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Gidget. Mein Sommer in Malibu

Publiziert am 5. September 2023 von Matthias Zehnder

Sicher kennen Sie «Bonjour tristesse» von Françoise Sagan, den Roman über die 17-jährige Cécile und ihren Sommer an der Côte d’Azur. Oder «The Catcher in the Rye» von J. D. Salinger über den 17-jährigen Holden Caulfield, der zurückschaut auf seinen Sommer in New York. Erst jetzt habe ich gemerkt, dass es noch einen dritten Coming-of-Age-Roman aus dieser Zeit gibt: «Gidget» heisst die Geschichte. Sie handelt von der 17-jährigen Gidget und davon, wie sie im Sommer in Malibu das Surfen und die Freiheit entdeckt. Der Roman ist mehrfach verfilmt und serialisiert worden. Geschrieben hat ihn Frederick Kohner, ein jüdischer Drehbuchautor aus Böhmen, der wie viele andere von den Nazis verfolgt und vertrieben wurde und sein Glück in Hollywood fand. Den Roman schrieb er 1956 für seine Tochter Kathy. Hanna Hesse hat die Geschichte neu übersetzt. In meinem 170. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, in den Sommer von Gidget einzutauchen.

1956. Dwight D. Eisenhower ist amerikanischer Präsident, Elvis Presley dominiert mit «Heartbreak Hotel» die Charts und auf den Buch-Bestsellerlisten steht «The Catcher in the Rye» von J. D. Salinger, eine Geschichte über einen 17-jährigen Jungen. Zur gleichen Zeit entdeckt in Malibu unter der gleissenden Sonne Kaliforniens ein Mädchen das Surfen: Jeden Tag zieht es Kathy Kohner an den Strand von Malibu zu den «Kuks», so nannte man damals die Surfer in Malibu. Es waren ausschliesslich Jungs, sie lebten am Strand und trugen alle Spitznamen. Ihre Misson: das Reiten der Wellen. Es war, sagt Kathy Kohner heute, ein für ein Teenager-Mädchen äusserst verlockender Lebensstil. Sie kaufte sich ein Surfboard und setzte alles daran, die Kunst des Wellenreitens zu lernen.

Das war 1956 keineswegs selbstverständlich. Surfer waren damals Sonderlinge und Mädchen standen ohnehin nicht auf die Wellenbretter. Kathy erzählt, dass sie jeden kannte, der ein Surfboard besass, so wenige waren es. Die Surfer hielten zusammen. Kathy hatte eine neue Familie gefunden. Und einen neuen Namen: Eines Tages nannte sie jemand Gidget, aus «Girl» für Mädchen und «Widget» für Zwerg – sie war damals nur gerade 1.50 gross.

Eines Tages erzählte Kathy Kohner ihrem Vater, dass sie gerne eine Geschichte über ihre Sommertage in Malibu schreiben würde, über ihre Freunde, die in einer Strandhütte lebten, über einen der Surfer, in den sie sich bis über beide Ohren verliebt hatte, darüber, wie schwer es war, auf einer Welle zu reiten – und wie beharrlich sie daran arbeitete, surfen zu lernen und von der «Crew», wie sie die Jungs in diesem Sommer nannte, akzeptiert zu werden.

Nun ist Kathy Kohners Vater nicht irgendwer: Frederick Kohner war zu dieser Zeit ein bekannter Drehbuchautor in Hollywood. Kohner stammte aus Böhmen und hatte in Wien und Paris studiert. Das Filmhandwerk hatte er bei der UFA in Berlin gelernt, wo er unter anderem zusammen mit Billy Wilder an einem Drehbuch arbeitete. Weil Kohner Jude war, wurde er von den Nazis verfolgt. 1936 gelang ihm mit seiner Frau die Flucht in die USA. Von da an arbeitete er in Hollywood.

Als Kathy ihrem Dad vom Strand und den Surfern erzählte, war er fasziniert und versprach seiner Tochter, die Geschichte für sie aufzuschreiben. In nur gerade sechs Wochen entstand der Roman «Gidget. The Little girl with big Ideas». Es war sein erstes Buch und es wurde zu einem grossen Erfolg. 1959 und 1961 entstanden auf der Basis der Romanvorlage zwei Kinofilme, 1965/66 entstand eine Fernsehserie. Gidget wurde zum Synonym für Sommer, Freiheit und Lebenslust. Das Buch und die Filme halfen mit, den grossen Boom des Surfens in den USA auszulösen.

Heute ist Kathy 82 Jahre alt und liebt Malibu immer noch. Sie steht zwar nicht mehr auf ein Board, treibt sich aber immer noch mit den «Jungs» am Strand herum. Der S. Fischer-Verlag hat Frederick Kohners Sommerroman jetzt in einer neuen Übersetzung von Hanna Hesse neu auf Deutsch herausgegeben. Das Buch beinhaltet nicht nur den Roman, sondern auch ein Vorwort von Kathy und ein Nachwort von Volker Weidemann, in dem er eine Begegnung mit der heutigen Kathy schildert.

Die Geschichte selbst ist wie der erste Sommer eines 15-jährigen Mädchens in Malibu: Leicht und lichtdurchflutet. Beim Lesen kriegt man ein Gefühl für Wind und Wellen, man spürt das Salz auf den Lippen und Sand zwischen den Zehen und dieses Ziehen im Bauch, die Sehnsucht nach Freiheit, wie man sie nur als Teenager kennt. Das ist denn auch der Grund, warum es sich lohnt, dieses Buch zu lesen: um einmal wieder dieses Ziehen im Bauch zu spüren.

Frederick Kohner: Gidget. Mein Sommer in Malibu. S. Fischer Verlag, 176 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-10-397540-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103975406

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Basel, 5. September 2023, Matthias Zehnder

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