ihre Lehrer, erzählt Anekdoten, alles austauschbar. Wechsler hatte recht, sein Leben sagt nicht viel über ihn aus. Und besonders interessant ist es auch nicht. Oder jedenfalls nur für ihn.» (S. 54)

Das haben Fussballer und Schriftsteller gemeinsam: Gespräche mit ihnen neigen dazu, am Wesentlichen vorbeizugehen. Fussballer mögen noch so flink sein mit dem Ball am Fuss, sie haben oft kaum etwas dazu zu sagen. Schriftsteller mögen noch so eloquente Schreiber sein, was sie dazu sagen, ist selten relevant. Und ihr Leben ist im besten Fall Rohstoff und oft nicht einmal das. Stamm hat recht: Das Leben eines Schriftstellers sagt nicht viel über ihn aus. Oder jedenfalls nur für ihn. Oder sagt das gar nicht Stamm, sondern nur Wechsler, die Schriftstellerfigur im Buch des Schriftstellers?

Das mag jetzt etwas verkopft tönen, Stamms Buch ist dabei aber eine äusserst vergnügliche Lektüre. Es ist ein Spiegelkabinett der Autofiktion. So stellt sich Filmerin Andrea vor, wie die Begegnungen mit Wechsler hätten verlaufen können. Mit der Zeit interessiert sie sich mehr für den Wechsler, den sie sich vorstellt, als für den realen Wechsler. Der aber ist so wenig real wie Andrea selbst, beide sind nur ein Fiktion von Peter Stamm. Eine Fiktion, die beim Lesen so viel Vergnügen bereitet, dass man richtig überrascht ist, wenn man auf der letzten Seite des Buchs landet. Schön.

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. S. Fischer Verlag, 256 Seiten, 27.10 Franken; ISBN 978-3-10-397128-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971286

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 25. Januar 2022, Matthias Zehnder

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