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Gansabhauet

Publiziert am 18. März 2021 von Matthias Zehnder

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Diese Woche: «Gansabhauet» von Peter Weingartner.

Am Martinstag, also jeweils am 11. November, ist das kleine Städtchen Sursee im Kanton Luzern Schauplatz eines archaischen Brauchs: Junge Menschen versuchen mit verbundenen Augen einer aufgehängten Gans mit einem Säbelschlag den Kopf vom Hals zu trennen. Das Ganze wirkt wie eine heidnische Zeremonie: Die Schläger:innen tragen nämlich einen Roten Umhang und eine goldene Sonnenmaske. Wem es gelingt, die Gans zu köpfen, dem winkt Ruhm und Ehre und er darf die Gans behalten. «Gansabhauet» heisst der Brauch

«Gansabhauet» heisst auch der neue Krimi von Peter Weingartner. Im Buch geht es nicht nur den Gänsen an den Kragen, sondern auch Metzgermeister Bossert. Der wird nämlich am Morgen nach dem Volksfest mit einer klaffenden Wunde am Hinterkopf tot in der Suhre gefunden. Und das nur wenige Stunden, nachdem radikale Tierschützer gegen Metzger Bossert protestiert und sein Schaufenster verschmiert haben. Ein Fall für Anselm Anderhub, Ermittler bei der Luzerner Kriminalpolizei. 

Sursee ist eine Kleinstadt mit 10’000 Einwohnern im Kanton Luzern. Das Städtchen liegt grob gesagt zwischen Aarau und Luzern am Sempachersee. 

Je nachdem, kennen Sie Sursee vor allem als Herkunftsort von Fussballer Haris Seferović, von Unternehmer und Politiker Otto Ineichen (ja, der von Otto’s Warenposten) oder des Theologen Hans Küng.

Vor allem aber ist Sursee für die «Gansabhauet» bekannt. Zwar sind die Gänse tot, die da an einem Draht über der Bühne vor dem Rathaus baumeln. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass Tierschützer gegen die Misshandlung der Gänse protestieren, wie es Peter Weingartner in seinem Krimi schildert.

Die Tierschützer haben eine Gegendemo organisiert und verurteilen den Metzgermeister des Städtchens auf ihrer eigenen Bühne zum Tod, weil er sich den Tieren gegenüber schuldig gemacht hat. 

Wenige Stunden später wird der Metzger tot gefunden. Ein Zufall? Oder ein klarer Fall?

Anselm Anderhub nimmt die Ermittlungen auf und das ist ihm gar nicht recht. Denn er wohnt in Sursee und würde in seiner Stadt lieber weiter unerkannt bleiben. Zudem ermittelt es sich leichter, wenn man etwas Distanz zur Sache hat. 

Distanz aber gibt es in diesem Fall nicht. Anderhub sieht sich schnell verstrickt in einem Netz von Geschichten aus seiner Nachbarschaft.

Seine Frau Trudi wird im Altersheim, in dem sie arbeitet, Zeuge eines Wutanfalls der alten Frau Bucher. Diese Berta Bucher hatte einen Sohn, der bei einem Jagdunfall erschossen wurde. Von diesem Jagdunfall weiss auch Markus Odermatt, ein alter Chorherr, der zwar nicht mehr so gut zu Fuss ist, sich aber immer noch an eine Beichte über einen Unfall erinnern kann, die ihm als Beichtvater noch lange schwer aufgelegen ist. Und zu einem Unfall kommt es auch, als Jungjäger auf militante Tierschützer stossen, die ihnen den Hochsitz absägen wollen. So schliesst sich der Kreis zurück zu den Tierschützern. Waren sie doch die Täter?

Würde der Krimi in Frankreich spielen, würden wir sagen, es sei ein Regionalkrimi, der schöne Einblicke gibt in die Kultur der Bretagne oder des Périgord. In diesem Sinn ist «Gansabhauet» ein Schweizer Regionalkrimi im besten Sinn: Er gibt Einblicke in die Schweizer Seele. 

«Die Bitte Anselms um etwas mehr Konkretheit erfüllt Trudi umgehend, nachdem sie sich Eisenkrauttee nachgegossen hat. Und Anselm beisst in ein Stück Brot, auf dem über einer satten Schicht Butter der klebrige Quittengelee der Schwerkraft gehorchen will, was der Polizist mit einer abrupten Kopfbewegung und einem Schlüpfer nicht verhindern, aber in geordnete Bahnen, in den Mund hinein nämlich und dann, nach genussvollem Rundgang ins Gaumen, die Speiseröhre hinunter lenken kann. «Der Schwiegersohn», sagt Anselm.«Der Schwiegersohn», bestätigt Trudi.»

Butterbrot mit Quittengelee – sehr schweizerisch.

Peter Weingartner ist mit «Gansabhauet» ein eigenständiges Porträt von Sursee gelungen. Mir hat der Ort vorher überhaupt nichts gesagt – jetzt ist mir das Städtchen und seine knorrigen Bewohner:innen richtig sympathisch geworden. Weingartners Sprache ist zuweilen etwas umständlich, die Menschen reden häufig mit sprachlichen Versatzstücken. Zuerst hat mich das gestört, dann hab ich gemerkt, dass das hier dazu gehört: Das sind keine eloquenten Städter, die straight to the Point kommen. Es sind Umstandskrämer, die sich manchmal hinter Floskeln verschanzen. Auch das ist interessant  – und sehr schweizerisch.

«Gansabhauet» von Peter Weingartner ist im Verlag Edition 8 erschienen und mein Buch der Woche.

Lesen sie gut.

Peter Weingartner: Gansabhauet. Verlag Edition 8, 240 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-85990-397-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783859903975

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 5. März 2021, Matthias Zehnder

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Bildquelle im Video: «20 Minuten» https://www.20min.ch/story/erstmals-holt-eine-frau-die-gans-vom-himmel-988618159625