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Goethe in Karlsbad
In dieser wunderbaren, kleinen Erzählung beschreibt Ralf Günther ein erfundenes und ein wahres Ereignis in Goethes späten Jahren. Wir schreiben das Jahr 1816, die Napoleonischen Kriege und der Wiener Kongress sind Geschichte. Johann Wolfgang von Goethe ist 67 Jahre alt und reist nach Karlsbad. Im tschechischen Heilbad will er sich erholen und Ruhe finden vor den Amtsgeschäften. Kaum angekommen, kann er in letzter Not gerade noch verhindern, dass sich vor seinen Augen ein junges Liebespaar das Leben nimmt. Die beiden unglücklich Verliebten haben sich seinen Werther zum Vorbild genommen und wollen lieber sterben, als ihre Liebe aufgeben. Goethe rettet ihre Leben in letzter Sekunde – und jetzt? Die beiden erinnern den Dichterfürsten an seine hymnische Verehrung der Liebe im «Werther» und in seinen Gedichten – und der Herr Geheimrat sieht sich von den Eltern der beiden Liebenden, bei denen er vorspricht, an seine bürgerlichen Pflichten erinnert. Kurz: Goethe sieht sich plötzlich mit den Handlungsmaximen konfrontiert, die er im eigenen Werk so hochgehalten hat. Was nun? In meinem Buchtipp sage ich Ihnen, wie Goethe sich entscheidet.
1774 veröffentliche Goethe den Briefroman «Die Leiden des jungen Werthers». Der Roman brachte ihm schlagartig internationalen Ruhm ein. Sie erinnern sich bestimmt an die Geschichte: Der junge Werther hat sich in Lotte verliebt – die aber ist die Verlobte seines Freundes Albert. Trotzdem werden Lotte und Werther von ihren Gefühlen überwältigt. Weil Werther weiss, dass ihre Liebe chancenlos ist und um Lottes Ehre nicht zu gefährden, erschiesst er sich. Der Roman löste ein regelrechtes Werther-Fieber aus – nicht wenige junge Menschen folgten dem Beispiel ihres Idols bis in den Tod.
Auch Amalie und Henri sind im Begriff, sich zu entleiben, wie es so schön heisst, als Goethe beherzt einschreitet und dem jungen Mann die Pistole entreisst. Die beiden jungen Leute sind unglücklich verliebt. Amalie ist eine von Schwaikhofen, für ihre Mutter kommt nur eine ebenbürtige Partie in Frage und die hat sie für ihre Tochter gefunden. Für Henri ist die Lage ähnlich aussichtslos: Er ist der Sohn eines wohlhabenden Weinhändlers und für den kommt nur eine Schwiegertochter in Frage, die Vermögen in die Ehe einbringt – er sieht sonst das Erbe, das er seinem Sohn vermachen will, in Gefahr.
Und Goethe? Der will eigentlich nur seine Ruhe. Er hat sich nach Karlsbad zurückgezogen, um vom Schwefelwasser zu trinken und sich von seinen Amtsgeschäften zu erholen. Da konfrontieren ihn die beiden selbstmordwilligen Liebenden mit jenen hehren Grundsätzen, die er sie in seinen Büchern besungen hat. Wie soll er reagieren? Die beiden Liebenden beschwören ihn, bei ihren Eltern ein gutes Wort für sie einzulegen. Er werde sicher gehört, schliesslich ist er nicht nur Europas berühmtester Dichter, seine Exzellenz ist auch Geheimer Rat des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, von Herzog Carl August, und gehört damit zu den ersten Männern im Staat.
Doch bei den Eltern des Liebespaars läuft Goethe auf. Die Mutter putzt ihn richtiggehend ab. Ja, sie sagt ihm, es wäre klüger gewesen, die jungen Leute hätten sich umgebracht: «Lieber ein Tod in Ehre als ein Leben in Unehre.» Ihr Ausdruck war von unglaublicher Härte. Selbst Goethe, der Schlachtfelder und Bajonette gesehen hatte, musste schlucken.
«Madame. Es ist Ihr Kind.»
«Dummheit muss bestraft werden.»
«Ist Liebe denn Dummheit?»
«Eine Spielart davon, sicher.»
«So mag ich gerne dumm sein.»
Die Freifrau schürzte die Lippen. «Ihr Lebenswandel ist hinreichend bekannt, Exzellenz. Fortwährend gibt er Anlass zu Gerede. Sie leben mit ihrer Buhle, den Bastard aus dieser Verbindung haben Sie hinten herum legalisieren lassen. Niemals werden derartige Gepflogenheiten in meiner Familie einreissen!»
Goethes Ohren brannten vor Scham, Erst wollte er sich jeder Bemerkung enthalten – und formulierte dann doch eine Entgegnung, die seinen Zorn über die Herabsetzung nur mühsam zügelte: «Ein jeder mag für sich entscheiden, in welchem Jahrhundert er zu leben gedenkt.» (S. 44f.)
Goethe wird also mit seinem eigenen Lebenswandel konfrontiert: Er lebte jahrelang ohne Trauschein mit seiner Geliebten Christiane Vulpius zusammen. Erst kürzlich haben die beiden geheiratet und Sohn August auf diese Weise legalisiert. Goethe ist es egal: Er liebt Christiane. Doch Liebe ist 1816 kein Wert, auf den die Gesellschaft Rücksicht nimmt. Nur den jungen Menschen ist die Liebe Leitstern und Gelübde.
Auch beim Vater von Henri, einem wohlhabenden, aber bürgerlichen Weinhändler in Erfurt, geht es ihm nicht besser. Für den Kaufmann ist eine Heirat keine Frage der Liebe, sondern des Geschäfts. Der Händler entgegnet Goethe: «Sehen Sie, Exzellenz, auch in der Liebe geht es um Bewahrung. Die Vermögen unserer Familie haben die Revolution, die Kriege des Korsen und die törichte Kontinentalsperre überdauert. Wäre es nicht fatal, wenn diese über Jahrzehnte erlangte Bedeutung durch Kindsflausen über den Jordan gingen? Ach, was sage ich, fatal ist ein zu geringes Wort, es wäre unerträglich.»
«Sie fürchten, Ihr einziger Sohn könnte sein Kapital an der launischen Börse der Liebe verspielen?» Mit friedlicher Geste faltete Goethe die Hände. Aus kleinen, verquollenen Augen beobachtete Liebau jede Bewegung des Dichters, als versuchte er, dessen Hintergedanken zu erraten.
«Ein Vermögen zu erwirtschaften und zu erhalten», fuhr er fort, seine Sicht der Dinge zu schildern, «hat nichts mit Glück zu tun, sondern mit Fleiss und Umsicht.»
«Ein Lebensbund ist für Sie eine Frage des wirtschaftlichen Kalküls?»
Der Kaufmann beugte sich vor und lächelte spöttisch. «Schauen Sie, Exzellenz, der grösste Feind der Vernunft ist das Sentiment. Ordnen Sie ihre Entscheidungen dem Gefühle unter, so geben Sie Ihr Glück preis. Das Gefühl führt uns nicht zu uns selbst, zu unseren innigsten Zielen, es entfernt uns davon.»
Goethes Kehle fühlte sich trocken an. Er spürte eine unangenehme Nähe zu seinen eigenen Worten Henri gegenüber. «Liebe ist für Sie also gleichbedeutend mit Untergang?», fragte er schliesslich. (S. 115f.)
Um diese Frage kreist die Erzählung: Welche Bedeutung hat die Liebe? Ist es nur ein Sentiment, wie der Weinhändler sagt, das in schwülstigen Gedichten Urstände feiert, im harten Alltag aber keine Bedeutung hat? Oder sollen die Menschen die Liebe ernst nehmen? Denn das hat Konsequenzen. Es bedeutet, dass Frau und Mann sich auf Augenhöhe begegnen und beide in ihrer Beziehung gleichermassen ernst genommen werden.
Goethe wird also mit dem Geist seiner Dichtung konfrontiert und auf den Prüfstand gestellt. Wie ist es um seine eigene Liebe bestellt? Er lebt zwar eine mutige Beziehung zu Christiane Vulpius – aber wie kommt es, dass gleichzeitig eine hübsche Sängerin im Nachbarort von ihm schwanger ist? Wie geht er mit diesem Mädchen und seinem Kind um? Dieser Teil der Geschichte übrigens ist wahr: Goethe hat die Sängerin mit einem Hofbeamten verheiratet und diskret dafür gesorgt, dass sein Kind, das er wohl nie zu Gesicht bekommen hat, materiell gut versorgt war.
Ralf Günthers Erzählung führt uns lebendig und präzise das Leben des Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1816 vor Augen, die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit und den allmählichen Wandel der Werte, der sich abzuzeichnen beginnt. Es ist ein wunderbar leicht zu lesendes Buch – das uns auf vergnügliche Art und Weise an das schönste erinnert, was einem Menschen begegnen kann: die Liebe.
Ralf Günther: Goethe in Karlsbad. Eine Erzählung. Kindler Verlag, 176 Seiten, 26.90 Franken; ISBN: 978-3-463-00004-6
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783463000046
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Basel, 30. März 2022, Matthias Zehnder
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