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Grünes Gold
Sommerzeit – Reisezeit – Lesezeit. In meiner literarischen Sommerserie stelle ich Ihnen jede Woche einen spannenden Krimi vor, der Sie an einen besonderen Ort entführt. Dabei erleben Sie Regionen, die wir sonst nur als Touristen kennen, aus der Perspektive der Einheimischen. Sechs Wochen, sechs Bücher, sechs Reiseziele – vom Mittelmeer bis an den Atlantik, vom Tessin bis nach Berlin. Heute geht es nach Capri. Da ermitteln die Inselpolizisten Enrico Rizzi und Antonia Cirillo in einem Mordfall, der mich an den letzten Roman von John Irving erinnert hat. Vor allem aber geht es im sechsten Fall der beiden Polizisten auf Capri um grünes Gold: das Olivenöl. Es wird ausschliesslich aus Oliven von der Insel gewonnen und in lokalen Ölmühlen verarbeitet. Das Öl schmeckt intensiv, fruchtig nach Apfel, reifen Bananen und Zitrusfrüchten, leicht bittersüss und würzig. Würde jemand für dieses grüne Gold über Leichen gehen? In meinem 262. Buchtipp, dem Auftakt zur Sommerserie, zeige ich Ihnen, warum sich die literarische Reise nach Capri lohnt.
Die Insel Capri liegt mitten im Golf von Neapel und ist kaum 10 Quadratkilometer gross. Sie ist also klein, aber sehr oho: Schon in der Antike war Capri die Glamour-Insel. Im Jahr 27 zog sich Kaiser Tiberius nach Capri zurück. Die Ruine seiner Residenz, der Villa Jovis, erinnert bis heute daran. Später wechselte Capri immer wieder die Besitzer – oder besser: die Besatzer. Die Byzantiner haben auf der Insel Spuren hinterlassen, die Normannen, die Spanier und schliesslich die Neapolitaner.

In der Literatur wurde Capri zur Chiffre für die Sehnsucht – Goethe geriet vor Capri sogar einmal in Seenot. Später verbrachten Thomas Mann und Rainer Maria Rilke Zeit auf der Insel. Die «FaZ» meinte sogar: «Wäre Rainer Maria Rilke nicht auf Capri gewesen, er hätte die Insel erfinden müssen.»
In den Krimis von Luca Ventura erleben wir eine andere Seite von Capri: Wir tauchen ein ins Alltagsleben der Einheimischen. Die zentrale Figur ist der bodenständige Agente di Polizia Enrico Rizzi. Er arbeitet als Polizist auf der Wache in Capri und hilft daneben seinem Vater Vito in der kleinen Landwirtschaft: Gemeinsam beliefern sie auf der Insel Restaurants mit Auberginen, Zucchini, Fenchel, Kartoffeln und Tomaten. Rizzi ist ein echter Caprese. Er kennt die Menschen von Capri und ihre Sorgen, ihre Ängste und ihre Sehnsüchte.
Sein Sidekick ist Antonia Cirillo. Sie stammt aus Bergamo und wurde nach Capri strafversetzt. Zu Beginn hat sie sich Rizzi oft widersetzt und den Kopf geschüttelt über die Einheimischen und ihren Zwist mit den Vorgesetzten in Neapel. Mittlerweile ist sie so gut angekommen auf der Insel, dass Sekretärin Teresa fürchtet, nicht Rizzi, sondern die zugewanderte Cirillo werde Ispettore Lombardi beerben, wenn der in Rente geht. Noch sitzt er aber hinter seinem Schreibtisch und macht, was ein richtiger italienischer Beamter tut: Er geht den Problemen aus dem Weg.
Schon zum sechsten Mal können wir Rizzi und Cirillo auf der Insel begleiten. Diesmal geht es um einen Mordfall, der mich an John Irving erinnert hat: In dessen letztem Roman kommt es zu einer Sesselliftfahrt mit zwei Leichen – das Buch heisst ja auch «Der letzte Sessellift». Im Roman von Luca Ventura kommt es auf dem Sessellift zu einem Mord: Ein Mann steigt unten quicklebendig ein und kommt oben als Leiche an.
Ein Fall für Rizzi und Cirillo, die, weil sie die Insel und ihre Bewohner kennen wie ihre Hosentasche, den einfallenden Kommissaren aus Neapel immer eine Nasenlänge voraus sind.
Bei diesem Sessellift handelt es sich um den Sessellift auf den Monte Solaro in Anacapri. Der Monte Solaro ist der höchste Punkt der Insel. Er bietet einen wunderbaren Blick auf die Küste mit den Faraglioni, die aus dem Meer ragen, und der vielfältigen Vegetation. Eine Fahrt dauert 13 Minuten – und es sind Einzelsessel. Polizistin Cirillo ist es etwas mulmig zumute, als sie sich in einen der Sessel setzt und auf den Berg transportieren lässt:
Mit den Beinen in der Luft baumelnd, über kleine Straßen und Wege, Gärten und Terrassen hinwegschwebend, fühlte sie sich hier oben auf seltsame Weise dem irdischen Leben entrückt, wie ein Geist, der die Verbindung zum Leben und den Menschen dort unten nicht mehr hatte, und plötzlich dachte sie: Vielleicht würde es so nach dem Tod sein. Dass man hinter einer unsichtbaren Wand verschwand, nicht mehr gesehen oder wahrgenommen wurde, obwohl man eigentlich noch da war; nicht mehr teilnahm, aber alles sah. Nach und nach wurden die Straßen, Terrassen und Gemüsegärten von der Natur abgelöst, von der sonnenverbrannten Macchia mit ihrem struppigen Wildwuchs aus halbhohen Bäumen, Büschen und Felsbrocken, die dazwischen lagen, als wären sie vom Himmel gefallen. Sie hielt sich an der Stange fest und beugte sich etwas nach vorn. Der Wacholder da unten, auf den sie zusteuerte, war wie geschaffen, um sich in seinem Schatten auf die Lauer zu legen, den Gewehrlauf zu platzieren und in aller Ruhe abzuwarten, bis die Zielperson vorbeigeschwebt kam. Die Spitze eines Gewehrlaufs wäre vom Sessellift aus zwischen Blättern und Zweigen nicht zu erkennen. Das galt auch für den ausladenden Rosmarinbusch, auf den sie sich langsam zubewegte und dessen würziger Duft sogar hier oben noch wahrzunehmen war. Und im dichten Laub der Myrte, da war sie sich sicher, wäre ein Mensch im Tarnanzug nahezu unsichtbar. Über den Berghang verteilt gab es so viele mögliche Verstecke, dass selbst vierundzwanzig Kollegen aus Neapel sicherlich nicht jedes identifizieren und überprüfen konnten. Ob Alessandro seinen Mörder entdeckt, ihm noch ins Gesicht gesehen hatte? Hatte der Täter sich womöglich zu erkennen gegeben? Oder hatte Alessandro bis zum letzten Moment nichts von der Todesgefahr mitbekommen, in der er schwebte, und stattdessen in den blauen Himmel über dem Golf von Neapel geschaut, den Duft von Rosmarin und warmer Erde eingeatmet? Waren dies seine letzten Eindrücke von der Welt gewesen, bevor sein Leben plötzlich durch eine Kugel beendet wurde? Cirillo spürte den letzten Sekunden im Leben von Alessandro nach, als sie glaubte, im Wacholderbusch unter ihr eine Bewegung zu sehen. Sie fragte sich, ob es wirklich der Wind war, der die Äste bewegte, fokussierte ihren Blick und kniff die Augen zusammen, um Details besser erkennen zu können. Dann blieb ihr fast das Herz stehen. (Seite 131f.)
Warum, verrate ich Ihnen natürlich nicht.
Thematisch steht im Buch das «grüne Gold» im Zentrum: das Olivenöl. Natürlich kennt sich Rizzi auch damit aus. Im Garten seines Vaters stehen, wie in jedem rechte Garten auf Capri, auch Olivenbäume. Im Rahmen der Ermittlungen besuchen Rizzi und Cirillo die Trattoria von Graziella und Claudia. Die beiden Schwestern betreiben zusammen das Restaurant und eine Ölmühle. Und sie produzieren Olivenöl. Claudia bietet Rizzi das frische Öl zum Degustieren an.
«Ist das schon die neue Pressung?» Rizzi nahm eine der schlanken grünen Flaschen in die Hand. Oro verde stand auf dem Etikett. Grünes Gold. «Gestern abgefüllt», erwiderte Claudia. «Willst du probieren? Deine Meinung würde mich interessieren.» Ohne seine Antwort abzuwarten, bat sie Federico, Brot zu bringen, rückte Stühle zurecht und sagte mit einem höflichen Seitenblick zu Cirillo: «Ihre Meinung interessiert mich natürlich auch, Agente.»
Während sie Platz nahmen und Federico Brot und Teller auf den Tisch stellte, erzählte Rizzi von der Person, die er im Olivenhain gesehen hatte. «So kurz nach acht Uhr», sagte er. «Weißt du, wer das gewesen sein könnte?»
«Vielleicht ein Spaziergänger?» Claudia schraubte das Fläschchen auf. «Hier kommen öfter mal welche vorbei.» «Könnte es sein, dass sich da drüben in der Ruine eine zweite Person eingenistet hat?», fragte Rizzi. «Das wäre mir neu.» Claudia goss Öl auf den Teller.
Auf dem weißen Porzellan bildete sich ein goldener Kreis mit einem leichten Grünstich. Rizzi tunkte sein Stück Brot hinein. Der fruchtige Geschmack des Öls verband sich mit der frischen Luft, der Sonne und der leichten Brise vom Meer und erinnerte Rizzi daran, dass er schon lange nicht mehr im Gras gelegen und einfach nur in den Himmel geschaut hatte.
Claudia ließ ihn nicht aus den Augen, während er schmeckte und nach den richtigen Worten suchte. «Artischocke», sagte er. «Was noch?» «Basilikum.» Er schloss die Augen. «Aber da ist noch etwas. Tomatenblatt.» Cirillo klappte ihr Notizbuch zu und schob geräuschvoll ihren Stuhl zurück, ohne vom Olivenöl gekostet zu haben. «Richten Sie Ihrer Schwester Graziella bitte aus, dass sie sich morgen zur Verfügung halten soll», sagte sie, «falls sie nicht schon heute von der Kriminalpolizei vernommen wird.» (Seite 60)
Für die aus Norditalien strafversetzte Polizistin Cirillo ist die Beschäftigung mit dem Olivenöl Zeitverschwendung. Sie findet es unmöglich, dass Rizzi sich so ausführlich damit abgibt. Und dass man ein solches Getue um das Öl machen kann. Aber für einmal gilt: in Oleum veritas – die Wahrheit ist im Olivenöl verborgen. Rizzi folgt der Spur des grünen Goldes – und findet so den Mörder.

Und warum lohnt sich die literarische Reise nach Capri? Ich meine natürlich abgesehen davon, dass Luca Ventura uns mit seinem Krimi entspannte Unterhaltung beschert? Ich habe beim Lesen einiges über Olivenöl gelernt. Zum Beispiel, wie aus den harten, grünen Oliven goldenes Olivenöl wird.
Graziella schob eine massive Tür auf. Der Raum dahinter war weiß gekachelt und lichtdurchflutet. Vor einer Wand aus Glasbausteinen stand eine Maschine mit verschiedenen Stahlbehältern und Apparaturen, an denen Kontrollleuchten blinkten. Es war so laut, dass eine Unterhaltung in normaler Lautstärke nicht möglich war.
Graziella schaute auf ihr Telefon. «Er muss jeden Moment hier sein», schrie sie. «Wollen Sie so lange warten?» Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie mit der Wanne auf der Schulter eine Trittleiter hinauf und kippte die Oliven in den Trichter. Dann betätigte sie einen Schalter. Ein Zischen ertönte, das kurz darauf in ein dröhnendes Rotationsgeräusch überging.
«Ist das die Olivenpresse?», rief Cirillo und deutete auf den bauchigen Apparat.
«Das ist die Häckselmaschine.» Graziella kreuzte ihre Handgelenke und bewegte die geballten Fäuste auf und ab, als würde sie Schlagzeug spielen. «Vier Hämmer!» Sie betätigte einen Riegel und schrie: «Sie zerkleinern die Oliven und zertrümmern die Kerne.» Sie klappte einen großen Deckel auf, an dessen Unterseite eine sämige grüne Masse klebte, und signalisierte Cirillo, dass sie hochsteigen und einen Blick in die Maschine werfen solle.
«Aber nicht hineinfassen!», schrie sie, als Cirillo gehorsam die Stufen erklomm.
Riesige Schaufeln mit scharfen Kanten wälzten die grüne Masse um. Ein intensiver Duft nach Oliven stieg auf. Graziella erklärte, beim Zerhäckseln der Früchte würde das Öl in kleinste Mikrobestandteile zerfallen und durch den stundenlangen Prozess des Umrührens wieder zusammenfinden.
Sie betätigte einen Hebel. Olivenmus quoll durch eine Leitung in einen Apparat, der in Umrissen und Form an einen Sarg erinnerte.
«Die Zentrifuge», schrie Graziella, es sei das Modernste, was es derzeit auf dem Markt gebe, und jeder auf Capri würde sie um diese Maschine beneiden. Mit unfassbar vielen Umdrehungen würden die Bestandteile der Olive – Fruchtfleisch, Wasser und Öl – auseinandergeschleudert und voneinander getrennt werden. Das Fruchtfleisch werde durch die Fliehkräfte nach außen gedrückt und zusammen mit dem Wasser über das Rohr abgeleitet, während im Zentrum der Zentrifuge, in ihrer Herzkammer, das Öl zusammenfließe.
Über ein dünnes Rohr rann das Öl aus der Zentrifuge fast tröpfchenweise in einen Trichter und sickerte durch ein Sieb in einen Stahlbehälter.
«Flüssiges Gold.» Graziella lächelte zufrieden, und ihre Augen leuchteten. «Erri sagt, besseres Öl als meines kennt er nicht.» (Seite 242f.)
Erri, das ist Enrico Rizzi. Und der muss es ja wissen. Ein Lied der neapolitanischen Band «The Kolors» spielt übrigens eine grosse Rolle im Buch. Rizzi singt es sogar auf dem Motorroller. Das Lied heisst «Italodisco» und im Refrain heisst es: «Questa non è Ibiza» – nein, Ibiza ist das nicht. Aber Capri. Und wenn Sie das Buch gelesen haben, mögen Sie die Insel. Nicht wegen ihres Glamours, sondern der Menschen wegen, die hier leben. Und ihrem grünen Gold.
Luca Ventura: Grünes Gold. Der Capri-Krimi. Diogenes, 320 Seiten, 24 Franken; ISBN 978-3-257-30112-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257301120
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 03.07.2025, Matthias Zehnder
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