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Im Schatten zweier Sommer

Publiziert am 16. Mai 2024 von Matthias Zehnder

Einige Jahre, nachdem Jan Koneffke mit seiner Frau eine Wohnung in der Wiener Rembrandtstrasse bezogen hatte,  entdeckte er, dass in ebendiesem Haus auch Joseph Roth gewohnt hatte. Ich weiss nicht, wem Joseph Roth heute noch ein Begriff ist. Am bekanntesten ist sein Roman «Radetzkymarsch», eine Art Abgesang auf das Habsburgerreich, den Kaiser und seine Armee. Lange vorher, 1914, wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, hatte sich Roth, aus Galizien kommend, an der Universität Wien für Philosophie und Literaturwissenschaft eingeschrieben. Im Haus an der Rembrandtstrasse hatte sich Student Roth als «Zimmerherr» einquartiert. Er wohnte also zur Untermiete. Viel mehr ist über diese Zeit, die letzten Monate im Kaiserreich, nicht bekannt. Das setzte die Fantasie von Jan Koneffke in Gang. Er stellte sich vor, im Treppenhaus auf den Studenten zu treffen. Er stellte sich einen stolzen, gehemmten und einsamen jungen Mann am Anfang seiner Entwicklung vor. 1936 hatte Joseph Roth in seinem Roman «Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht» geschrieben, dass die Liebe uns nicht blind macht, sondern sehend. Koneffke nahm sich deshalb vor, eine Liebesgeschichte zu schreiben. Das Resultat ist dieses Buch. Es erzählt von der Liebe zwischen dem Studenten aus Galizien und der ältesten Tochter seiner Gastfamilie. In meinem 204. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum das Buch gerade deshalb echt sein kann, weil es frei erfunden ist.

Franziska Paulina, Fanny genannt, kommt als erste Tochter des Ehepaars Martin und Josefine Fischler 1897 in Wien zur Welt. Martin Fischler ist Schuhmacher – nebenberuflich, schreibt Jan Koeffke. In seinem Hauptberuf sei er Sozialdemokrat. Kein Kunde, der in seinen Laden kommt, den er nicht in Diskussionen verwickelt. Er ist Jude, hält aber Abstand zu seinen Glaubensbrüdern und betrachtet sich selbst nicht als Juden. Religionen sind in seinen Augen nur Blendwerk. Ihre Töchter taufen die Fischlers katholisch. Nicht aus Überzeugung. Als pragmatische Menschen versprechen sie sich von einer katholischen Taufe Vorteile: Es sollen den Kindern Erniedrigung, Feindseligkeit und Gemeinheit erspart bleiben, die man als Jude in Wien Anfang des 20. Jahrhunderts notwendigerweise erlebt. Eine Kammer vermietet die Familie jeweils an einen Zimmerherrn, einen Studenten, der mit seiner Miete dafür sorgt, dass das Haushaltsgeld von Mama Fischler nicht schon vor dem 20. des Monats aufgebraucht ist.

1914 ist Fanny 17 Jahre alt und besucht das Lehrerinnenseminar der Ursulinen. Sie ist klug, belesen und denkt eigenständig. Und sie führt Tagebuch. Dieses (freilich erfundene) Tagebuch macht einen grossen Teil des Romans aus. In frischer, direkter Sprache erzählt Fanny vom Alltag im Schuhmacherhaushalt, der Schule und von der Grippe. Wieder einmal wechselt der Untermieter.

Papa hat mit einem Studenten verhandelt und einen – sagt Mama – zu niedrigen Mietpreis vereinbart. «Er ist nur ein Roth und kein Rothschild», verteidigt sich Papa. «Das ist es ja», schimpft sie, «der Bursche ist arm. Und was wird er am Schluss? Bei uns anschreiben lassen wollen!» – «Er hat zwei Wochen im Voraus bezahlt.» – «Sicher mit dem Kredit eines Landsmanns, das kennt man ja, und wenn er den abstottert, gehen wir leer aus.»
Wir sitzen am Abendbrottisch, alle sechs. Esti und Lux waren da, als der Zimmerherr antrat, um eine Besichtigung vorzunehmen. Tuschelnd will ich von beiden erfahren, wie er heißt. «Roth», sagt Esti, «mit Vornamen Joseph.» – «Moses Joseph», wird Esti von Lucie verbessert. «Man kann kein Vertrauen in sie haben», seufzt Mama, die unsere Suppenportionen in Teller gibt. «In wen?», will ich wissen. «Na, die aus Galizien.» – «Er ist aus Schwaby», verbessert sie Papa. «Aus Schwaby?» – «Ja, Schwabendorf. Westlich von Lemberg.» – «Und du kennst dieses Schwaby?» Das muss er verneinen. «Galizien ist es, Galizien bleibt es. Deine galizischen Juden sind Abschaum, sie bringen nichts als Armut und Dreck in die Stadt. Riechen nach Zwiebeln und Schimmel …» (Seite 33f.)

Das also ist Joseph Roth, ein jüdischer Student als Galizien. Genauer: aus Brody. Das liegt in der Nähe von Lwiw in der Ukraine. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte dieses Gebiet noch zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Joseph Roth ist schlank, mittelgross, seine Haare mit geradlinig seitlichem Scheitel sind glatt und blond und mit Pomade behandelt. Im Ganzen wirkt seine Erscheinung gepflegt. Sagt Fanny. Und er sieht nicht aus wie ein Jude aus Galizien. Sagt Joseph.

Er muss ein fescher Mann gewesen sein. Wenigstens damals, in den Tagen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Von 1914 bis 1916 studiert er an der Universität Wien Germanistik und Philosophie. 1916 wird er einberufen und kommt ab 1917 mit der kaiserlichen Armee an der Ostfront und in Italien zum Einsatz. 1918 wird er schwer verwundet und landet anschliessend in italienischer Kriegsgefangenschaft. 1919 bis 1933 arbeitet er zunächst in Wien, dann in Berlin als Journalist und zunehmend auch als Schriftsteller. Er gehörte also zur Gruppe der Weimarer Journalisten-Schriftsteller. Anders als Kästner oder Tucholsky, die für ironische Distanz und kritische Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen stehen und eine neue Sachlichkeit im Stil pflegten, war Joseph Roth aber ein Melancholiker. Seine beiden bekanntesten Werke sind «Radetzkymarsch» (1924), ein Requiem auf das kaiserliche Österreich, und «Hiob» (1930), die Lebens- und Leidensgeschichte des jüdisch-orthodoxen Toralehrers Mendel Singer.

1933 flüchtet Joseph Roth nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Deutschland nach Frankreich. Bis 1939 lebt er in Paris. Er lebt, finanziell und gesundheitlich schwer angeschlagen, im Hôtel de la Poste, direkt über seinem Stammcafé, dem Café de la Poste. Roth ist schwer alkoholkrank und setzt sich mit seinem Alkoholismus auch auseinander. Sein letztes Werk, die Erzählung «Die Legende vom heiligen Trinker», handelt von einem Trinker, der seine Schulden zurückzahlen möchte, aber nicht dazu kommt, weil er trinkt. Die Erzählung erscheint posthum: Joseph Roth stirbt 1939 im Alter von nur gerade 45 Jahren.

Auch diese letzten Jahre in Paris schildert Jan Koneffke in seinem Roman. Hauptfigur Fanny schafft nach dem Anschluss Österreichs in knapper Not die Flucht nach Frankreich. Hier stösst sie auf Joseph Roth und hilft ihm während seiner letzten Monate, als Assistentin. Als Sekretärin und, endlich, auch als Geliebte. Es ist der zweite Sommer einer Liebe. Das Tagebuch der jungen Fanny ist ein fröhlicher, fast unbekümmerter Bericht einer ersten Liebe. Die Schilderung der letzten Monate sind ergreifend und melancholisch. Abgesehen von den äusseren Daten ist auch dieser Teil der Geschichte frei erfunden. Das aber ist ganz im Sinn von Joseph Roth. Er hielt nichts von der blossen Berichterstattung, wie sie die neue Sachlichkeit pflegte. Roth hielt dieser Sachlichkeit entgegen, dass erst das Kunstwerk echt sei wie das Leben.

So gesehen hat Jan Koneffke einen echten Lebensbeschrieb von Joseph Roth geschaffen. Der kleine Galizier mit der grossen Sprache wächst einem dabei ans Herz.

Jan Koneffke: Im Schatten zweier Sommer. Galiani Berlin, 304 Seiten, 34.9 Franken; ISBN 978-3-86971-270-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783869712703

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Basel, 16. Mai 2024, Matthias Zehnder

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