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Heimweh im Paradies
1938 emigriert Thomas Mann mit seiner Familie in die USA. Zunächst leben die Manns an der Ostküste, in Princeton. Thomas Mann erhält eine Gastprofessur an der Princeton University. Er unternimmt mehrere Lesereisen und erhält Ehrendoktorwürden von gleich fünf amerikanischen Universitäten. 1941 wechselt die Familie Mann an die Westküste und lässt sich in Pacific Palisades nieder, einem Stadtteil von Los Angeles. Zunächst wohnen sie zur Miete, bauen sich dann aber am San Remo Drive ein Haus. Weil im Garten sieben Palmen stehen, nennt Thomas Mann das Anwesen «Seven Palms». Hier residiert er Mann als «König der Emigranten», wie er manchmal spöttisch genannt wird, bis 1952. Dann kehrte er, enttäuscht über den McCarthyismus und die unversöhnliche Verfolgung von linken Kulturschaffenden, den USA den Rücken und übersiedelt in die Schweiz, an den Zürichsee. Die Zeit von 1942 bis 1952 im paradiesischen Haus hoch über dem Pazifik ist Thema des neuen Romans von Martin Mittelmeier. Spannend, lustig und tiefgründig zugleich beschreibt er, wie sich Thomas Mann widerwillig in die Rolle der Galionsfigur im Exil fügt, wie er in seinen Reden gegen den Nationalsozialismus Sätze raushaut, die heute noch – oder besser: heute wieder – unter die Haut gehen und wie der Dichterfürst sich begeistert den Annehmlichkeiten des Lebens in Amerika hingibt. Warum es sich gerade jetzt lohnt, dieses Buch zu lesen, das sagte ich Ihnen diese Woche in meinem 255. Buchtipp.
Das Paradis befindet sich am San Remo Drive Nummer 1550: Hier hat sich Thomas Mann ein Haus gebaut. Entworfen hat es Julius Ralph Davidson. Er hat einen Kompromiss gebaut: modern, aber nicht zu sehr. Es ist kein kubistisches Glashaus, eher solid-zeitgenössische Architektur. Architekt Davidson bezeichnet Mann als «nostalgic German». Im inneren mildern die Manns die Modernität des Baus zusätzlich ab mit verschiedenen Einrichtungsstücken, die sie ins Exil gerettet haben. So erhält der sachliche Bau doch noch eine grossbürgerliche Aura, Stühle und Sofas sind, so erzählt es Martin Mittelmeier, «mit Stoff überzogen, gerne mit floralen Mustern. Empire-Schränke, Kommoden und Betten sind aus schwerem, dunklem Holz, es gibt deckenhohe Kerzenständer, das Grammofon und Jugendstilbilder an den Wänden. ‹Möbel, denen man ihren Gebrauch ansieht, und ein heimeliges Durcheinander zeigen, dass dieses Haus seinen Bewohnern dient und nicht umgekehrt›, heisst es in einer Homestory der Los Angeles Times.»
Das wichtigste Möbel, das Thomas Mann ins Exil gerettet hat, ist sein Schreibtisch aus München, samt zugehörigem Hamburger Empire-Fauteuil. Wo immer er ist, baut sich Thomas Mann auf seinem Schreibtisch eine Umgebung auf: ein Jugendfoto von Ehefrau Katia, ein siamesischer Krieger, eine chinesische Aschenschale, Schere, Brieföffner, eine ägyptische Dienerfigur. Sein Arbeitszimmer ist eine Zeitkapsel. Er braucht die verlässliche Ordnung seiner Gegenstände, damit er abtauchen kann in seine Geschichten: Tisch, Sessel, Lampe, Bücherreihe. Das Gehäuse darum herum kann dann funktional-modern sein und im Garten dürfen sogar Palmen stehen. Thomas Manns Welt ist dieser Schreibtisch.
Wir sind uns gewohnt, mit leichtem (bis übergriffigem) Mitleid an Geflüchtete und Emigranten zu denken, auch und gerade an geflüchtete Kulturschaffende. Thomas Mann passt nicht in dieses Bild. Als der nobelpreisgekrönte Dichter 1938 in die USA übersiedelt, ist er weder arm noch bedürftig. Er ist dank internationaler Übersetzungen finanziell abgesichert, seine Werke verkaufen sich weiterhin gut und er kann auf die Unterstützung von einflussreichen Freunden bauen. Und von Freundinnen: In den USA lässt vor allem Agnes E. Meyer ihre Beziehungen (und ihre Brieftasche) spielen.
Agnes Elizabeth Meyer war ursprünglich Journalistin. Sie war mit Eugene Meyer verheiratet, der früher einmal Finanzminister war und durch Börsengeschäfte schwerreich wurde. Vor allem war sie Miteigentümerin und Mitherausgeberin der «Washington Post». In dieser Rolle ist uns vor allem ihre Tochter Katharine Graham ein Begriff: Sie leitete fast 35 Jahre lang die Washington Post Company. Als Tochter Katharine Herausgeberin der Zeitung war, deckte die «Washington Post» die Watergate-Affäre auf. Ihr Mutter also war eine Gönnerin und Freundin von Thomas Mann. In seinen Tagebüchern nennt er sie eine «tyrannische Förderin». Phasenweise will sie ihn täglich sehen und sich von ihm aus seiner Arbeit vorlesen lassen. Tag für Tag, Punkt zwölf, erscheint Thomas Mann in einem Luxushotel in Los Angeles, extrem gefordert von anmassender Verehrung. Er, der zurückhaltende, ja hölzerne Deutsche, sieht sich mit einer emotional aufgeladenen, amerikanischen Macht-Frau konfrontiert. Und was macht Thomas Mann? Er verarbeitet die Begegnung im Roman, an dem er schreibt, seinem «Joseph»-Roman.
Thomas Mann kann nicht anders, als das, was ihn umgibt, als Material zu benutzen, also gelangt Agnes E. Meyer als Facette einer Figur in den Joseph-Roman. Das war lebenswelttechnisch ungeschickt, denn es führte natürlich wieder zu Ekstase und Überschwang aufseiten der sich erkennenden Agnes E. Meyer. Aber was soll er tun, er kann nicht anders. Thomas Mann liest Agnes E. Meyer vor, wie Tamaras erste Gatten auf eine Weise ums Leben kommen, die die Zuhörerin vermuten lässt, dass Thamar nachgeholfen hat. So sehr will sie sich in die Geschichte einschalten, sie schreckt vor nichts zurück.
«Sie zu lieben, mein Freund, ist eine hohe Kunst», schrieb Meyer im letzten Jahr, «ein komplizierter Solo-Tanz.» Sie sieht sich nicht ungern an der Stelle Thamars, die voll leidenschaftlichen Stolzes der Geschichte des grossen Erzählers lauscht. Und unbeirrbar ihre Ziele verfolgt. Aber dass sie dafür mehrere Gatten umbringen soll, ist dann doch etwas zu exaltiert. Sie hat einen alternativen Vorschlag. Thamar und Jaakob: durchaus reizend. Aber warum nicht gleich an das Bündnis von Jaakob und Gott denken. Natürlich, die Positionen würden jeweils ein Stück weiter rücken: Sie wäre Jaakob und Mann wäre Gott. Warum sollte so ein Bündnis in einer rein menschlichen Begegnung nicht möglich sein? (Seite 66 f.)
Thomas Mann tut sich mit seiner Gönnerin also schwer. Natürlich ist es Leiden auf hohem Niveau. Zur gleichen Zeit kämpfen andere deutsche Emigranten ums Überleben, auch in den USA. Bruder Heinrich zum Beispiel, mit knapper Not den Nazis entronnen. Oder Rolf Nürnberg, ein in Berlin weltbekannter Reporter, der nun in den USA nicht weiss, wohin mit seiner Scharfzüngigkeit. Martin Mittelmeier bringt das auf die knappe Formel:
Nicht alle, die die Nazis überlebt haben, überleben die Emigration. (Seite 16)
Es ist einer dieser lakonisch-präzisen Sätze, von denen es wimmelt in diesem Buch. Lesen Sie es also unbedingt mit dem Bleistift in der Hand. Ein weiteres Beispiel:
Eine Demokratie erweist sich auch in Kriegszeiten als Demokratie, wenn sie nicht die Ausgrenzungsmechanismen derer übernimmt, die sie bekämpft. (Seite 51)
Die Sätze zeigen: Martin Mittelmeier schreibt zwar über Thomas Mann und dessen Exil im Paradis von Los Angeles, er erzählt vom Abschluss der «Joseph»-Tetralogie, wie Thomas Mann seinen Goethe-Roman «Lotte in Weimar» schreibt und warum es zu «Doktor Faustus» kommt. Der Roman spielt in den Emigrantenkreisen der 1940er-Jahre. Wir begegnen Bertolt Brecht und Viki Baum, Arnold Schönberg und Adorno. Thomas Mann besucht Teddy Roosevelt, den amerikanischen Präsidenten, und er engagiert sich mit Reden an die Deutschen gegen die Nazis. Wir stossen bei der Lektüre aber immer wieder auf Sätze, die erschreckend gegenwärtig sind, wie dieser Satz über die Demokratie, die nur eine bleibt, wenn sie nicht die Ausgrenzungsmechanismen derer übernimmt, die sie bekämpft. Das gilt für die USA der Kriegsjahre, die geflüchtete Deutsche und Japaner ausgrenzen wollte. Aber es gilt eben auch für unsere Demokratien heute und ihren Umgang mit dem Faschismus. Gerade dieser Umgang war 1940 schwierig und er ist es heute noch. Martin Mittelmeier erzählt von Thomas Mann:
«Der zukünftige Sieg der Demokratie» ist ein optimistischer Titel für seinen Vortrag , denn just in diesem März 1938 hat Hitler mit dem Anschluss Österreichs der Demokratie eine weitere empfindliche Niederlage zugefügt. Aber genau das will er seinen Zuhörern deutlich machen: dass die Demokratie nur siegen kann, wenn sie siegen will. Laut Mann gelingt ihr das nicht mit den ihr gemässen Mitteln des Abwägen, Entgegenkommens, Verhandeln. Der Faschismus will nicht abgewogen werden, will nicht, dass ihm irgendetwas entgegenkommt. Und schon gar nicht will er seinerseits abwägen, oder entgegenkommen. Die Strahlkraft des Faschismus bestehe ja gerade darin, diese Momente nationaler Politik als vergangen und unzeitgemäss zu disqualifizieren. Und sich als das Prinzip von Vitalität und Dynamik zu gerieren, das nun an der Zeit sei. (Seite 6)
Das ist stark und hochaktuell. Der Faschismus will nicht abgewogen werden, er kann deshalb nicht mit den üblichen Mitteln einer Demokratie bekämpft werden.
Charmant am Roman von Martin Mittelmeier ist, dass das Buch nicht nur aus so wichtigen Sätzen besteht. Thomas Mann begegnet eben nicht nur dem Präsidenten, sondern auch Greta Garbo und Joan Crawford, Viki Baum und Shirley Temple. Er beschreibt, wie Thomas Mann geradezu schwelgerisch Schallplatten hört mit Musik von Beethoven, Strauss und seinem geliebten Richard Wagner. Er sei halt, schreibt Mittelmeier, ein Liebhaber, ja ein Kulinariker der Sehnsucht. Gerade weil in ihm diese wilde Sehnsucht brodelt, ist er aber zugleich ein Verfechter von klarer Form und Struktur. Die Formlosigkeit im Sinnlichen bereitet Thomas Mann Unbehagen. Er fürchtet sich vor dem Verlust von Contenance und Comment. Er weiss über sich selbst: Es brauch die Form, um das Wilde zu zügeln. Im Eros ebenso wie in Musik und Poesie. Darin steckt der Urkonflikt mit seinem Bruder Heinrich, der das Korsett der Bürgerlichkeit schon lange abgestreift hat. Heinrich ist überzeugt: Wenn die Erotik vollkommen ist, umfasst sie Körper und Seele. In Heinrichs Büchern haben die Figuren halt Sex. Wenn man das verschleiert, wie das Heinrichs Meinung nach Bruder Thomas tut, kommen dabei nur kastrierte Figuren heraus.
Zwar versöhnen sich die Brüder miteinander im Exil, dennoch bleiben sie sich fremd. Heinrich bleibt der sinnliche Mensch, der sich durchaus naiv dem Genuss hingibt. Für Thomas Mann bleibt die Ironie der Zauber, mit dem er die Welt bannt. Thomas Manns Technik besteht in der Gleichzeitigkeit von Verspottung und Verherrlichung. Sein zentraler Affekt ist weder Hass, noch Liebe, sondern Interesse. Thomas Mann pflegt mit seinen grossen Romanen zwar die Erzählform des 19. Jahrhunderts, seine gebrochene, ironisierte Haltung den Welten gegenüber, die er darstellt, ist aber ungemein modern. Deshalb lässt sich Thomas Mann heute wieder fast wie zeitgenössische Literatur lesen. Das Buch von Martin Mittelmeier über Thomas Manns Zeit im scheinbaren Paradis Amerika, über die Entstehung von «Lotte in Weimar» und vor allem über «Doktor Faustus» ist ein guter Anreger und Einstieg in diese beiden Romane von Thomas Mann.
Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies. Thomas Mann in Kalifornien. DuMont Buchverlag, 192 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-7558-0033-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783755800330
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 15.05.2025, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
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