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Herren der Lage

Publiziert am 14. September 2021 von Matthias Zehnder

Erinnern Sie sich noch an den Film «Did You Hear About the Morgans?», die Geschichte rund um das verkrachte New Yorker Ehepaar Morgan, gespielt von Hugh Grant and Sarah Jessica Parker, die vorübergehend in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden? Die eingefleischten Städter werden in eine kleine Stadt in Wyoming verlegt und da von Sheriff Clay Wheeler betreut. Dieser Sheriff wird vom unvergleichlichen Sam Elliott gespielt, Cowboyhut, knarrende Bassstimme, verschmitzte Augen und ein unglaublicher, weisser Schnauz. 

Genau so stelle ich mir Sheriff Lucian Wings vor, die Hauptfigur in «Herren der Lage» von Castle Freeman. Sheriff Wings arbeitet nicht in Wyoming, sondern in einem kleinen Kaff in Vermont, davon abgesehen aber könnten die Sheriffs Brüder sein.

In der Geschichte von Castle Freeman wird Sheriff Wings gerufen, weil zwei Teenager, ein Junge und ein Mädchen, aus einem Internat in der Nähe von Boston verschwunden sind. Beim Mädchen handelt es sich um Pamela, die Stieftochter eines New Yorker Bigshots. Und der schickt jetzt seine Anwälte und seine Enforcer in die Wälder von Vermont. Sie sollen dem Sheriff Beine machen, damit er mit seinen Leuten das Mädchen sucht. Doch der Sheriff ist so gelassen wie der Sheriff aus Wyoming im Film und lässt sich von den Städtern nichts sagen. 

Der Bundesstaat Vermont ist für seine grünen Wälder und seine Berge bekannt. Der Staat grenzt im Norden an Kanada und im Osten an den Bundesstaat New York. Für viele New Yorker ist er so etwas wie ein Naherholungsgebiet. Green Mountain State ist sein Spitzname. In diesen grünen Bergen hatte Carl Zuckmayer während des Zweiten Weltkriegs eine Farm gepachtet. Die Backwoods Farm nahe von Barnard. Vermont ist gross und dünn besiedelt: Der Bundesstaat hat etwa so viele Einwohner wie der Kanton Aargau, ist aber 16 mal grösser. Man kann das wohl als ländlich bezeichnen.

Hier, in diesem «rural Country» spielen die Geschichten, die Castle Freeman schreibt. Freeman ist zwar in San Antonio in Texas zur Welt gekommen, aber nach seiner Heirat ins südliche Vermont gezogen. Damals hätte er, sagt er selbst, den Bundesstaat auf einer Karte wohl nicht gefunden. Jetzt lebt er seit 40 Jahren in Vermont und er interessiert sich immer noch für die Menschen, die da leben, schreibt er auf seiner Homepage. 

In den letzten drei Romanen, die Castle Freeman geschrieben hat, ist Sheriff  Lucian Wings seine Hauptfigur. Er ist für ein ganzes Tal und die umliegenden Wälder zuständig: Auf der riesigen Fläche sorgt der Sheriff mit vier Deputys, einem Constable und vier Jagdaufsehern für Ordnung. 

In diesem riesigen Gebiet soll sich Pamela verstecken, die 17-jährige Stieftochter des New Yorker Milliardärs Rex Lord. Sie ist aus dem Internat ausgebüxt, vermutlich mit einem Jungen, dessen Vater im Tal lebt. Vielleicht verstecken sie sich irgendwo in der Wildnis. Der Sheriff soll sie finden, befiehlt der Anwalt. Armentrout heisst er. Und er ist ganz schön hochnäsig.

«Wir sassen eine Weile da. Manchmal habe ich beruflich mit Leuten wie Mr. Armentrout und seinem Boss zu tun. Zu oft für meinen Geschmack. Wenn sie aus der Stadt hier raufkommen, denken sie, sie haben die Stadt mitgebracht. In der Stadt sind sie grosse Nummern, da haben sie alles Mögliche zu bestimmen, und sie denken, das heisst, dass sie hier oben auch was zu bestimmen haben. Warum auch nicht? Ihre Macht beruht auf Geld, oder? Und das Geld ist an beiden Orten dasselbe: amerikanische Dollar. Sie denken, wir sind Portiers, Oberkellner, Taxifahrer, Chauffeure, Kindermädchen, Hausmeister, Gärtner, Masseure, Hostessen, Butler, Barmänner, Schneider und so weiter, wie die Leute in der Stadt, die dafür bezahlen. Und in gewisser Weise haben sie damit wohl recht. Es ist tatsächlich dasselbe Geld, und sie sind diejenigen, die es haben. Ausserdem sind sie freie Bürger, Wähler und Steuerzahler. Wir stehen ihnen zu Diensten. Das ist unser Job. Aber sie haben eben nur in gewisser Weise recht. Wir können sie nicht wegschicken, und wir können sie nicht ändern. Aber wir können sie warten lassen.» (S. 22)

Und genau das macht Sheriff Wings. Er lässt Anwalt Armentrout, seine Schläger und seinen Boss warten. Unterdessen versteckt er das flüchtige Schülerpaar in seinem Tal. Die Schläger finden zwar ein Versteck nach dem anderen, aber Sheriff Wings hat jeweils dafür gesorgt, dass die jungen Ausreisser dann schon sicher im nächsten Versteck sitzen. Sheriff Lucian Wings lässt die Städter warten, bis es ihnen zu bunt wird. Aber auf dem Land halten die Menschen zusammen. Für einmal sind die Städter nicht die Herren der Lage. 

Der Verlag bezeichnet die Geschichte als «Country Noir». Ich finde beide Etiketten nicht ganz passend. Wenn ich das Buch lese, habe ich nicht Country im Kopf, sondern Blues – und noir ist die Geschichte nicht. Eher schlitzorig, aber wunderbar lakonisch und mit knappen Worten erzählt. Eben: Wie eine Geschichte, in der Sam Elliott die Hauptrolle spielt.

Castle Freeman: Herren der Lage. Hanser Verlag, 192 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-446-27075-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446270756

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Basel, 14. September 2021, Matthias Zehnder

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